Transkript
EXPERTENBRIEF NR. 47 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 47
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Zytomegalievirus (CMV) und Schwangerschaft
Die kongenitale CMV-Infektion ist die häufigste Ursache angeborener Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen mit potenzieller Todesfolge des Ungeborenen/Neugeborenen. Im Expertenbrief werden Informationen zum Gefährdungspotenzial sowie zu den derzeit empfohlenen Präventionsmassnahmen im Hinblick auf geltende Evidenzlevels gegeben.
Leonhard Schäffer, Nicole Ochsenbein, Michel Boulvain, David Baud, Luigi Raio, Andrea Duppenthalera,
Begona Martinez de Tejada, Samuel Iffb, Brigitta Danuser, Sevgi Tercanli, Daniel Surbek
Schweiz wurden in dem Zeitraum 23 symptomatische Infektionen erfasst, die Anzahl intrauteriner Fruchttode und Abbrüche sind allerdings nicht erfasst. Die Mehrheit primärer mütterlicher CMV-Infektionen verläuft asymptomatisch, seltener treten unspezifische, grippale Symptome auf, Reinfektionen verlaufen in der Regel asymptomatisch.
Die kongenitale CMV-Infektion ist die häufigste Ursache nicht genetischer, angeborener Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen (v.a. Taubheit und psychomotorische Retardierung) und kann zu Frühgeburtlichkeit und intrauterinem/neonatalem Tod führen. Bei einer mütterlichen Erstinfektion bestehen je nach Gestationsalter intrauterine Transmissionsraten von zirka 5 bis 16% (prä-/perikonzeptionell) bis zu 65% (im 3. Trimenon). Auch Reaktivierungen und Reinfektionen können in 1 bis 2% eine intrauterine Infektion verursachen, wobei die Transmissionsrate bei Reinfektionen möglicherweise unterschätzt wird.
Das Gefährdungspotenzial: mütterliche Infektion und Folgen für das Kind
Die Schwere kongenitaler Schädigungen ist bei Infektionen perikonzeptionell und im 1. Trimenon am grössten, während Schädigungen im 3. Trimenon kaum mehr beschrieben sind. Die intrauterine Transmission führt nicht immer zu einer kongenitalen Schädigung; nur zirka 10 bis 15% infizierter Kinder sind bei Geburt symptomatisch, aber mehr als die Hälfte von diesen entwickeln Langzeitschädigungen. Von den bei Geburt asymptomatischen Kindern werden 10 bis 15% im Laufe der ersten Lebensjahre Symptome zeigen. Die mütterliche Infektion erfolgt in der Regel durch den Kontakt mit infizierten Körpersekreten (Speichel, Urin, Tränenflüssigkeit, Genitalsekret). Die mütterliche Seroprävalenz liegt in Zentraleuropa bei rund 50%. Die jährliche Serokonversionsrate bei Schwangeren ist populationsabhängig und beträgt in Industriestaaten zwischen 1% und 7%, für Zentraleuropa werden geringere Serokonversionsraten von zirka 0,5% angenommen. Umgerechnet auf die Lebendgeburten in der Schweiz von 2014 wären das 426 kongenital mit CMV infizierte Kinder, wobei man bei etwa 43 Kindern 1 bei Geburt symptomatische Infektion vermuten würde. In der Krankenhausstatistik der
Akademie für feto-maternale Medizin, SGGG a Pädiatrische Infektiologie, Inselspital Bern. b Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. c Institut universitaire romand de Santé au Travail.
Risikopopulationen
Enger Kontakt zu Kleinkindern bis 3 Jahre ist der wichtigste Risikofaktor für eine Serokonversion, da infizierte Kinder oft über längere Zeit Virusausscheider sind. So haben Mütter von Kleinkindern in Krippenbetreuung ein zehnfach höheres Risiko einer Serokonversion, wobei eine kindliche Virusausscheidung der stärkste Prädiktor hierfür ist. Bei negativer kindlicher Virusausscheidung entspricht das Serokonversionsrisiko dem Hintergrundrisiko. Kleinkinderzieherinnen (Kinderkrippen) haben ein rund vierfach erhöhtes Risiko für eine CMV-Serokonversion gegenüber dem Hintergrundrisiko von Schwangeren. Das medizinische Personal zeigt kein erhöhtes Risiko für eine CMV-Serokonversion gegenüber dem Hintergrundrisiko. Dies ist möglicherweise auf die in diesem Umfeld etablierten üblichen Hygienemassnahmen zurückzuführen.
Screening auf CMV in der Schwangerschaft
Ein generelles wie auch ein risikoadaptiertes Screening auf CMV zu Beginn oder während der Schwangerschaft ist nicht empfohlen. Hauptgründe dafür sind die folgenden: 1. Seropositive Schwangere sind nicht geschützt und haben
ein Risiko einer intrauterinen Transmission durch Reaktivierung oder Reinfektion mit einem anderen Virusstamm. Neuere Analysen postulieren ein vergleichbares Schädigungspotenzial. Somit kann keine Entwarnung bei seropositiven Schwangeren gegeben werden. 2. Die Wirksamkeit einer Transmissionsprophylaxe oder einer intrauterinen Therapie mit Hyperimmunglobulin ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesichert. Eine antivirale Therapie mit Valacyclovir ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausreichend belegt. Somit existiert keine gesicherte therapeutische Möglichkeit hinsichtlich einer Transmissionsprophylaxe oder intrauterinen Therapie. 3. Ein CMV-Impfstoff ist derzeit nicht verfügbar und eine sichere Immunität aufgrund der Möglichkeit von Reinfektionen zum jetzigen Zeitpunkt fraglich.
Evidenzlevel
IIa
IIa Ib
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4. Sowohl die Einschätzung des Infektionszeitpunktes bei Primärinfektion wie auch die Prädiktion einer möglichen
Vorgehen bei Verdacht auf mütterliche/ fetale CMV-Infektion
Schädigung im Falle einer Transmission kann schwierig sein. Eine mütterliche CMV-Diagnostik sollte bei klinischem oder
Prävention durch Hygienemassnahmen
pränatal-sonografischem Verdacht erfolgen. Hierbei wird zunächst der vollständige Serostatus erhoben (CMV-IgG/IgM).
Eine konsequente Unterbrechung der wichtigsten Übertra- Bei positiven IgM sollte zur Eingrenzung des Infektionszeit-
gungswege durch Hygienemassnahmen ist unbedingt emp- punkts eine CMV-IgG-Aviditätsbestimmung erfolgen (eine nie-
fohlen. Da sowohl für die Primär- als auch die Reinfektion ein drige Avidität entspricht einer kürzlich zurückliegenden Infek-
Risikopotenzial besteht, sind diese für alle Schwangeren emp- tion, eine hohe Avidität einer länger zurückliegenden Infek-
fohlen. Die Information der Schwangeren über die spezifischen tion), da die alleinige IgM-Positivität einen geringen Vorher-
Risiken einer CMV-Infektion und eine entsprechende Hygiene- sagewert hinsichtlich einer CMV-Primärinfektion besitzt. Mit
beratung scheint das Risiko einer Serokonversion signifikant zu zunehmendem Schwangerschaftsalter vermindert sich aller-
IIb senken.
dings der prognostische Wert einer hohen Avidität.
Der betreuende Arzt sollte unbedingt bei der obligatorischen Wenn die Laborbefunde auf eine mütterliche Primärinfektion
Aufklärung über Hygienemassnahmen in der Schwangerschaft oder mögliche Reinfektion/Reaktivierung hinweisen oder die
auch die Risiken einer CMV-Infektion, das individuelle Risiko Werte unklar sind, sollte die Patientin für die weitere Abklärung
der Schwangeren und Präventionsmassnahmen in der einem Facharzt für Geburtshilfe und Gynäkologie mit Schwer-
Frühschwangerschaft besprechen, da das Risikobewusstsein punkt in fetomaternaler Medizin zugeführt werden. Eine invasi-
hierfür gering ist.
ve Abklärung (PCR u. ggf. Viruslast im Fruchtwasser) sollte frü-
Folgende Hygienemassnahmen sind empfohlen:
hestens 6 Wochen nach vermuteter Infektion und frühestens
I Gründliche Händehygiene mit Wasser und Seife nach nach 21 Schwangerschaftswochen in Betracht gezogen wer-
Kontakt mit Windeln, Urin und kindlichen Körpersekreten den, da vorher falschnegative Befunde häufig sind.
wie Speichel, Tränen und Nasensekret.
Sowohl die invasive Abklärung (Abwägung des Interventions-
I Vermeiden gemeinsamen Nutzens von Besteck und risikos gegenüber der Konsequenz des Resultats [= Interruptio,
Geschirr (bei gemeinsamen Mahlzeiten)
Therapieversuch, Studienteilnahme] wie auch Therapieversuche
I Vermeiden gemeinsamen Nutzens von Zahnbürsten, Wasch- mit Hyperimmunglobulin oder Virustatika (z.B. Valacyclovir),
lappen und Handtüchern.
deren Wirksamkeit in speziellen Konstellationen vielverspre-
I Soweit als möglich Vermeiden des Küssens von Kleinkin- chend, aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesichert und expe-
dern auf den Mund.
rimentell ist, muss individuell nach einer sorgfältigen Nutzen-
I Reinigung von Oberflächen, welche in Kontakt mit kindli- Risiko-Abwägung mit der Patientin erfolgen, bestenfalls unter
chem Speichel oder Urin kommen.
Studienbedingungen. Hierbei muss berücksichtigt werden,
I In Einrichtungen mit erhöhtem Risiko für CMV-Übertragung dass in einer randomisierten Studie die Rate von Frühgeburten
sollten zudem Einmalhandschuhe und Händedesinfektions- nach der Behandlung von Hyperimmunglobulinen erhöht war.
mittel zu Verfügung stehen.
Die in Zukunft zu erwartenden Ergebnisse mehrerer laufender
Frauen mit erhöhtem Risiko einer CMV-Exposition am Arbeitsplatz
Alle Schwangeren und alle Frauen, die eine Schwangerschaft
Studien hinsichtlich einer möglichen intrauterinen Prophylaxe oder Therapie könnten die aktuellen Empfehlungen verändern.
Zusammenfassung
nicht ausschliessen können, sollten über allfällig erhöhte I Die kongenitale CMV-Infektion ist die häufigste Ursache
Risiken einer CMV-Infektion am Arbeitsplatz, deren mögliche
nicht genetischer, angeborener Fehlbildungen und Entwick-
Konsequenzen für das ungeborene Kind und über die
lungsstörungen.
Wichtigkeit der oben beschriebenen Hygienemassnahmen I Wichtigster Risikofaktor für eine mütterliche Serokonver-
vom Arbeitgeber (gemäss ArGV 1 Art. 63 Abs. 4) informiert und
sion ist der enge Kontakt zu Kleinkindern.
instruiert werden. Wenn möglich sollte neben den Hygiene- I Das Risiko einer intrauterinen Transmission ist relativ hoch
massnahmen der berufliche enge Kontakt von Schwangeren
und abhängig vom Gestationsalter.
mit Kindern unter 3 Jahren vermieden werden. Wenn dies nicht I Ein generelles Screening auf CMV ist derzeit nicht emp-
möglich ist, müssen die oben beschriebenen Hygienemass-
fohlen wegen der Möglichkeit von Reinfektionen, einer zum
nahmen strikt eingehalten werden, und alle Tätigkeiten mit
Teil problematischen Interpretation von Serologien und
potenziellem Kontakt zu Körperflüssigkeiten (Wickeln, Füttern,
fehlenden gesichert nachgewiesenen therapeutischen
Nase/Mund abwischen) müssen mit Handschuhen ausgeführt
Optionen.
werden. Wenn die Hygienemassnahmen aus betrieblichen I Eine Aufklärung über die Risiken einer CMV-Infektion und
Gründen nicht eingehalten werden können, sollte nach indivi-
Empfehlung zur Prävention durch Hygienemassnahmen
dueller Risikobeurteilung ein Beschäftigungsverbot (Nicht-
sollten alle Schwangeren unbedingt erhalten.
eignung gemäss Mutterschaftsverordnung) durch den betreu- I Im Fall einer (vermuteten) CMV-Infektion in der Schwan-
enden Arzt/die betreuende Ärztin ausgesprochen werden. Ein
gerschaft muss eine weitere Abklärung durch einen
generelles Beschäftigungsverbot wie auch eine generelle
Spezialisten für fetomaternale Medizin erfolgen.
Krankschreibung sind nicht empfohlen.
I Ein generelles Beschäftigungsverbot für Schwangere aus Risikopopulationen ist nicht empfohlen und nur indiziert,
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wenn die erforderlichen Hygienemassnahmen aus betrieblichen Gründen nicht eingehalten werden können.
I Die Weiterbetreuung und Abklärung des Neugeborenen sollte schliesslich zeitnah (Diagnose einer kongenitalen CMVInfektion erfordert einen positiven Virusnachweis in den ersten 3 Lebenswochen) bei einem Spezialisten erfolgen.
Interessenkonflikte: Alle Autoren erklären, keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Expertenbrief zu haben. Literatur/Referenzen bei den Autoren. Datum des Expertenbriefs: Juni 2016.
* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasiexpe-
rimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad
A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrol-
lierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete
Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib).
B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen
Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III).
C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen
Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ
guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind
(Evidenzlevel IV).
Good-Practice-Punkt
Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der
Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline
herausgibt.