Transkript
SCHWERPUNKT
Sexualität nach der Geburt: Lust und Frust
Beratung zur Prävention
Die Mutterschaft verändert das sexuelle Empfinden und Verlangen der Frau, was dem «frisch gebackenen» Elternpaar oft nicht bekannt ist. Fachleute haben die Möglichkeit, mit den geeigneten Informationen präventiv auf die vulnerable Zeit der Liebes- und Paarbeziehung nach der Geburt des ersten Kindes einzuwirken. Dabei werden Empfehlungen aus Sicht der Sexualberaterin gegeben.
JOLANDA RENTSCH
Es gibt eine Vielzahl von beeinflussenden Faktoren, die das Erleben der Sexualität bestimmen. Jede Frau hat ihre eigene sexuelle Biografie. Die Geburt des ersten Kindes bedeutet einen grossen Einschnitt im Leben einer Frau. In der neuen Rolle als Mutter muss sie sich zuerst zurechtfinden. Die Beziehung zum Neugeborenen ist eine intensive Erfahrung und steht in Konkurrenz zur Liebesbeziehung mit dem Partner. Die Sexualorgane bekommen eine veränderte Bedeutung: Es handelt sich bei Vagina und Brüsten plötzlich um Geburtskanal und Nahrungsquelle.
Postpartale Beratung: auch Sexualität thematisieren
In der aktuell gängigen Praxis beschränkt sich die Beratung der postpartalen Situation auf ein archaisches Weltbild: Frauen dürfen während sechs Wochen keinen Geschlechtsverkehr haben und müssen sich anschliessend Gedanken zur Schwangerschaftsverhütung machen! Das impliziert einerseits, dass die postpartale Sexualität eine medizinische Gefährdung darstellt, und anderseits, dass sich nichts verändert hat und die Frau nach sechs Wochen wieder sexuell aktiv ist. Beides trifft selten zu, wie die Praxis zeigt. Im Vordergrund der Beratung nach einer Entbindung stehen die physiologische Anpassungen der Mutter, die im Rahmen der Rückbildungs- und Stillzeit verlaufen. In der Phase nach der Geburt eines Kindes und der damit verbundenen Veränderung des Alltags tritt aber die Bedeutung von Sexualität vorübergehend in den Hintergrund (1). Selten braucht es sexualmedizinische Interventionen (vgl. Abbildung 1). Das Beratungsgespräch mit einer Fachperson (sei es die Hebamme oder die Ärztin/der Arzt) über körperliche, soziale und psychische Veränderungen der Frau nach der Geburt sollte auch Anlass für eine of-
fene Kommunikation über Sexualität sein. Dieser Rahmen wirkt präventiv gegen die Entwicklung langfristiger sexueller Störungen, wie Untersuchungen gezeigt haben (2). Mit den folgenden vier Fragen können die häufigsten Aspekte, die in der postpartalen Sexualität eine Rolle spielen, angesprochen werden:
1. Wirken sich Geburtsverletzungen auf die Sexualität aus? In mehreren Studien kamen die Autoren zum Schluss, dass geburtshilfliche Interventionen einen Zusammenhang mit Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie) haben (3). In einer prospektiven australischen Studie zeigte sich, dass Frauen nach Geburtsverletzungen am Damm oder mit Kaiserschnittnaht doppelt so häufig Schmerzen beim vaginalen Sex angaben als Frauen ohne geburtshilfliche Intervention. Rund 85% der Frauen erlebten beim ersten Sex nach der Geburt
IT Intensive Therapie
SS Spezifische Vorschläge
LI Beschränkte Information
P Erlaubnis
Abbildung 1: Das PLISSIT-Modell nach J. Annon (8)
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den Geschlechtsverkehr als schmerzhaft. Ein Viertel (23,4%) der Frauen gab an, nach 18 Monaten immer noch an Schmerzen beim vaginalen Sex zu haben. In der Studie wurden weitere beeinflussende Faktoren eruiert, die die postpartale Sexualität beeinflussten. Dies waren Wochenbettdepression, häusliche Gewalt durch den Partner und eine bevorstehende Dyspareunie (3). Weitere Untersuchungen zeigten, dass Frauen nach protrahierten Geburtsverläufen ebenfalls anfälliger für sexuelle Störungen, insbesondere für postpartale Dyspareunie waren (4) (Kasten 1). I Aus Sicht der sexuellen postpartalen Zufrieden-
heit sollten Fachleute in der geburtshilflichen Betreuung darauf hinarbeiten, den Beckenboden zu schonen und die Spontangeburt dem Kaiserschnitt vorziehen. Sectio caesarea schützt den «love-channel» nicht!
2. Verändern sich die Libido und die Lubrikation? Das sexuelle Verlangen und die Aufnahme der Sexualität postpartal ist individuell und von vielen Faktoren abhängig. Rund ein Drittel der Frauen gibt an, sechs Monate nach der Geburt kein sexuelles Verlangen zu verspüren. Die Initiative zu Sex geht der Befragung zufolge zu 60% vom Mann aus (5). Der oft daraus resultierende Leidensdruck kann bei beiden Partnern unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Das sexuelle Grundbedürfnis, das heisst die Libido vor der Geburt, scheint einen Einfluss auf das postpartale sexuelle Verlangen zu haben: Frauen mit schwacher Libido sind anfälliger für sexuelle Störungen nach der Geburt, so die Erhebungen (5). Die Stillzeit mit der Ausschüttung der Hormone Oxytocin und Prolaktin beeinträchtigt die sexuelle Lust und Lubrikation negativ. Das mütterliche Fürsorgesystem ist zudem aktiviert; im Fokus steht das Neugeborene. Das Bedürfnis nach Nähe zum Partner ist durch den intensiven Körperkontakt («Bonding») mit dem Kind gedeckt (6). Der hohe Prolaktinspiegel unterdrückt den Eisprung und mindert die Lust. Andererseits kann Stillen auch intensive erotische Gefühle auslösen und das sexuelle Verlangen erhöhen, hierbei spielt die Oxytocinausschüttung eine Rolle (5). Dies scheint aber viel seltener und wird in der Literatur kaum beschrieben. Möglicherweise sind Schamgefühle der Frau mitbeteiligt, zumal sexuelle Lust beim Stillen ein Tabu in unserer westlichen Moralvorstellung ist. Weniger sexuelle Libido wirkt sich in jedem Fall direkt auf die Lubrikation der Scheide aus. Der tiefe Östrogenspiegel bei stillenden Frauen trägt zu Scheidentrockenheit ebenfalls bei (Kasten 2). I Fachleute können die Frau auf das veränderte se-
xuelle Verlangen nach einer Geburt aufmerksam machen und Zusammenhänge aufzeigen. Sie können ein Gleitmittel gegen die Scheidentrockenheit empfehlen.
Kasten 1 Aussagen von Frauen und Männern in der postpartalen Beratung: I «Das erste Mal Sex ging gar nicht gut. Es hat weh getan;
vielleicht waren wir beide zu verkrampft und hatten einfach zu viel Angst.» I «Keine Lust und keine Zeit – ich hatte Schmerzen am Damm!» I «Ich hatte Bedenken, meiner Frau Schmerzen zu bereiten.»
Kasten 2 Aussagen von Frauen: I «Ich war weniger feucht, hatte Angst vor Schmerzen. Sex
ohne Penetration ging besser.» I «Die Libido ist leider auch nach dem Stillen nicht zurückge-
kehrt – ich habe Sex nur meinem Partner zuliebe.» I «Ich habe keine Lust auf Sex – zu wenig Schlaf und zu we-
nig Zeit; ich mag aber, wenn mein Partner mich in die Arme nimmt.»
Kasten 3 Aussagen von Frauen: I «Berührung an den Brustwarzen kann ich seit der Stillzeit
nicht mehr ertragen.» I «Meine Scheide hat ein Anhängsel seit der Geburt, das
finde ich sehr störend.» I «Die dunkel verfärbte Linie am Bauch finde ich gar nicht
schön – hoffentlich verschwindet die wieder.»
Kasten 4 Aussagen einer Frau: I «Es war ein bisschen wie beim Joggen. Ich musste mich
aufraffen trotz Müdigkeit, danach fand ich aber das Gefühl sehr gut und der Sex hatte sich gelohnt.»
3. Verändert sich das Körperbild? Frauen erleben ihren Körper in der Schwangerschaft eher als schwerfällig und wenig erotisch. In mehreren Studien kommen die Autoren zum Schluss, dass die sexuelle Aktivität im letzten Schwangerschaftstrimenon deutlich abnimmt (2). Nach der Geburt sind körperliche Empfindungen häufig verbunden mit Schmerzen und Sensibilitätsstörungen am Damm und bei der Kaiserschnittnaht, diese beeinflussen die sexuelle Appetenz. Die erste Stillzeit ist begleitet von empfindlich schmerzenden Brustwarzen und starker Drüsenschwellung der Brust. Die Rückbildungsvorgänge brauchen Zeit, die Bauchmuskulatur fühlt sich schlaff an. Der Wochenfluss und die Milchabsonderung (Milchspendereflex) sind unangenehm und beim ersten Kind völlig neu für die Frau. Beschwerden durch ausgeprägte Hämorrhoiden oder anfängliche Inkontinenz und damit verbunden die Sorge, den Körper nicht kontrollieren zu können, verunsichern die Frau (Kasten 3).
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Die Anwesenheit des Partners bei der Geburt und die Auswirkungen auf die Paarsexualität sind wenig erforscht. Möglich ist, dass sich ein Mann nach einer traumatisch erlebten Geburt sexuell von seiner Partnerin zurückzieht (Kasten 4).
I Den jungen Eltern hilft es zu wissen, dass sexuelle Störungen in der Phase der Familienbildung ein verbreitetes Phänomen sind. Paare sollten dazu ermuntert werden, «Paar-Zeiten» einzuplanen und aktiv Raum für Sexualität zu schaffen.
Abbildung 2: Leitfaden für ein Beratungsgespräch zur postpartalen Sexualität
I Hilfreich ist, die Frau auf ihre körperlichen Empfindungen anzusprechen und sie über die physiologischen Rückbildungsvorgänge zu informieren. Zum Beispiel sind Frauen sehr erleichtert, über den Milchspendereflex beim Sex Bescheid zu wissen.
4. Verändert sich die Paarbeziehung? Das erste Kind verändert die Beziehungsdynamik vollständig: Die Liebesbeziehung von Mann und Frau wird zur Dreiecksbeziehung Mutter – Vater – Kind. Die Sexualität muss nach Elternschaft neu verhandelt werden, wie ganz viele andere alltägliche Dinge auch (1, 2). Relevant ist dabei: Die intensive Mutter-Kind-Beziehung lässt möglicherweise wenig Raum für die Paarbeziehung. Frauen möchten zwar die beschützende Nähe des Partners und auch die zärtliche Umarmung, zu Geschlechtsverkehr haben sie jedoch wenig Lust. In der Sexualforschung geht man davon aus, dass die Sexualität in den verschiedenen Phasen der Paarbildung unterschiedlich gewichtet wird: In den ersten 2 Jahren der Paarbildung ist die Frequenz des Koitus bedeutend höher als in späteren Paarphasen (1). Die Geburt des ersten Kindes bedeutet eine Belastungsphase, die Sexualität nimmt ab, was möglicherweise bei einer jungen Beziehung als grosse Bedrohung der Paarbeziehung angesehen wird (7). Ein Paar, das mehrere Jahre zusammen ist und bereits Phasen der sexuellen Lustlosigkeit erlebt und gemeistert hat, wird eher trotz mangelnder Sexualität nach der Geburt eines Kindes, in der Paarbeziehung zufrieden sein (1).
Beratung nach PLISSIT-Modell
Die Antikonzeptionsberatung nach einer Geburt bie-
tet eine gute Gelegenheit, die Sexualität in der Mut-
terschaft zu thematisieren (2).
Das Konzept zur sexuellen Beratung nach dem PLIS-
SIT-Modell bildet die postpartale Situation gut ab
und kann von allen Fachleuten einfach angewendet
werden (Abbildung 2). Unnötiger Leidensdruck kann
somit bereits mit den ersten zwei Beratungsschritten
genommen werden. Für die Frauen ist es enorm hilf-
reich, über ihre sexuellen Empfindungen zu sprechen
und von Fachleuten zu erfahren, dass diese «normal»
sind (= Schritt 1). Durch korrekte Informationen, zum
Beispiel über den Zusammenhang von Stillhormonen
und sexueller Unlust, wird die Frau respektive das
Paar entlastet (= Schritt 2).
I
Jolanda Rentsch Hebamme FH Sexualberaterin CAS Praxis für Frauen 6003 Luzern E-Mail: info@frauenleben.ch Internet: www.frauenleben.ch
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. Schmidt G et al.: Spätmoderne Beziehungswelten. Verlag für Soziale Wissenschaften Wiesbaden 2006. 2. Buddeberg C: Sexualberatung. Eine Einführung für Ärzte, Psychotherapeuten und Familienberater. Thieme Verlag. 4. Auflage, Stuttgart 2005. 3. Mc Donald EA et al.: Dyspareunia and Childbirth: a prospective cohort study. Brit. J Obst. Gynecol. 2015; 122: 672–679. 4. Schneider H et al.: Die Geburtshilfe. Springer Verlag. Berin, Heidelberg 2007. 5. Ahrendt HJ et al.: Sexualität in Schwangerschaft und post partum. Gynäkologie, Geburtsmedizin und Gynäkologische Endokrinologie. Verlag Akademos.de 2010. 6. Grawe K: Neuropsychotherapie. Hogrefe Verlag. Göttingen 2004. 7. Gromus B: Sexualstörungen der Frau. Hogrefe Verlag. Göttingen 2002. 8. Dressler St: Pschyrembel Wörterbuch Sexualität. Verlag Walter de Gruyter. Berlin 2003 (PLISSIT Stufenmodell: Seite 403).
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