Transkript
EXPERTENBRIEF NR. 44 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 44
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Schlingenoperationen zur Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz)
Die Einführung der Inkontinenzoperationen mittels TVT* in den Neunzigerjahren fand durch die hohe Effizienz der Methode weite Verbreitung. Im aktualisierten Expertenbrief werden wichtige Regelungen beschrieben mit dem Ziel der Qualitätssicherung und verbesserten praktischen Umsetzbarkeit im Hinblick auf geltende Evidenzlevels.
Evidenzlevel
Sonja Brandner, Gabriel Schär, Bernhard Schüssler, Annette Kuhn
(Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und Beckenbodenpathologie; AUG)
Mit Einführung des TVT Mitte der Neunzigerjahre nahm eine eindrückliche und schnelle Entwicklung der Inkontinenzoperationen ihren Lauf. Das Konzept basiert auf dem Prinzip einer mitturethralen spannungsfreien Polypropylenschlinge. Die Operationsmethode fand angesichts ihrer guten Wirksamkeit, geringen Invasivität und der günstigen Kosten-NutzenEffizienz sehr schnelle Verbreitung. Schlingenoperationen wurden im Oktober 2003 auf Antrag der Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie (AUG) in die Krankenpflege-Leistungsverordnung aufgenommen. Da heute eine grosse Anzahl von Schlingentypen angeboten wird, wurde vom EDI** gefordert, Qualitätsrichtlinien zu erstellen.
Ziele und Indikationen
Die wichtige Leistung der Harninkontinenzoperation soll weiter verfügbar sein, und der Zugang soll weiterhin geregelt und gesichert sein. In der aktualisierten Version werden Vorbedingungen geschaffen, welche die Qualität verbessern helfen. Der Expertenbrief ist so ausgestaltet, dass die praktische Umsetzbarkeit gewährleistet ist.
Indikationen der TVT-Schlingenoperation sind: I reine Belastungsinkontinenz I Stress-Urge-Inkontinenz mit dominanter Stresskomponente I als Zusatzintervention: Deszensuseingriff mit einer manifes-
ten oder schweren, larvierten Stressinkontinenz. Hier kann eine Schlingenoperation als Zusatzeingriff indiziert sein. Wie alle anderen Inkontinenzoperationen soll eine Schlingenoperation erst nach Ausschöpfen der konservativen Therapiemöglichkeiten erfolgen. Der Leidensdruck der betroffenen Frau zusammen mit der fachärztlichen Erfolgsbeurteilung entscheidet über die Indikationsstellung der Operation.
* TVT = tension free vaginal tape. ** EDI = Eidgenössisches Departement des Innern.
Präoperative Abklärungen
Zur Abklärung und Indikationsstellung ist eine sorgfältige fachärztliche Diagnostik (Basisdiagnostik) notwendig. Anamnese, Miktionskalender, Restharnmessung, Urinanalyse und die klinische Untersuchung mit Hustentest sind die Eckpfeiler der urogynäkologischen Diagnostik. Erweiterte Abklärungen sind in folgenden Situationen gefordert: I Stressinkontinenzformen, die als Rezidiv auftreten I Stressinkontinenzformen, die mit Drangsymptomatik, senso-
motorischer Blasenstörung, Miktionsstörung, Restharnproblem oder rezidivierenden Harnwegsinfektionen kombiniert sind I bei Harninkontinenz nach radikaler und rekonstruktiver Chirurgie im kleinen Becken. In solchen komplexen Situationen soll eine urodynamische Untersuchung durchgeführt werden. Die Urodynamik muss ergänzend zu den Elementen der Basisdiagnostik zumindest eine Zystometrie, ein Ruheprofil, eine Uroflowmetrie, eine urogynäkologische Bilddiagnostik und eine Zystoskopie enthalten.
Wahl der Schlinge und der Zugangswege
Der Entscheid für ein transobturatorisches oder retropubisches Verfahren hängt von der individuellen Situation ab. Retropubische Schlingen verursachen mehr Blasenperforationen und retropubische Hämatome. Bei transobturatorischen Schlingen sind ein leicht erhöhtes Dyspareunierisiko und postoperative Schmerzen im Adduktorenbereich zu erwarten. Bei erhaltenen paravaginalen Sulci scheinen die Erosionsraten bei transobturatorischem Zugang höher zu sein. Über diese zugangsspezifischen Risiken ist aufzuklären. Von der generellen Verwendung von Minischlingen wird zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere in der Primärsituation eher abgeraten. Langzeitdaten stehen noch aus. In komplizierten Situationen kann der Einsatz einer Minischlinge nach entsprechender Aufklärung eine Option sein. Die Datenlage erlaubt es derzeit nicht, einen Schlingentyp speziell zu empfehlen. Gleiches gilt für einstellbare Schlingensysteme. Am besten dokumentiert ist die Originalmethode mittels retropubischer TVT nach Ulmsten.
Ib IIb
IIIb IIIb
Ia Ia
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Eingriff
Im Rahmen dieses Expertenbriefs kann angesichts der grossen Zahl verschiedener Vorgehensweisen bei Schlingenoperationen nicht auf Details der Durchführung eingegangen werden. Trotzdem gibt es allen Operationsverfahren gemeinsame gültige Empfehlungen: Wir weisen darauf hin, dass die verschiedenen Operationstechniken auf Konzepten und wissenschaftlichen Untersuchungen basieren müssen. Wir empfehlen, eigene Modifikationen ausserhalb von Studienanlagen zu meiden. Operateure, welche planen, eine neue Schlingentechnik anzuwenden, müssen über eine entsprechende Weiter- oder Fortbildung verfügen (und sollen sich an die neuen SAMW-Richtlinien halten).
Postoperative Aufgaben
Postoperativ müssen Harnblasenfunktion und mögliche Komplikationen kontrolliert werden. Erst bei sichergestellter Miktion (Restharnmenge geringer als 150 ml bei mindestens ebenso grossem Miktionsvolumen) und Ausschluss einer Nachblutung darf die Patientin entlassen werden. Bei einer Harnverhaltung wird mittels Einmalkatheter der Urin abgelassen. Persistiert die Harnverhaltung, so wird ein suprapubischer Katheter (SPK) eingelegt oder der Selbstkatheterismus gelehrt. Sobald der Restharn 150 ml unterschreitet, kann der SPK entfernt werden. Im Normalfall kann die Patientin nach 1 bis 2 Wochen wieder arbeiten. Mit grösseren Belastungen und Sport sollte jedoch 3 Wochen zugewartet werden.
Nachkontrolle
Wir empfehlen bei jeder Patientin eine postoperative Nachkontrolle zur Beurteilung des Operationserfolges, zur Erfassung möglicher Spätkomplikationen und zur Beratung bei neuen Beschwerden (Drangprobleme) oder Restharnsymptomen. Diese Kontrollen sollten nach 6 bis 12 Wochen stattfinden. Anamnese (Symptome, Lebensqualität), klinische Untersuchung (Erosionen), Hustentest und Restharnmessung sollten Bestandteil dieser Untersuchung sein.
Komplikationen
Blasenperforationen kommen bei retropubischen Schlingenverfahren in etwa 5% der Operationen vor. Der Nachweis erfolgt durch die intraoperative Zystoskopie. Im Komplikationsfall wird die Nadel zurückgezogen und neu gelegt. Retropubische Hämatome und postoperative Wundinfektionen wurden in etwa 1% beobachtet. Seltene, aber beschriebene Komplikationen sind: Verletzungen benachbarter Organe, Bandpenetrationen im Bereich der seitlichen Vaginalwand, Erosionen der Urethra und vaginale Wundinfektionen, Osteomyelitiden und Infektionen der Adduktorenloge. Funktionelle Beschwerden wie Miktionsstörungen und Urgency können neu entstehen oder zunehmen, ebenso eine Dyspareunie bei transobturatorischen Schlingen.
Erfolgsraten und Prognosen
Die 17-Jahres-Ergebnisse zeigen, dass nach TVT bei 87% der Patientinnen eine subjektive Heilung und bei über 90% eine objektive Kontinenz (negativer Hustentest) besteht. Bei 3 bis 8% der Operierten versagte die Methode. Frauen mit hypotoner Urethra weisen schlechtere Erfolgsraten auf (in 74% Heilung, 10% Besserung und 16% Misserfolg). Dabei scheint der retropubische Zugang erfolgversprechender zu sein. Miktionsstörungen sind gehäuft bei reduziertem Miktionsfluss oder tieferem Detrusordruck bei maximalem Flow. Eine präoperativ diagnostizierte Detrusorhyperaktivität ist mit einer verstärkten Dranginkontinenz postoperativ vergesellschaftet. Für die TVT-Operation existiert zurzeit eine genügend grosse Anzahl an Studien, darunter auch Studien vom EBM-Level I. Da die verschiedenen Schlingenoperationen auf den gleichen Prinzipien wie die TVT-Operation beruhen, sind fundamentale Unterschiede in Indikationsstellung, Durchführung, Erfolgsraten und Komplikationen nicht zu erwarten. Weitgehend ungeklärt sind zum heutigen Zeitpunkt die Auswirkungen der Verwendung verschiedener Schlingenmaterialien. Bei der Materialwahl ist wie bei anderen urogynäkologischen Netzanwendungen auf die Verwendung von
* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasiexpe-
rimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad
A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrol-
lierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete
Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib).
B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen
Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III).
C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen
Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ
guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind
(Evidenzlevel IV).
Good-Practice-Punkt
Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der
Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline
herausgibt.
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Amid-Typ-1-Netzen (makroporös und monofilamentär) zu achten. Wir empfehlen, vor dem Wechsel auf eine andere Schlingentechnik oder anderes Material sorgfältig die Datenlage zu prüfen.
Dokumentation
Befunde der präoperativen Untersuchung (Anamnese, klinische Untersuchung mit Hustentest, Resturinbestimmung, Ausschluss eines Harnweginfektes), präoperative Aufklärung, SGGG-Aufklärungsprotokoll, Operationsverlauf, postoperativer Verlauf und Nachkontrollbefunde (Anamnese, klinische
Untersuchung, Resturin; es gibt keine einheitlichen Standards) müssen dokumentiert werden. Die AUG bietet auf ihrer Homepage die Möglichkeit zum Download entsprechender Formulare an (www.urogyn.ch). Bei unklarer Anamnese und Klinik soll präoperativ eine Urodynamik durchgeführt werden; die Resultate sollen den Akten beigelegt werden.
Deklaration von Interessenkonflikten: Alle Autoren erklären, keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Expertenbrief zu haben.
Referenzen: bei den Autoren.
Datum des Expertenbriefs: 16. Juni 2016.
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