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Journal Club
Reproduktionsmedizin
Krebs in der Kindheit: welche Folgen für Fertilität und Schwangerschaft?
Überlebende von sogenannten Kinderkrebserkrankungen haben nach einer intensiven Chemotherapie mit Langzeitfolgen zu rechnen. Eine grosse Kohortenstudie verglich die Auswirkungen der Chemotherapie bei männlichen und weiblichen Survivors auf die Chance für eine Schwangerschaft und die Geburt eines gesunden Kindes: Hier zeigte sich eine starke Korrelation zur verabreichten Therapiedosis, interessanterweise besonders bei den Männern.
Krebserkrankungen in der Kindheit werden heute immer häufiger überlebt; rund 80% sind Langzeitüberlebende. Damit kommt ein Grossteil der Betroffenen ins Erwachsenenalter und wünscht sich Elternschaft. Vor dem Hintergrund, dass der Einfluss moderner Chemotherapien auf die spätere Möglichkeit einer Schwangerschaft weitgehend ungeklärt ist, führten die Autoren eine grosse Kohortenstudie aufgrund der Daten der Studie Childhood Cancer Survivor durch, welche knapp 11 000 Betroffene (Frauen und Männer) und als Kontrollpersonen knapp 4000 Zwillingsgeschwister einschloss. Keiner der TeilnehmerInnen war einer Becken- oder Gehirnstrahlentherapie ausgesetzt gewesen. Alkylatierende Chemotherapien interferieren mit der biologischen DNA-Methylierung als enzymatischem Prozess und können Erbinformationen nachhaltig verändern. In höheren Konzentrationen führen sie zu Strangbrüchen der DNA. Bifunktionelle Alkylanzien können zudem zwei DNA-Stränge chemisch dauerhaft verknüpfen.
Behandlungszeitraum 1970 bis 1999
Die Studie beobachtete 5-Jahres-Überlebende (Survivors) der häufigsten Kinderkrebserkrankungen. Die Betroffenen hatten die Krebsdiagnose vor dem 21. Lebensjahr erhalten und waren an insgesamt 27 Zentren in den USA und in Kanada im Zeitraum 1970 bis 1999 chemotherapeutisch behandelt worden. In den Arztberichten wurden 14 alkylatierende und ähnliche DNA-beeinflussende Substanzen dokumentiert. Diese wurden in geschlechtsspezifischen Cox-Modellen assoziiert mit dem Ziel, für jede Substanz
unabhängige Wirkungen und kumultative Cyclophosphamid-Äquivalenzdosen aller Medikamente bezüglich Schwangerschaften und Lebendgeburten bei 15- bis 44-jährigen Survivors zu bestimmen. Für die Kontrollgruppe wurden Zwillingsbrüder und -schwestern der Krebsüberlebenden herangezogen.
Ergebnis: männliche Survivors häufiger infertil
Die Daten von 10 938 Überlebenden der Krebserkrankung und 3949 Zwillingsbrüdern oder -schwestern als Kontrollgruppe konnten ausgewertet werden. Die Teilnehmer wurden durchschnittlich 8 Jahre (4–12 J.) nach Beginn der Kohortenbildung oder ab Lebensalter 15 Jahre beobachtet (je nachdem, was später lag). In diesem Zeitraum berichteten 38% (n = 4149) der Survivors, eine Schwangerschaft initiiert zu haben; davon kam es bei 83% (n = 3453) zu mindestens einer Lebendgeburt. Bei den Zwillingsschwestern und -brüdern kam es nach medianem Follow-up von 10 Jahren (6–15 J.) in 62% zu einer Schwangerschaft, in 90% davon kam es zu mindestens einer Lebendgeburt. Die multivariate Analyse zeigte, dass bei den Krebsüberlebenden eine verringerte Wahrscheinlichkeit bestand, eine Schwangerschaft zu entwickeln und weiterzuführen, verglichen mit ihren Zwillingspartnern. Der Unterschied war bei den männlichen Survivors besonders hoch (Männer: Hazard Ratio [HR]: 0,63; 95%-KI: 0,58–0,68) (Frauen: HR: 0,87; 0,81–0,94). Entsprechendes zeigte sich bei der Geburtenrate (Männer: 0,63; Frauen: 0,82).
Die «gefährdendsten» Chemotherapeutika Bei der Korrelation mit den Substanz-
dosierungen zeigten sich weitere Geschlechtsunterschiede: Bei den männlichen Krebsüberlebenden war die Zeugungswahrscheinlichkeit nach hohen Dosen von Cyclophosphamid (HR: 0,60), Ifosfamid (HR: 0,42), Procarbazin (HR: 0,30) und Cisplatin (HR: 0,56) besonders reduziert. Die Cyclophosphamid-Äquivalenzdosis (pro 5000 mg/m²: HR: 0,82) war signifikant mit verringerter Schwangerschaftswahrscheinlichkeit verbunden. Bei den weiblichen Survivors hingegen war nur die Anwendung von Busulfan (< 450 mg/m²: HR: 0,22, 95%-KI: 0,06–0,79) (≥ 450 mg/m² 0,14; 0,03–0,55) und Lomustindosen von mindestens 411 mg/m² (HR: 0,41; 0,17–0,98) signifikant mit reduzierter Schwangerschaftswahrscheinlichkeit verbunden. Bezüglich Cyclophosphamid-Äquivalenzdosis waren nur die höchsten Dosen fertilitätsmindernd. Die Zahl der Lebendgeburten war ähnlich jener der Schwangerschaften, wie die Auswertung zeigte. Folgerung Hohe Dosen alkylatierender Substanzen und Cisplatin in der Kindheit bewirken bei männlichen Überlebenden von Kinder- krebs eine verringerte Zeugungsfähigkeit verglichen mit Gesunden ohne Chemo- therapie in der Kindheit. Für weibliche Survivors unter gleicher Behandlung kann dagegen weitgehend Entwarnung für die Beeinträchtigung der Fertilität gegeben werden – sofern in der Kindheit keine Ra- diotherapie (Becken, Gehirn) erfolgte. Trotzdem, so betonen die Studienleiter, sollten heute Massnahmen zum Ferti- litätserhalt vor einer Krebsbehandlung im Jugendalter besprochen und einge- leitet werden, damit die grösstmögliche Fertilität im Erwachsenenalter erhalten bleibt. I hir Quelle: Chow EJ et al.: Pregnancy after chemotherapy in male and female survivors of childhood cancer treated between 1970 and 1999: a report from the Childhood Cancer Survivor Study cohort. Lancet Oncology 2016; 17 (5): 567–576. 38 GYNÄKOLOGIE 4/2016