Transkript
ZUR DISKUSSION
Revidiertes FMedG/Präimplantationsdiagnostik
«Die Techniken helfen den Paaren und letztlich auch der Gesellschaft»
In der Volksabstimmung vom 5. Juni 2016 haben die Schweizerinnen und Schweizer sich mit klarer Mehrheit (zu 62%) für eine Verfassungsänderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG) ausgesprochen. Mit der nun angenommenen Revision des Gesetzes ist die Voraussetzung gegeben, dass in vitro gezeugte Embryos vor Einpflanzung in den Uterus genetisch untersucht werden dürfen.
Mit der Änderung des FMedG ist das bisherige Verbot, Untersuchungen an in vitro gezeugten Embryos durchzuführen, aufgehoben und wird die konkrete Durchführung der Präimplantationsdiagnostik geregelt. Prof. Michael von Wolff, Leiter Reproduktionsmedizin, Universitätsfrauenklinik, Inselspital Bern, gab Auskunft darüber, was das neue Gesetz erlaubt, was weiterhin verboten ist und wie er selbst die Diskussionen bewertet.
GYNÄKOLOGIE: Herr Prof. von Wolff, was bedeutet das Votum für die assistierte Reproduktionsmedizin in der Schweiz? Michael von Wolff: Ich halte das Votum für einen richtigen Schritt in Richtung einer zeitgemässen Reproduktionsmedizin. Die Techniken helfen den Paaren und letztlich auch der Gesellschaft. Ein Missbrauch ist aus meiner Sicht dank strenger Regularien nicht möglich. Das Gesetz umfasst drei Neuerungen: Zum Ersten dürfen wir dank des neues Gesetzes nicht mehr nur maximal 3, sondern bis zu 12 fertilisierte Oozyten bis zum Embryonalstadium kultivieren. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, da wir im Embryonalstadium anhand morphologischer Kriterien viel besser entscheiden können, welche Embryonen ein hohes Schwangerschaftspotenzial haben. So-
Historie der In-vitro-Fertilisation
I 1978: 1. Geburt eines Kindes nach einer In-vitro-Fertilisation (IVF) in Grossbritannien
I 1983: 1. Bericht über eine vaginale Eizellentnahme I 1983: 1. Bericht über die Geburt eines Kindes nach einer Eizellspende I 1983: 1. Bericht über die Entwicklung einer Schwangerschaft nach der
Kryokonservierung eines Embryos I 1984: 1. Geburt nach einer Leihmutterschwangerschaft I 1985: 1. Geburt eines Kindes nach einer IVF in der Schweiz I 1990: 1. Bericht über eine Schwangerschaft nach einer Polkörperdiagnostik (PKD),
einer Sonderform der Präimplantationsdiagnostik (PID) I 1992: 1. Bericht über eine Schwangerschaft nach einer intrazytoplasmatischen
Spermieninjektion (ICSI) I 1992: 1. Bericht über eine Schwangerschaft nach einer PID eines Embryos I 2010: Robert Edwards erhält den Nobelpreis für Physiologie/Medizin für die
Entwicklung der IVF I 2017: Einführung der PID/PIS in der Schweiz
Inzwischen werden rund 2% aller Kinder in der Schweiz nach einer IVF-Behandlung geboren. In Dänemark beispielsweise sind es rund 4%.
mit werden wir die Möglichkeit haben, einen «TopEmbryo» zu finden, den wir dann als ersten transferieren werden. Alle anderen Embryonen werden kryokonserviert und, falls erforderlich, erst später transferiert. Da dieser «Top-Embryo» ein sehr hohes Potenzial für eine Schwangerschaft aufweist, werden wir bei jungen Frauen vorzugsweise nur noch einen Embryo transferieren. Damit wird die Zwillingsrate deutlich abnehmen, wie es bereits eindrücklich in Skandinavien gezeigt wurde. Eine geringere Zwillingsrate bedeutet weniger Schwangerschaftsrisiken, gesündere Kinder und weniger gefährliche und letztlich auch weniger teure Frühgeburten. Zum Zweiten dürfen wir demnächst eine Präimplantationsdiagnostik (PID) durchführen. Bei Paaren mit einer schweren genetischen Erkrankung können wir die
«Bei Paaren mit schwerer genetischer
Erkrankung können wir mit der PID die
Embryonen identifizieren, die die Erkran-
kung tragen. Dadurch kann verhindert
»werden, dass schwer kranke Kinder geboren oder gar abgetrieben werden.
Embryonen identifizieren, welche die Erkrankung tragen. Dadurch kann verhindert werden, dass schwer kranke Kinder geboren oder gar abgetrieben werden. Zum Dritten können wir die Embryonen bei einer IVFBehandlung auf Chromosomenaberrationen screenen und damit die Embryonen erkennen, die das höchste Entwicklungspotenzial haben. Dieses sogenannte Präimplantations-Screening (PIS) wurde vor den Abstimmungen kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert.
Bezüglich PID: Dies betrifft also Paare, die damit rechnen müssen, dass ihre familiäre Belastung für eine schwere Erbkrankheit oder auch Trisomie auch das Kind betrifft, und die basierend auf diesem Wissen eine In-vitro-Fertilisation vornehmen lassen. Um welche Krankheiten oder auch Chromosomenstörungen handelt es sich häufig, wie viele Paare sind in der Schweiz betroffen?
26 GYNÄKOLOGIE 5/2016
ZUR DISKUSSION
Michael von Wolff: Am häufigsten dürfte in unseren Breiten eine PID wegen eines sogenannten fragilen XSyndroms, einer Muskeldystrophie, eines Morbus Huntington und einer zystischen Fibrose durchgeführt werden. Dies sind schwere Erkrankungen, für die es keine effektiven Therapien gibt. Auch schwere Chromosomenaberrationen wie grosse Translokationen, die mit wiederholten Fehlgeburten einhergehen, gehören dazu. Eine PID ist nur zulässig, wenn es sich um eine schwere Erkrankung handelt, diese wahrscheinlich vor dem 50. Lebensjahr ausbrechen wird und keine zweckmässige Therapie zu ihrer Bekämpfung zur Verfügung steht. Es gibt nur grobe Schätzungen, wie viele Paare dies betreffen wird. Legt man die Zahlen des europäischen PID-Registers zugrunde, so dürften maximal 100 Frauen pro Jahr eine PID/PIS in der Schweiz durchführen lassen. Man kann im Anschluss mit der Geburt von etwa 50 Kindern rechnen.
Der in der Öffentlichkeit besonders kontrovers diskutierte Punkt betrifft das sogenannte Präimplantationsscreening (PIS), oben unter Punkt 3 angesprochen: Was unterscheidet dieses von der oben beschriebenen PID? Michael von Wolff: Bei der PID werden die Embryonen gezielt auf eine bereits bekannte genetische Veränderung, das heisst eine Mutation oder eine Chromsomenaberration hin, untersucht. Beim PIS dagegen werden alle Embryonen, die bei einer IVF entstehen, auf Chromosomenaberrationen hin untersucht. Da Embryonen mit einer schweren Chromosomenaberration nicht oder kaum zu einer Schwangerschaft führen, können mithilfe des PIS diejenigen Embryonen identifiziert werden, die eine Schwangerschaft ermöglichen. Bei Frauen im Alter um die 40 Jahre mit einer schnell nachlassenden Fertilität und noch hoher Ovarreserve kann dieses Verfahren darüber entscheiden, ob eine Schwangerschaft noch eintritt, da der zeitaufwändige Transfer aller Embryonen nicht erforderlich ist. Denn wenn die Frau nicht direkt schwanger wird, kann sofort die nächste IVF-Behandlung angeschlossen werden. Dieses Verfahren wird aber sicherlich nur bei Frauen angewandt werden, die oben genannte Kriterien erfüllen und eine IVF-Behandlung wegen einer Sterilität durchführen. Eine IVF-Therapie zu machen, nur um ein PIS durchführen zu können, ergibt keinen Sinn.
Konkreter Fall: Ein gesundes Paar mit Kinderwunsch, aber Fruchtbarkeitsproblemen, diagnostisch bestätigt, beschliesst eine In-vitro-Fertilisation und sagt Ihnen: «Wir möchten ein gesundes Kind – am liebsten ein Mädchen, wenns blond und blauäugig wäre, wäre es besonders gut!» Was sagen Sie denen? Michael von Wolff: Es ist erstaunlich, aber diese Frage hören wir schon seit Jahren, meist allerdings im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Kindes.
Fallvignette Die 10 Schritte der Präimplantationsdiagnostik (PID)
Frau und Herr Schweizer haben ein Kind mit einer zystischen Fibrose (CF). Herr und Frau Schweizer wurden deswegen genetisch getestet, und es wurde herausgefunden, dass sie heterozygot für das CF-Gen und somit beide Träger der autosomal rezessiv vererbten Erkrankung sind.
1 von 25 Personen ist Träger einer Mutation der CF. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich zufällig 2 Träger treffen, um eine Familie zu gründen, liegt bei 0,16% und die Wahrscheinlichkeit, dass dieses zufällige Treffen zur Geburt eines Kindes mit einer CF-Erkrankung führt, beträgt 1:2580. Da das Kind von Frau und Herrn Schweizer sehr krank ist, möchten sie nicht das Risiko eingehen, ein weiteres Kind mit einer zystischen Fibrose zu bekommen. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie am Ende der 11. Schwangerschaftswoche eine Chorionzottenbiopsie durchführen lassen könnten und dass eine Abtreibung im Fall einer Erkrankung des Kindes möglich sei. Dies wollen sie jedoch auf keinen Fall, weswegen sie eine Präimplantationsdiagnostik (PID) der Eizellen oder Embryonen erwägen. Das Vorgehen ist wie folgt: I Schritt 1: Am Anfang steht die reproduktionsmedizinische Beratung: Dem Paar wird mitgeteilt, dass eine IVF-Behandlung mit einer Hormonstimulation erfolgen muss. I Schritt 2: Es folgt die humangenetische Beratung: Das Paar erfährt, dass statistisch gesehen das Kind und damit auch jeder Embryo mit einer 25%igen Wahrscheinlichkeit eine Homozygotie für eine zystische Fibrose aufweisen und somit krank sein wird, mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit ein Träger ohne Symptome ist und mit einer 25%igen Wahrscheinlichkeit keine Mutation aufweist. Bei einer Heterozygotie des Kindes ist zu beachten, dass 1 von 25 Frauen und Männer das Gen trägt, was bei einer späteren Partnerwahl eine Rolle spielen wird. Dem Paar wird erklärt, dass bereits jetzt eine Polkörperdiagnostik (PKD), eine Sonderform der PID (z.B. an der Universitäts-Frauenklinik in Bern), möglich ist, bei der nicht Embryonen, sondern Oozyten untersucht werden. Eine Homozygotie des Kindes kann mithilfe der PKD verhindert werden, eine Heterozygotie nicht. Eine Untersuchung der Embryonen wird zirka ab September 2017 in der Schweiz möglich sein. Dem Paar wird aber auch erklärt werden müssen, dass statistisch nur jeder vierte Embryo verwendet werden kann, wenn definitiv eine Heterozygotie verhindert werden soll. Dies reduziert die Schwangerschaftschancen der IVF-Behandlung theoretisch um 75%. I Schritt 3: Frau Schweizer erhält eine hormonelle Stimulation. I Schritt 4: Alle Eizellen werden in einer kurzen Narkose entnommen. I Schritt 5: Die Eizellen werden in vitro befruchtet. Am Tag der Eizellentnahme (PKD) oder 3 bis 5 Tage nach der Entnahme werden Polkörper respektive embryonale Zellen von maximal 12 Embryonen entnommen. I Schritt 6: Die Embryonen werden eingefroren. I Schritt 7: Die entnommenen Zellen werden humangenetisch untersucht. I Schritt 8: «Gute» Embryonen werden nach und nach aufgetaut und in einem Folgezyklus in den Uterus eingesetzt. I Schritt 9: Nach zirka 2 Wochen wird ein Schwangerschaftstest durchgeführt. Die Geburtenchance pro IVF/PKD/PID ist altersabhängig und liegt bei etwa 20% pro Stimulation. I Schritt 10: Das Paar muss die Behandlung bezahlen, die inklusive der Stimulation und der genetischen Untersuchung sowie des Transfers aller untersuchten «gesunden» Embryonen mindestens 10 000 Franken kosten wird, da die Krankenkasse diese Behandlung nicht bezahlt.
Aber Sie haben recht. Früher konnten wir das Geschlecht nicht bestimmen, und jetzt wird es dank der PID problemlos machbar sein. Dies ist aber klar geregelt: Das Geschlecht darf nur untersucht werden, wenn eine schwere genetische Erkrankung geschlechtsspezifisch vererbt wird. Genetische Dispositionen für andere Eigenschaften wie die Augenfarbe dürfen gar nicht untersucht werden.
Den Gegnern des revidierten FMedG, die das Referendum lanciert haben, gehen die neuen Bestimmungen zu weit. Sie befürchten insbesondere eine ethisch nicht verantwortbare Ausweitung von genetischen Untersuchungen an menschlichen Embryonen. Potenziell ist vielleicht vieles bereits möglich. Inwieweit sind die Kinderwunschzentren, die ja auch in Wettbewerb stehen, besonders gefordert?
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ZUR DISKUSSION
Michael von Wolff: Hier habe ich überhaupt keine Sorgen. Die Reproduktionsmedizin ist einer der am besten kontrollierten Bereiche der Medizin. Und der Gesetzgeber verschärft die Regularien jetzt sogar noch dahingehend, dass IVF- und Genetiklabors diese Techniken nur dann durchführen dürfen, wenn sie akkreditiert sind. Dies ist eine hohe Hürde und er-
In Österreich ist keine Ethikkommission in die Entscheidung mit eingebunden, ein PIS ist aber nur erlaubt nach drei erfolglosen IVF-Versuchen oder Fehlgeburten.
Wann tritt die Gesetzesänderung in der Schweiz in Kraft? Michael von Wolff: Es ist davon auszugehen, dass eine PID ab September 2017 möglich sein wird. Allerdings wird die PID dann auch nicht sofort überall verfügbar sein. Wie bereits gesagt, sind die Hürden für die Durchführung einer PID und PIS hoch, sodass diese sicherlich nicht sofort und auch nicht an allen
«Ich wünsche mir eine qualitativ
hochwertige IVF und PID, die möglichst
allen betroffenen Paaren durch eine
Kostenerstattung zur Verfügung stehen
sollte, um unnötiges Leid durch
»Sterilität oder eine schwere genetische Erkrankung zu vermeiden.
Abbildung: Michael von Wolff in seinem Labor: Eine IVF und insbesondere eine PID erfordern eine sorgfältige Abstimmung der Reproduktionsmediziner, der Reproduktionsbiologen und der Humangenetiker.
möglicht noch feinmaschigere Kontrollen. Und die Strafen sind bei einem Missbrauch auch happig: Freiheitsstrafen bis zu 3 Jahren sind möglich. Aus diesem Grund wird in der Schweiz niemand über die erlaubten Grenzen hinaus gehen und das Indikations- oder Untersuchungsspektrum unerlaubt ausdehnen.
Gibt es Unterschiede hinsichtlich dessen, was das Schweizer Fortpflanzungsmedizingesetz erlaubt oder nicht erlaubt, zu Nachbarländern, etwa Deutschland und Österreich? Michael von Wolff: Deutschland und Österreich bieten bereits eine PID an. Das Schweizer Gesetz ist allerdings liberaler als die Gesetze in Deutschland und Österreich. In Deutschland kann eine PID nur durchgeführt werden, wenn zuvor eine Ethikkommission zustimmt. Das Ethikvotum muss die Patientin bezah-
«Die Reproduktionsmedizin »ist einer der am besten kontrollierten
Bereiche der Medizin.
len, es kostet bis zu mehreren tausend Euro. Ein PIS ist nur erlaubt, wenn eine schwerwiegende Schädigung des Embryos zu erwarten ist, die zu einer Fehloder Todgeburt führen würde. Somit wäre eine genetische Untersuchung auch bei wiederholten Fehlgeburten erlaubt.
Zentren durchgeführt werden. In Bern haben wir die Polkörperdiagnostik zwei Jahre vorbereitet, bevor wir 2016 damit gestartet sind. Die Vorarbeit erlaubt uns erfreulicherweise, direkt im September 2017 mit der PID starten zu können, der lange Zeitraum zeigt aber, dass es einer erheblichen Expertise und Vorbereitung bedarf, bis man die Techniken mit gutem Gewissen anbieten kann.
Was wünschen Sie sich in der Reproduktionsmedizin für die nächsten 20 Jahre? Michael von Wolff: Das ist eine spannende Frage. Ich wünsche mir einen massvollen und an der Gesundheit der Kinder orientierten Einsatz der Reproduktionsmedizin. Dieser Wunsch umfasst zum einen eine qualitativ hochwertige IVF und PID, die auch möglichst allen Paaren dank einer Kostenerstattung zur Verfügung stehen sollte, um unnötiges Leid durch eine Sterilität oder eine schwere genetische Erkrankung zu vermeiden. Zum anderen umfasst der Wunsch aber auch, dass die Reproduktionsmedizin und deren Techniken nur dann zum Einsatz kommen, wenn es wirklich erforderlich ist. Zu viel Technik in der Reproduktionsmedizin sehe ich kritisch und halte sie auch in vielen Fällen für unnötig. Dass eine Anlehnung an die Natur und damit eine IVF auch ohne eine Hormonstimulation und aufwändige Techniken möglich ist, zeigen wir ja eindrücklich seit Jahren am Inselspital in Bern.
Herr von Wolff, ganz herzlichen Dank für das Interview!
Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel: keine.
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