Transkript
SCHWERPUNKT
Schwangerschaft und Geburt bei Migrantinnen aus fremden Kulturkreisen
Was braucht es für eine optimierte perinatale Vorsorge?
Mit der Zuwanderung insbesondere junger Menschen und Familien aus fremden Kulturkreisen kommen neue Aufgaben auf Haus- und Frauenärzte wie auch auf Hebammen und weitere Fachpersonen zu, die spezielle medizinische wie auch kulturelle, soziale und sprachliche Herausforderungen einschliessen. Der Artikel zeigt problematische Aufgabenfelder in der Schwangerenbetreuung bei Migrantinnen sowie heutige Angebote auf.
BÄRBEL HIRRLE
Die verstärkte Zuwanderung aus Regionen des Westbalkans, Afrikas und aus den orientalischen Krisengebieten hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veranlasst, für festgelegte Zeiträume ein «Nationales Programm Migration und Gesundheit» zu entwerfen, das eine Analyse der aktuellen Situation und einen Massnahmenkatalog vorsieht. Ziel ist es, «einen Beitrag zu Chancengleichheit und Integration der in der Schweiz lebenden Migrantinnen zu schaffen, da ein grosser Teil der Zuwanderer nach allen Erkenntnissen gesundheitlich gefährdeter ist als die einheimische Bevölkerung» (1). Gesundheitsrisiken entstehen insbesondere, weil viele Migranten Mühe haben, das Gesundheitssystem zu verstehen und sich mit Fachleuten zu verständigen, teilweise auch, weil viele ungesund leben. Mit dem seit über 10 Jahren entwickelten Programm möchte der Bund die Gesundheitskompetenz der Migranten stärken und Gesundheitsfachleute im Umgang mit Patientinnen und Patienten unterschiedlicher Herkunft unterstützen (1). Der Bereich Geburtshilfe ist besonders relevant, da die meisten Einwanderer im reproduktiven Alter sind und die Zahl der Geburten in ihren Familien vergleichbar hoch ist: Beispielsweise betrug im Jahr 2013 die Geburtenziffer bei Schweizerinnen 1,4, bei Frauen aus Ex-Jugoslawien 2,3 und bei Frauen aus Nordafrika 3,3. Die zweite Generation der Einwanderer hatte eine ähnliche Geburtenziffer wie die Schweizerinnen (2).
Migrationsspezifische Faktoren und perinatale Versorgung
2012 postulierte die Genfer Ständerätin und Hebamme Liliane Maury Pasquier Handlungsbedarf im
Bereich Gesundheit von Müttern und Kindern mit Migrationshintergrund. In einer daraufhin lancierten Untersuchung des Bundes (2) wurde er bestätigt und die Mitverantwortung des Staats für optimierte Bedingungen bei Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit bekräftigt. Eine Literaturübersicht in Zusammenhang mit diesen Berichten stellt die Erkenntnisse über die perinatale Versorgung in Zusammenhang mit migrationsspezifischen Faktoren in der Schweiz und in anderen Aufnahmestaaten zusammen. Für die Schweiz wird darin zudem ein Massnahmenkatalog zur Verbesserung der Situation aufgestellt (3). Der Review bezieht sich auf 33 Publikationen mit Daten aus der Schweiz und 66 aus anderen Aufnahmeländern (Westeuropa, USA, Kanada) zwischen 2006 und 2013. Die folgenden Problembereiche wurden hier festgestellt und diskutiert:
Risikofaktoren und Gesundheitsförderung Migrantinnen in der Schweiz haben insgesamt einen schlechteren physischen und psychischen Gesundheitszustand. Risikofaktoren sind ein tiefer sozioökonomischer Status, der soziale Kontext, eine mögliche Traumatisierung und soziokulturell geprägte Lebensstilfaktoren. Geforderte Massnahmen sind: Integrationsförderung mit Gewaltprävention, insbesondere auch bei Jugendlichen, und in der perinatalen Versorgung: I Verbesserung des Ernährungsverhaltens, Senken
des Risikos für Schwangerschaftsdiabetes, Förderung der Folsäureeinnahme vor und während der Schwangerschaft
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I Screening nach Infektionskrankheiten, geleitet durch die individuelle Migrationsgeschichte.
Vereinzelt sind bereits Gesundheitsförderungsprojekte für Migrantinnen vorhanden (s. Kasten Seite 12).
Schwangerschaftsabbruch und Kontrazeption Schwangerschaftsabbrüche sind in der Migrationsbevölkerung sowohl in der Schweiz als auch in anderen europäischen Ländern häufiger, insbesondere bei Frauen «Sans-Papiers» sowie bei Adoleszentinnen. In der Schweiz betrug im Jahr 2013 die Rate bei Schweizerinnen 4,2 pro 1000 Frauen und bei Ausländerinnen 9,6‰. Allerdings beruhen diese Angaben des Bundesamtes für Statistik nur auf Zahlen aus 13 Schweizer Kantonen, welche die Nationalität betroffener Frauen erhoben (dies macht rund 40% aller Abbrüche in der Schweiz aus); zudem ist hier nur die ständige Wohnbevölkerung erfasst. In diesem Zusammenhang sind auch die Geburtenziffer und das Alter der gebärenden Frauen zu beachten: Bei 15- bis 24-Jährigen, die im Ausland geboren sind, ist die Geburtenziffer rund fünfmal höher als bei jungen Frauen, die in der Schweiz geboren sind. Beobachtet wird, dass bei den Migrantinnen sehr junge Frauen (unter 20 Jahren), aber über 40Jährige deutlich häufiger gebären. Ein wesentlicher Faktor ist der erschwerte Zugang zu Verhütungsmitteln unter den Migrantinnen. Problematisch ist die Situation auch, weil jugendliche Migrantinnen und Migranten der ersten Generation vermehrt einen von den Eltern nicht akzeptierten Umgang mit Sexualität haben. Solche sozialen Konflikte bergen ein Risiko für ungewollte Schwangerschaften. Zudem sind Migrantinnen häufiger sexueller Gewalt ausgesetzt.
Geforderte Massnahmen sind: I den Zugang zu oralen Kontrazeptiva, unabhängig
vom Migrationsstatus, ermöglichen I Prävention von Schwangerschaftsabbrüchen bei
den genannten Risikogruppen.
Zugang zu adäquater Schwangerschaftsvorsorge Verschiedene sozioökonomische und Lebensstilfaktoren, die ein Risiko für Schwangerschaftskomplikationen darstellen, sind bei Migrantinnen verbreiteter als in der schweizerischen Bevölkerung. Das nationale Gesundheitsmonitoring bestätigt, dass ein Teil der Migrantinnen sich weniger gesund fühlt, sich ungesünder ernährt und körperlich inaktiver lebt und mehr psychische Beschwerden hat (Letztere auch durch die Migration mitbedingt). Gerade Schwangere sind oftmals besonders betroffen und zudem einem hohen Stress ausgesetzt durch ungeklärte ökonomische und familiäre Verhältnisse, hohe Arbeitslast, wenig soziale Unterstützung und vielfach Gewalt. Ein erhöhter BMI (gehäuft Schwangerschaftsdiabe-
Fallbeipiel: Frau A., 31 Jahre, aus Mazedonien
Frau A. aus Mazedonien kam 2016 in die Schweiz «zum Heiraten» eines
Landsmannes, der seit 2001 in der Schweiz lebt und inzwischen die Schweizer
Nationalität angenommen hat. Was anfänglich romantisch anmutete, entpuppte
sich schnell als gefährlich – angesichts mangelnder finanzieller Ressourcen
(keine Berufsausbildung, Arbeitslosigkeit des Mannes), schwieriger Familien-
verhältnisse (Unterhaltsforderung für 3 Kinder aus erster Ehe des Mannes),
fehlender Sprachkenntnisse («für Sprachkurs hat’s kein Geld!»), starken Drucks
durch traditionell islamisch geprägte Vorstellungen («eine Frau hat sich zu ver-
schleiern und den Haushalt stets perfekt zu führen!») und zunehmender sozia-
ler Isolation (Frau A. ist immer allein zu Hause; am Wochenende und abends
geht der Mann zu seinen Brüdern).
Die wenige Wochen nach der Heirat schwangere Frau A. wird zunehmend de-
pressiv, kann ihren Haushalt mit wenig Geld kaum führen und ist gleichzeitig
ihrem immer aggressiver werdenden Mann ausgesetzt. Sie solle zurück nach
Mazedonien fahren! Nachdem er sie erneut geschlagen und bei eisigem Winter-
wetter vor die Tür gesetzt hat, ruft sie die Polizei. Diese interveniert, bringt Frau
A. ins Frauenhaus, von wo aus über den Sozialdienst eine adäquate Schwanger-
schaftsvorsorge und Sozialbetreuung eingeleitet wird. Dabei erhält Frau A. auch
Dolmetschdienste und erlernt zunehmend die französische Sprache zur Kom-
munikation.
Heute lebt Frau A. mit einer gesunden Tochter in einer kleinen Wohnung und
beginnt in Kürze eine Tätigkeit als Raumpflegerin.
tes), hohe Rauchprävalenz (auch Passivrauchen), geringe Vitaminzufuhr (Folsäure!), diverse Infektionskrankheiten (fehlende Basisimpfungen; auch HIV- und Koinfektionen; siehe auch Artikel zu STI von Karoline Aebi, Seite 18), kommen häufig erschwerend dazu. Der Zugang zu adäquater Schwangerschaftsvorsorge ist nicht für alle Migrantinnen, vor allem nicht für jene im Asylverfahren und als «Sans-Papiers», gewährleistet. Unkenntnis und Unverständlichkeit der regelmässigen Schwangerschaftsvorsorge sowie diverse Zugangsprobleme (fehlende Sprachkenntnisse, soziale Isolation, erschwerte Erreichbarkeit über öffentliche Verkehrswege u.v.m.) bilden zentrale Schwierigkeiten. Aufseiten der Fachpersonen ist vielfach mangelndes transkulturelles Verständnis für die Betreffenden und das soziale Umfeld zu verzeichnen. Auch sind Probleme in der Vertrauensbildung zwischen Migrantinnen und den Schweizer Fachpersonen ein Thema.
Geforderte Massnahmen sind: I Fördern der transkulturellen Kompetenzen medi-
zinischer Fachpersonen I Dolmetschdienste auch für den ambulanten Be-
reich (physisch oder über Telefon, Skype etc.) I Bereitstellen von Informationen in übersetzter
Form (teilweise vorhanden) I persönliche Vermittlung des Inhalts, wenn ange-
zeigt I legale und zahlbare Versorgungsmöglichkeiten
für undokumentierte Migrantinnen I Studien zur Inanspruchnahme und Determinanten. Bereits angeboten werden Geburtsvorbereitungskurse für Migrantinnen (nicht flächendeckend) sowie
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SCHWERPUNKT
Kasten:
Welche Massnahmen und Angebote für Migrantinnen und Migranten wurden bereits geschaffen? (3)
I Im Rahmen des «Nationalen Programms Migration und Gesundheit» des BAG wurde die Internetplattform www.migesplus.ch aufgebaut, die Informationsmaterial zu verschiedenen Gesundheitsthemen, darunter Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit, in verschiedenen Sprachen verfügbar macht. (vgl. Seite 8 unten).
I Ein Dachverband für interkulturelles Übersetzen (interpret.ch) und ein nationaler Telefondolmetschdienst wurden aufgebaut, Bildungsangebote im Bereich transkulturelle Kompetenz wurden entwickelt, wobei jedoch ein spezifischer Schwerpunkt reproduktive Gesundheit fehlt.
Was braucht es weiterhin? (3)
I Kontinuierliches Monitoring der reproduktiven Gesundheit der Migrationsbevölkerung und Erfassung migrationsspezifischer Indikatoren (Herkunftsland, Aufenthaltsdauer).
I Gezielte Forschung zur Identifikation von Risikogruppen und Ursachen von Ungleichheiten.
I Die Gesundheitsversorgung muss die spezifischen Bedürfnisse der Migrantinnen berücksichtigen. Zu bedenken: Fast ein Drittel der Kinder, die in der Schweiz geboren werden, haben keine Schweizer Mutter.
I Kommunikationsprobleme sind häufig: Besonders in der Geburtshilfe müssen Dolmetscherdienste 24 Stunden pro Tag erreichbar sein.
I Die gezielte Förderung der transkulturellen Kompetenz der Gesundheitsfachpersonen verbessert die Kommunikation und dadurch letztlich Diagnostik und klinische Betreuung.
I Richtlinien für die klinische Betreuung von Migrantinnen sind wichtig für die Qualität der Versorgung. In einigen Bereichen, wie der weiblichen Genitalbeschneidung, stehen solche Richtlinien bereits zur Verfügung (Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe).
I Die Migrationsbevölkerung selbst sollte in Massnahmen zur Verbesserung der eigenen Gesundheitskompetenz mit einbezogen werden.
I Angebote zur Familienplanung und zur Prävention sexueller Gewalt können in enger Zusammenarbeit mit der Migrationsbevölkerung und deren Organisationen effektiver und niederschwelliger gestaltet werden.
Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen. Zudem erfordert die weibliche Genitalbeschneidung spezifische Kompetenzen für das medizinische Personal (SGGG-Richtlinien; s. Artikel in diesem Heft, S. 24).
Geburt Migration ist auch in der Schweiz mit einer erhöhten perinatalen Sterblichkeit und einer starken Erhöhung der Müttersterblichkeit bei Migrantinnen assoziiert. Dies ist auf die oben angesprochenen Risiken respektive Schwangerschaftskomplikationen durch mangelnde/zu späte medizinische Betreuung zurückzuführen. Die Kaiserschnittraten sind insbesondere bei Migrantinnen aus Afrika und Lateinamerika erhöht, ebenso die Verlegungen auf die Neugeborenenstation aus medizinischen Gründen bei diesen Frauen. Frühgeburten und Neugeborene mit geringem Körpergewicht sind bei Migrantinnen häufiger, besonders betroffen sind Mütter aus Asien (v.a. Sri Lanka), Afrika und dem Westbalkan. Bezüglich der Müttersterblichkeit ist eine alarmierende Häufigkeit in der Schweiz zu verzeichnen.
Während die Mortalitätsrate insgesamt im Jahr 1990 bei 7 (5–9) und im Jahr 2000 bei 6 (4–9) pro 100 000 Lebendgeburten lag, ist diese Rate 2010 auf 8 (4–15) angestiegen. Im Gegensatz dazu ist die Neugeborenensterblichkeit zurückgegangen mit Ausnahme der Kinder afrikanischer und türkischer Mütter (8,1 Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten bei afrikanischstämmigen Müttern vs. 4,6 Todesfälle auf 1000 Geburten bei Schweizer Müttern). Seitens des Fachpersonals in der Schweiz ist gerade in der peripartalen Betreuung oftmals fehlende transkulturelle Kompetenz festzustellen. Zudem sind gewisse Praktiken in der Schweiz trotz vorhandener Informationen und Richtlinien zu wenig bekannt, wie zum Beispiel die weibliche Genitalbeschneidung (FGM) und die damit verbundenen möglichen Geburtskomplikationen. Neben den Massnahmen, diesen Risiken zu begegnen, braucht es zudem eine generelle Analyse der Komplikationen rund um die Geburt.
Geforderte Massnahmen sind: I flexible Dolmetscherdienste unter Einbezug neuer
Technologien I detailliertes Monitoring der reproduktiven Ge-
sundheit von Migrantinnen I Expertenaudit auf nationaler Ebene im Fall eines
mütterlichen Todesfalls, Kaiserschnittrate untersuchen I klinische Richtlinien für die Betreuung von Migrantinnen entwickeln I Studien zur Analyse von Risikofaktoren.
Erste Monate nach der Geburt Gesamtschweizerische Daten aus den Jahren 2001 bis 2007 zeigten, dass Kinder mit Neuralrohrdefekt signifikant öfter in der Migrationsbevölkerung vorkommen und die Mütter zumeist aus der Balkanregion stammen. Weitere Auswertungen ergaben, dass postpartale Depressionen bei Migrantinnen tendenziell häufiger sind, ebenfalls häusliche Gewalt und soziale Isolation nach der Geburt. Eine nationale Studie zur Säuglingsernährung ergab, dass Migrantinnen aus der Balkanregion ihre Kinder weniger lang stillten als Schweizerinnen, zudem gaben sie unzureichend Vitamin-D-Tropfen an ihre Kinder.
Mögliche Massnahmen sind: I Früherkennung des Risikos für postpartale De-
pressionen verbessern I Stillförderung und Förderung der zeitgerechten
Beikosteinführung I Vitamin-D-Abgabe I Analyse der Determinanten der Säuglingssterb-
lichkeit
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I Studien zu Wochenbettkomplikationen, inklusive postpartaler Depressionen
I Studien zur Säuglingsernährung unter Einbezug der Migrationsbevölkerung.
Erstes Fazit
Die Autoren des Literaturreviews (3) kommen zum Schluss, dass zwar einige Publikationen erschienen seien, welche die komplexen reproduktiven Gesundheitsprobleme der Migrantinnen in der Schweiz dokumentierten. Dennoch könnten kaum generalisierende Aussagen gemacht werden, da die meisten dieser Studien nicht auf nationaler Ebene durchgeführt worden seien. Im Gesundheitsmonitoring der Migrationsbevölkerung (2004 und 2010) seien zudem wichtige Informationen zur reproduktiven Gesundheit nicht einge-
schlossen, so die Autoren. Es brauche gezielte und re-
gelmässige gesamtschweizerische Studien, um Ursa-
chen und Ausmass der Komplikationen im Bereich der
reproduktiven Gesundheit zu erfassen, damit effektive
Massnahmen getroffen werden können und auf Ver-
änderungen reagiert werden kann.
I
hir E-Mail: hirrle@rosenfluh.ch
Quellen: 1. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/strategien-politik/nationalegesundheitsstrategien 2. Gesundheit von Müttern und Kindern mit Migrationshintergrund. Bericht des Bundesrats in Erfüllung des Postulates Maury Pasquier (12.3966): http://www.bfs. admin.ch/bfs/portal/de/index/news/00/06.html; 28.11.2014. 3. Merten S, Garin S: Die reproduktive Gesundheit der Migrationsbevölkerung in der Schweiz und anderen ausgewählten Aufnahmeländern. Department of Epidemiology and Public Health. Universität Basel. 13.3.2013.
Interview mit Prof. Paola Origlia Ikhilor zur aktuellen BRIDGE-Studie
«Viele Frauen wurden erstmals selbst angehört»
Die neue, unveröffentlichte Schweizer Studie BRIDGE – «Barrierefreie Kommunikation in der geburtshilflichen Versorgung allophoner (fremdsprachiger) Migrantinnen» – untersucht die Möglichkeiten der optimierten Kommunikation zwischen Fachpersonen in der Geburtshilfe und Migrantinnen, die keine Landessprache sprechen und verstehen.
GYNÄKOLOGIE: Frau Origlia, wie stellt sich im Hinblick auf die neuere Zuwanderung von jungen Menschen aus politischen Krisengebieten die aktuelle Situation aus Sicht der Hebammen dar? Hat sich hier in den letzten Jahren etwas verändert? Paola Origlia Ikhilor: Das ist eine schwierige Frage, die ich nicht eindeutig beantworten kann, weil unsere Studie diese Frage nicht untersucht hat. Aus meiner eigenen Erfahrung als Hebamme und als Dozentin ist mir bekannt, dass selbstständig erwerbende Hebammen heute häufiger Migrantinnen und Migrantenfamilien betreuen als früher, weil die Mütter nach der Geburt früher aus dem Spital entlassen werden. Unter ihnen sind angesichts der Zuwanderung auch mehr Frauen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind und folglich höchst kom-
plexe Probleme haben, etwa aufgrund des unsicheren Aufenthaltsstatus, der Wohnsituation oder körperlicher und psychischer Beschwerden. Wir gehen in unserer Studie davon aus, dass die Frauen und Familien, die keine Landessprache sprechen, in der geburtshilflichen Versorgung benachteiligt sind: Mütter, die beschränkt mit Ärzten und Hebammen kommunizieren können, erhalten einerseits weniger Informationen und können andererseits ihre Anliegen weniger präzis anbringen. Zirka 10% der über ein Jahr hier ansässigen Migrantinnen sprechen keine Landessprache. Hinzu kommen die Frauen im Asylverfahren.
Die BRIDGE-Studie, deren Leiterin Sie sind, untersucht speziell die kommunikativen Herausforderungen hinsichtlich
Studienleiterin Prof. Paola Origlia Ikhilor – Dozentin an der Berner Fachhochschule im Bachelorstudium Hebamme und Wissenschaftlerin im Bereich «Angewandte Forschung und Entwicklung, Disziplin Geburtshilfe» gibt Auskunft zu Hintergründen und Aufbau der Schweizer Studie, welche im Mai 2017 mit ersten Resultaten präsentiert wird.
dieses Klientels. Was untersucht die Studie speziell? Was ist das Studienziel? Paola Origlia Ikhilor: Die Studie folgte einer Ausschreibung des BAG im Sinne einer Bedarfsanalyse. Kommunikation verstehen wir weit gefasst; sie schliesst sowohl die Frauen mit Angehörigen, involvierte Fachpersonen im Gesundheits-
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wesen, vorhandenes Infomaterial, aber auch interkulturelle Dolmetschende ein, die in den Institutionen vor Ort oder über einen Telefondolmetschdienst arbeiten. Unser Studienziel ist, die kommunikativen Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung und die Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett von allophonen Frauen mit Migrationshintergrund zu beschreiben und aufgrund der gewonnenen Resultate und Erkenntnisse Empfehlungen an die Fachverbände zur Verbesserung der Versorgungsqualität zu geben. Bezüglich Design handelt es sich um eine explorative Studie mit qualitativem und quantitativem Teil. Das macht die BRIDGE-Studie einzigartig: Die kommunikative Situation wird aus drei Perspektiven analysiert – aus der Perspektive der Mütter («Nutzerinnen»), und zwar explizit allophoner Migrantinnen, der Fachpersonen (Hebammen, Gynäkologinnen, Pflegende u.a.) und der interkulturell Dolmetschenden.
Wer und wie wurde rekrutiert? Paola Origlia Ikhilor: Die Mütter waren ausländische allophone Frauen sowohl aus der ständigen Wohnbevölkerung als auch aus dem Asylwesen. Exemplarisch handelt es sich hier um Frauen aus Eritrea sowie um Frauen aus der albanischen Volksgruppe. Die Rekrutierung war eine sehr grosse Herausforderung und brachte gleichzeitig wichtige Erkenntnisse: Wir haben grossen Aufwand betrieben und viele Institutionen einbezogen – öffentliche Spitäler, Fachverbände, Vermittlungsstellen, Vereine, darunter «FamilyStart beider Basel». Wenn wir die Mütter für die Befragung gewinnen wollten, stiessen wir aber immer wieder an Grenzen, denn es gab viel Absagen. Am erfolgreichsten war die Rekrutierung der Migrantinnen, wenn Bezugspersonen mit gleicher Herkunft, beispielsweise die interkulturell Dolmetschenden selbst, die ausländischen Frauen ansprachen: Hier wurden «Brücken» gebaut über die gemeinsame Sprache und über ihre Sozialisation. Dolmetschende haben eine ganz entscheidende Schlüsselposition bei der Kommunikation zwischen den Migrantinnen und den Gesundheitsfachpersonen.
Das hatten sie auch in unserer Studie: Durch sie wurden viele Frauen erstmals selbst angehört, erhielten sozusagen eine Stimme. Interkulturell Dolmetschende sind Personen, die meist aus den Heimatländern der Migranten stammen, unsere Sprache sprechen und über eine zertifizierte Ausbildung für die mündliche Übersetzung und soziokulturelle Vermittlung verfügen. Die Fachpersonen dagegen (in unserer Studie allesamt Frauen) – Ärztinnen, Hebammen, Mütterberaterinnen, Pflegefachfrauen – waren sehr schnell zu rekrutieren: Sie haben es sehr geschätzt, endlich aus ihrer Praxis erzählen zu können, wo sie immer wieder an ihre Grenzen mit den allophonen Schwangeren und Müttern stiessen. Die Studie zielt letztlich nicht nur darauf ab, die MutterKind-Gesundheit, sondern auch die Arbeitsbedingungen der Fachpersonen zu verbessern.
Wie wurde die Kommunikation unter den Akteuren untersucht? Paola Origlia Ikhilor: Qualitativ und quantitativ. Es wurden Fokusgruppen- und Einzelinterviews mit halbstrukturierten Leitfragen geführt, ferner analysierten wir Gesprächsprotokolle von gedolmetschten Telefongesprächen. Analysiert wurden also Erfahrungen der Migrantinnen, der Gesundheitsfachpersonen und der professionellen Dolmetschenden.
Interkulturelle Dolmetschdienste und Fortbildungen der Fachpersonen in transkultureller Kompetenz sind teuer. Man könnte fragen: Ist das alles wirklich nötig? Paola Origlia Ikhilor: Es ist naheliegend, dass Missverständnisse und Fehlbehandlungen hohe Folgekosten verursachen können. Aber letztlich müssen Bund und Kantone beziehungsweise die verschiedenen Institutionen entscheiden. Es ist nicht unsere Aufgabe. Wir geben lediglich eine Empfehlung aufgrund unserer Resultate an Fachverbände, Spitäler, diverse ambulante Versorgungsstellen und politische Institutionen. Natürlich freuen wir uns, wenn sie sich realisieren lassen. Ausserdem erscheint uns auch Folgendes wichtig: Wo haben wir als Gesundheitsfachpersonen hinsichtlich des Ver-
ständnisses der Migrantinnen «blinde Flecken»? Was dürfen wir nicht einfach «hineininterpretieren»? Sollten wir nicht die spezielle Meinung und die Bedürfnisse der Mutter zu einem Aspekt kennen, als einfach beispielsweise zu behaupten, die Frau habe eine schlechte Gesundheitskompetenz? Dazu brauchen wir die speziellen Dolmetschdienste und die Fortbildungen. Transkulturelle Kompetenz kann für Fachpersonen eine Hilfe sein, um dem eigenen Qualitätsanspruch in der perinatalen Versorgung besser gerecht zu werden.
Was hat sich aus Ihrer Perspektive als Dozentin in den letzten fünf Jahren positiv entwickelt in der Betreuung schwangerer Migrantinnen? Paola Origlia Ikhilor: Sehr viel aus meiner Erfahrung! Die Studentinnen in der Hebammenausbildung waren schon immer neugierig im Hinblick auf die Betreuung von Migrantinnen aus «anderen Kulturkreisen». Hier scheint es mir, dass sie in Bezug auf die Situation der Migrantinnen im Zusammenhang mit den kulturellen, aber auch den sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren sowie mit den Folgen der Migration sensibilisierter sind und ein grosses Interesse besteht, sich mit diesen komplexen Situationen auseinanderzusetzen. Auch aufseiten der Institutionen hat sich das Bewusstsein geändert, neue Angebote in der Beratung und Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen wurden entwickelt, wenn auch die Situation schweizweit sehr heterogen ist. Als gelungenes Beispiel für die Berner Region möchte ich den Verein «Mamamundo» hervorheben, der Geburtsvorbereitungskurse für Frauen mit Migrationshintergrund in 10 Sprachen anbietet. Dieses Modell soll, unterstützt von der Gesundheitsförderung Schweiz, auch in anderen Kantonen eingeführt werden.
Frau Origlia Ikhilor, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Kontaktadresse: Prof. Paola Origlia Ikhilor Dozentin/Internationale Koordinatorin Berner Fachhochschule Murtenstrasse 10 3008 Bern E-Mail: paola.origlia@bfh.ch
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