Transkript
SCHWERPUNKT
Aktuelle Behandlungskonzepte bei Belastungsinkontinenz
Differenzialdiagnostik, Therapie, Beratung
Obwohl die Belastungsinkontinenz ein sehr häufiges Leiden und die Lebensqualität der Betroffenen deutlich reduziert ist, sucht nur ein Drittel deswegen den Arzt auf. Dabei stehen heutzutage für unsere Patientinnen Therapieoptionen zur Verfügung, die meist eine Heilung oder zumindest eine deutliche Verbesserung ihrer Inkontinenzsituation ermöglichen. Im Folgenden werden die aktuellen Behandlungskonzepte erörtert.
DAVID SCHEINER, DANIELE PERUCCHINI, DANIEL FINK, CORNELIA BETSCHART
Die Revolution in der chirurgischen Behandlung
Die Einführung des Tension-free Vaginal Tape (TVT) im Jahr 1995 hat die chirurgische Behandlung der Belastungsinkontinenz bei der Frau revolutioniert (1). Diese innovative Technik fusst auf ausführlichen anatomischen und urodynamischen Untersuchungen mit Analyse des komplexen Zusammenspiels der spezifischen anatomischen Strukturen, die bei der weiblichen Belastungsinkontinenz involviert sind, und ist als Integraltheorie von Petros und Ulmsten bekannt (2). Gemäss der Hammocktheorie von DeLancey liegt die Urethra auf der endopelvinen Faszie und vorderen Scheidenwand, die lateral am Arcus tendineus fasciae pelvis aufgehängt ist und durch den M. levator angespannt und stabilisiert wird (3). Steigt beispielsweise beim Husten der intraabdominale Druck, wird die Urethra gegen diese hängemattenähnliche Unterstützungsschicht gedrückt und so ihr Lumen verschlossen. Die Integraltheorie besagt, dass diese
Merkpunkte
I Harninkontinenz betrifft etwa jede dritte Frau.
I Diagnostisch sollen ein Harnwegsinfekt und eine erhöhte Menge an Rest-
harn ausgeschlossen werden.
I Als erste Schritte sind Lifestyle-Änderungen, Beckenbodenrehabilitation
oder Inkontinenztampons/-pessare empfohlen.
I Chirurgischer Goldstandard bei Belastungsinkontinenz ist die minimalinva-
sive spannungsfreie Schlingentechnik (mit postoperativen Kontinenzraten
von etwa 90%).
I Etwaige postoperative Blasenentleerungsstörungen oder De-novo-Drang-
beschwerden nach Schlingenoperation können in der Regel ebenfalls mini-
malinvasiv angegangen werden.
Unterstützungsschicht wie ein Trampolin vorne an den Ligg. pubourethralia, seitlich am Arcus tendineus fasciae pelvis, nach dorsal an den Ligg. sacrouterina und an den Ligg. cardinalia aufgehängt ist (2). Eine durch Geburten verursachte Schädigung oder im Alter auftretende Schwächung dieses komplexen Mechanismus und der Ligg. pubourethralia, die die suburethrale Aufhängung bewirken, führen zu einer hypermobilen Urethra und zu Urethralinsuffizienz – letztlich tritt das klinische Bild der Belastungsinkontinenz auf. Das innovative Prinzip dieser spannungsfreien Schlingenoperation besteht somit neu in der Stabilisierung der mittleren Urethra (Midurethra) und nicht wie früher bei den Kolposuspensionen nach Cowan oder Burch in der Reposition des Blasenhalses, die auf Enhörnings Drucktransmissionstheorie beruht, wonach Inkontinenzoperationen den Blasenhals bei der Beckenbodeninsuffizienz mit Inkontinenz wieder oberhalb des Beckenbodens in den Druckbereich des Abdomens reponieren sollen (4). Im Gegensatz zu den bisherigen Schlingentechniken wird beim TVT ein alloplastisches Material, nämlich ein nicht resorbierbares Kunststoffband, eingesetzt, um die geschwächte pubourethrale Verankerung des mittleren Urethradrittels zu verstärken. Das Band soll aber neu weder eine Elevation noch eine Obstruktion bewirken, sondern lediglich als Matrix für eine Neufixation der Urethra durch Einsprossung von Fibroblasten dienen. Somit ist gemäss Integraltheorie eine (hyper)mobile Urethra die ideale Indikation für diese spannungsfreie Schlingentechnik, mit dieser kann eine möglichst physiologische Korrektur der Belastungsinkontinenz erreicht werden.
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SCHWERPUNKT
Diagnostik
Als erster Schritt wird der konservative Therapieansatz empfohlen und kann gleich bei unauffälliger Basisdiagnostik initiiert werden (10). Die Anamnese erfasst nebst gynäkologisch-geburtshilflicher Vorgeschichte vor allem Art, Beginn, Dauer und Schweregrad der Symptome, Fragen nach Senkungsbeschwerden, Hämaturie, Urogenitalinfekten, neurologischen oder endokrinologischen Grunderkrankungen, Operationen, Medikamenteneinnahme und gastrointestinalen Beschwerden. Die Patientin soll für 2 bis 3 Tage ein Miktionstagebuch führen und so objektiv ihre Trinkmengen, Miktionsfrequenz und -volumina, Nykturie, imperativen Harndrang, Inkontinenzepisoden und Vorlagenverbrauch erfassen.
Basisuntersuchung Harnwegsinfekte können sich bei älteren Patientinnen auch einzig mit häufigem Harndrang (Frequency, Pollakisurie) oder mit einer neu auftretenden Harninkontinenz äussern, weshalb Harnwegsinfekte immer als Ursache ausgeschlossen und behandelt werden müssen (siehe hierzu Artikel zum rezidivierenden HWI, Seiten 6–14). Dasselbe gilt auch für erhöhten Restharn als Ursache von Blasenentleerungsstörungen oder Überlaufinkontinenz, welche sonografisch oder mittels Katheterismus bestimmt werden können (11). Ein erhöhter Restharn soll die weiterführende Abklärung nach sich ziehen (siehe Abschnitt Urodynamik). Die Spekulumeinstellung gestattet die Beurteilung eines allfälligen Genitaldeszensus als mögliche Ursache von Restharnbildung und (rezidivierenden) Harnwegsinfekten und die Beurteilung der Genitaltrophik. Ferner dient die Spekulumeinstellung dem Ausschluss von (vesikovaginalen) Fisteln gerade auch nach Operationen im kleinen Becken (z.B. Hysterektomie), die sich typischerweise bereits in den ersten postoperativen Tagen und als kontinuierlicher Urinverlust äussern. Klinisch lässt sich die Belastungsinkontinenz bei gefüllter Blase oft einfach objektivieren: Beim Husten geht synchron sichtbar Urin am Meatus urethrae externus ab (positiver Hustentest). Indikationen zur weiterführenden urogynäkologischen und urodynamischen Abklärung finden sich in Tabelle 1 (12).
Kasten 1:
Definition
Harninkontinenz ist definiert als unwillkürlicher Urinverlust (5) zeitgleich zu körperlicher Aktivität wie Husten, Niesen oder Lachen. Risikofaktoren für das Entstehen einer Belastungsinkontinenz sind zunehmendes Alter, Schwangerschaften und Geburten, Postmenopause, Zustand nach Hysterektomie, Adipositas, kognitive Beeinträchtigung und Rauchen, aber möglicherweise auch eine vererbte Bindegewebeschwäche.
Kasten 2:
Prävalenz und Folgen der Inkontinenz
Die Prävalenz der Harninkontinenz ist altersabhängig und liegt in der westlichen Welt bei Frauen zwischen 24 und 45% (6). In der Schweiz wird sie in einer repräsentativen Umfrage des Schweizer Haushalt-Panels («Verlieren Sie gelegentlich Urin?»: ja/nein) mit 10 467 Teilnehmerinnen im Jahr 2002 auf 10% geschätzt. Dieses Krankheitsbild beeinträchtigt Gesundheit und Lebensqualität der Betroffenen und ist zudem eine beachtliche (auch finanzielle) Bürde: 1. Zwar ist die Harninkontinenz keine bedrohliche Erkrankung, doch reduziert
sie bei zwei Dritteln der Betroffenen die Lebensqualität und kann zum sozialen Rückzug führen. 2. Zudem liegt das generelle Risiko, zeitlebens wegen einer Beckenbodenschwäche wie Harninkontinenz oder Genitaldeszensus operiert zu werden, bei 11% (7). 3. Die durch die Inkontinenz verursachten Kosten durch Arztkonsultationen und Therapien wie Chirurgie, Medikamente, Inkontinenzhilfen, Katheter oder Physiotherapie, Folgekosten für Wäsche, neue Kleidung, Haut- oder Harnwegsinfekte sowie Reinigung für Teppiche oder Möbel belaufen sich allein in den USA jährlich auf etwa 17,5 Mrd. US-Dollar (8). Dennoch sucht nur ein Drittel ärztliche Hilfe (9), obwohl verschiedene effektive Therapieoptionen bestehen.
Tabelle 1:
Indikationen zur weiterführenden urogynäkologischen und urodynamischen Abklärung (12)
Indikationen zur Urodynamik: I auffällige Befunde I Versagen der konservativen Massnahmen vor der operativen Therapie I Rezidivinkontinenz I komplexe Vorgeschichte I neurologische Erkrankungen I jede unklare Inkontinenz I zusätzliche Drangsymptomatik oder sensomotorische Blasenstörung (Misch-
inkontinenz) I Miktionsstörung I Restharnproblematik I rezidivierende Harnwegsinfekte I Harninkontinenz nach radikaler und rekonstruktiver Chirurgie im kleinen
Becken
Weiterführende urogynäkologische Untersuchung mit Urodynamik Die urodynamische Untersuchung ist eine Pflichtleistung der Krankenkasse. Sie dient der weiteren Objektivierung und Quantifizierung der Harninkontinenzsymptome und ist nebst Indikationsliste (Tabelle 1) gerade auch bei älteren Patientinnen sinnvoll (13). Dabei wird die Funktionsweise der Speicher- und Entleerungsfunktion der Harnblase sowie der Tonus der Harnröhre mithilfe von intravesikalen und intra-
urethralen Drucksonden untersucht. Während der Füllzystometrie wird die Blase kontinuierlich gefüllt, dies dient dem Nachweis pathologischer Detrusoraktivitäten (Ausschluss einer überaktiven Blase, (siehe hierzu Artikel zur Mischinkontinenz Seite 15–20). Die Urethradruckmessung misst den Urethralverschlussdruck in Ruhe und unter Belastung und liefert zusammen mit der sonografisch untersuchten Mobilität der Urethra die wichtigen Hinweise für das Vorliegen einer Belastungsinkontinenz. Am Ende der Untersu-
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SCHWERPUNKT
chung werden in der Miktiometrie Flussgeschwindigkeit und Dauer der Miktion zur Erfassung von Blasenentleerungsstörungen aufgezeichnet. Die Rationale der urodynamischen Diagnostik besteht in der besseren Einschätzung des Operationserfolgs einerseits und in einer individualisierteren präoperativen Patientinneninformation andererseits. Gemäss der Integraltheorie weist die «ideale» Patientin für eine Inkontinenzschlinge eine normotone und (hyper)mobile Urethra auf. Umgekehrt sind eine hypotone Urethra (maximaler Urethraverschlussdruck < 20 cm H2O) oder pathologische Detrusorkontraktionen von über 25 cm H2O in der Füllzystometrie prognostisch ungünstig (14, 15). Noch ungünstiger ist die sogenannte intrinsische Sphinkterinsuffizienz: Bei kombiniert hypotoner und immobiler Urethra profitierten nur 17% der Patientinnen von der Schlingeneinlage (16). Therapie Ein geschwächter Verschlussmechanismus der Blase kann zu einer Belastungsinkontinenz führen. Folglich liegt der Therapie das mechanische Prinzip zugrunde, den Urethralverschluss wiederherzustellen oder zu verstärken (Tabelle 2). Als erste Therapieschritte sind die konservativen Massnahmen und erst nach ausbleibender Besserung die operative Sanierung empfohlen (17). Konservative Therapieoptionen Die Gewichtsreduktion als Lebensstiländerung sollte in die Beratung bei übergewichtigen Patientinnen mit Inkontinenz aufgenommen werden: Dadurch wird der mechanische Druck auf den Beckenboden reduziert, und die Inkontinenzsymptomatik bessert sich. In einer prospektiv randomisierten Studie mit 338 übergewichtigen Frauen (BMI 36 ± 6 Standardabweichung) verringerte eine Gewichtsabnahme von 8 kg die Belastungsinkontinenzepisoden um 58%, in der Kontrollgruppe (1,6 kg Gewichtsreduktion) aber nur um 33 % (p = 0,02) (18). Ob lokal applizierte Östrogene die Inkontinenz verstärken, wie es die HERS-Studie für die systematische orale Hormonsubstitutionstherapie zeigte, bleibt unklar (19). Jedenfalls senkt intravaginal verabreichtes Estriol in der Postmenopause die Inzidenz von Harnwegsinfektionen von 5,9 auf 0,5 pro Jahr und normalisiert bei 61% die Vaginalflora, während die Prävalenz von Enterobacteriaceae von 67 auf 31% sinkt (20). Die medikamentöse Therapie mit Duloxetin, einem selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, bewährt sich leider nicht im Alltag für das Gros der Patientinnen. Auch die Inkontinenzbinden und -vorlagen sollen ins aktuelle Behandlungskonzept miteinbezogen werden. Sie sind im Handel frei erhältlich und werden in der Schweiz je nach Schweregrad von den Krankenkassen unterschiedlich rückvergütet (Mittel- und Gegenständeliste 15,01–15,07). Die physiotherapeutische Beckenbodenrehabilitation – in der Regel neun Sitzungen mit einer Sitzung pro Woche – bezweckt die Stärkung des nach Geburten lädierten oder mit den Jahren atrophierten Beckenbodenmuskels, was den Urethraverschlussdruck positiv beeinflussen und letztlich die Inkontinenz vermindern kann. Zudem wird die Automatisierung des Kontraktionsreflexes kurz vor physischer Belastung trainiert (21). Das Beckenbodentraining kann bei initial fehlender Beckenbodenkontraktion oder nach erfolglosem Beckenbodentraining mit Elektrostimulation über vaginal eingeführte Sonden (Biofeedback) unterstützt werden. Kurzfristig kann eine subjektive Heilung respektive Besserung in 46 bis 75% der Fälle erzielt werden, und bei initialem Erfolg sind langfristig nach 10 Jahren noch 66% der Patientinnen mit dem Resultat zufrieden (22). In einer eigenen Untersuchung fanden wir keine statistisch signifikanten Unterschiede im Therapieerfolg zwischen prä- und postmenopausalen Frauen (23). Inkontinenztampons und -pessare Die vaginal eingeführten Inkontinenztampons aus Polyvinylschaumstoff wie beispielsweise Contam, Contrelle oder RECAfem oder Inkontinenzpessare (Urethralpessare) wie Ring- oder Schalenpessare aus Silikon oder Hartplastik mit einer olivenartigen Verstärkung, die suburethral zu liegen kommen, sind bei betagten, inoperablen oder aber auch bei jungen, aktiven Patientinnen mit nicht abgeschlossener Familienplanung indiziert; sie können auch gezielt nur während sportlicher Aktivität, wenn die Inkontinenz am meisten stört, getragen werden. Diese Hilfsmittel heben die vordere Scheidenwand an und unterstützen die Harnröhre und den Blasenhals, während die Miktionsfähigkeit erhalten bleiben soll. Unter der Pessartherapie nehmen die funktionelle Urethralänge und der Urethralverschlussdruck zu; der Detrusor stabilisiert sich, ohne dass eine Blasenentleerungsstörung auftritt (24). Inkontinenztampons erzielen in 36 bis 48% der Fälle eine subjektive Kontinenz und in 36 bis 40% der Fälle eine Besserung (25). Die Tampons wendet die Patientin selbstständig und für maximal zwölf Stunden täglich an, wobei während der Menstruation aufgrund der potenziellen Gefahr des Toxic-Shock-Syndroms darauf verzichtet werden soll (26). Pessare werden tagsüber getragen und abends von der Patientin entfernt, können aber, wenn das selbstständige Handling nicht möglich ist, länger getragen und durch den Arzt oder instruiertes Pflegepersonal entfernt und wiedereingeführt werden. Bei Genitalatrophie respektive postmenopausalen Patientinnen empfiehlt sich das Einführen unter Anwendung einer östriolhaltigen Creme. Nebenwirkungen der Pessartherapie sind Erosionen oder Ulzerationen der Vaginalwand; in diesen Fällen muss bis zur Abheilung 24 GYNÄKOLOGIE 3/2016 SCHWERPUNKT Tabelle 2: Optionen in der Behandlung der Belastungsinkontinenz bei der Frau Therapie LifestyleÄnderungen Inkontinenztampons und Inkontinenzpessare Prinzip Erfolg Gewichtsabnahme 58% Reduktion der reduziert mechanischen Belastungsinkontinenz- Druck auf den episoden bei Gewichts- Beckenboden abnahme von 8 kg Schaffen eines Widerlagers, 76 bis 84% subjektive wodurch bei abdominaler Kontinenz oder Druckerhöhung die Besserung Urethra komprimiert werden kann Beckenboden- Stärkung des Becken- training, bodenmuskels und Physiotherapie Automatisierung des Kontraktionsreflexes Schlingen- Rekonstruktion der pubo- operation urethralen Aufhängung, (retropubisch womit wieder ein oder trans- suburethrales Widerlager obturatorisch) geschaffen wird 46 bis 75% kurzfristige subjektive Heilung resp. Besserung 90% objektive Heilung nach 11,5 Jahren Periurethrale Injektion von «bulking agents» Einengen des Urethralumens 48% Erfolg nach 2 Jahren Nebenwirkungen – Bemerkungen Compliance Vaginale Erosionen oder Ulzerationen möglich bei langer, ununterbrochener Tragedauer Selten toxisches Shock-Syndrom Keine bekannt Überbrückung bis zur Operation oder als langfristige Lösung bei multimorbider Patientin 9 Sitzungen, verlängerbar – Intraoperative Komplikationen wie Blasen-, Darmoder Gefässverletzung – Postoperative Blasenentleerungsstörungen – Harnwegsinfekte – Banderosionen – Bewegungsabhängige Beschwerden – Dispareunie oder Hispareunie – Reoperationen Postoperative Harnwegsinfekte Restharn/Harnverhalt Beste und langfristige Lösung mit Möglichkeiten hoher Heilungsrate bei relativ geringer Komplikationsrate Möglichkeiten zur postoperativen Behebung von symptomatischen Überkorrekturen (Blasenentleerungsstörungen, De-novo-Drangbeschwerden) Praktisch keine Complianceprobleme Implantatkosten ca. 850 Fr. Spezialindikation intrinsische Sphinkterinsuffizienz (hypotone hypomobile Urethra) Rezidivinkontinenz Multimorbide Patientin Eingriff in Lokalanästhesie und ambulant möglich Schwer steuerbar, schlechte postoperative Korrekturmöglichkeiten Nicht kassenpflichtig, Antrag für Kostengutsprache muss jeweils geholt werden, Implantatkosten ca. 1600 Fr. eine intensive lokale Östrogenisierung ohne Einsatz des Pessars erfolgen. Operative Therapieoptionen Nach Möglichkeit sollen die chirurgischen Optionen erst nach Ausschöpfen der konservativen Massnahmen und idealerweise erst nach abgeschlossener Familienplanung indiziert werden. Nachdem eine randomisierte Multizenterstudie die initiale Schlingenoperation direkt der initialen Physiotherapie gegenübergestellt hatte – und nach einem Jahr die Schlingengruppe sowohl subjektiv eine deutlichere Ver- besserung (90,8% vs. 64,4%) als auch höhere subjektive (85,2% vs. 53,4%) und objektive (76,5% vs. 58,8%) Heilungsraten erzielte –, schlossen die Autoren, dass bei moderater bis schwerer Belastungsinkontinenz bereits bei Behandlungsbeginn bezüglich Physiotherapie wie auch bezüglich primärer Schlingenoperation beraten werden soll (27). Wenn also die Patientin nach eingehender Aufklärung die direkte operative Sanierung wegen ihres hohen Leidensdrucks wünscht, indizieren wir an unserer Klinik auch direkt die chirurgische Therapie. 26 GYNÄKOLOGIE 3/2016 SCHWERPUNKT Schlingenoperation Mit den spannungsfreien midurethralen Schlingen (Schlingenoperation) stehen heute standardisierte minimalinvasive Techniken zur Verfügung, die im kurzstationären Setting und auch in Lokalanästhesie und Analgosedation durchgeführt werden können und bereits intraoperativ die Überprüfung des Erfolges und die Vermeidung einer Überkorrektur gestatten. Dabei wird ein nicht resorbierbares makroporöses monofilamentäres Polypropylenband («Schlinge») durch eine 1 cm lange suburethrale Kolpotomie midurethral (auf Höhe des mittleren Urethraabschnittes) mittels Spezialnadeln retropubisch hochgeführt und über zwei suprasymphysäre Stichinzisionen zur Bauchdecke ausgeleitet. Mit dieser «blinden» retropubischen Bandpassage durch das kleine Becken ergeben sich allerdings neue intraoperative Komplikationsmuster wie Blasenperforation (in etwa 3%), Darmverletzung (in unter 1%) oder Hämorrhagien (in 1,5%) (28). Zur Vermeidung dieser retropubisch bedingten Komplikationen entwickelte De Leval im Jahr 2001 die transobturatorische «Outside-in»- und Delorme 2003 die «Insideout»-Technik (29, 30). Auch hier wird die Midurethra unterstützt, wobei das Band von der Kolpotomie aus durch die Foramina transobturatoria ausgeleitet wird. Die 17-Jahres-Daten belegen die langfristige Wirksamkeit der retropubischen TVT-Operation mit objektiven Heilungsraten von über 90% (31). Postoperativ muss in etwa 5% der Fälle mit Blasenentleerungsstörungen wie Restharnbildung oder Harnverhalt und in etwa 7% der Fälle mit De-novo-Drangbeschwerden gerechnet werden. Allerdings besteht die Möglichkeit, die unmittelbare postoperative Blasenentleerungsstörung respektive Überkorrektur noch während der Hospitalisation mittels Restharnkontrolle (wir bevorzugen dazu den Einmalkatheterismus) zu prüfen. Bei Persistenz kann unter Wahrung der operativ erreichten Kontinenz innerhalb der ersten Woche mittels Bandlockerung (aus unserer Erfahrung idealerweise in Kurznarkose, alternativ in Lokalanästhesie und Analgosedation) verfahren werden. Gelegentlich kann die Erholung einige Wochen andauern und in dieser Zeit mit passagerem Katheterismus (Selbstkatheterismus, transurethrale oder suprapubische Harnableitung) überbrückt werden. Im Fall der Persistenz muss aber bedacht werden, dass das Band nach etwa 2 Wochen bereits zu fest eingewachsen ist, um noch gelockert werden zu können. In dieser Situation bleibt nur noch die Bandspaltung übrig; mit dieser Technik können 61% der Patientinnen wieder inkontinent werden (32). sichtlich Erfolgsrate und Komplikationen diskutiert, ohne dass ein Konsensus bestünde. Doch mit der transobturatorischen Technik trat ein neues und akzentuierteres Komplikationsmuster mit bewegungsabhängigen Schmerzen in den Oberschenkeln (Adduktorenmuskeln), Dyspareunien und im Fall von vaginalen Erosionen des Bandes (bei hohem Sulcus vaginalis) mit Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs beim Partner (Hispareunie) auf. Diese Komplikationen werden gelegentlich mittels operativer Banddeckung behandelt; letztlich können sie aber nur durch Exzision des störenden Bandteilstücks behoben werden (womit allerdings das Risiko der Rezidivinkontinenz besteht). Aufgrund eigener Erfahrungen und unserer Untersuchungen zur langfristigen Kontinenzrate und zum Komplikationsprofil führen wir an unserer Klinik praktisch nur noch die retropubische TVT-Technik durch (33, 34). Bulking Agents Die periurethrale Injektion von «bulking agents» kann bei der intrinsischen Sphinkterinsuffizienz diskutiert werden. Diesem Sonderfall einer Belastungsinkontinenz liegt eine prognostisch schwierig therapierbare hypotone und hypomobile bis fixierte Urethra zugrunde und weniger das fehlende Widerlager, welches durch die beschriebenen Schlingenoperationen wiederhergestellt werden kann. Therapeutisch wird daher einerseits versucht, das periurethrale Gewebe durch die periurethrale Injektion von «bulking agents» auszudehnen, um die Urethra zu verengen. Andererseits wird die Drucktransmission in der proximalen oder mittleren Urethra erhöht. Diskutiert wird, ob dadurch ein verstärkter Sphinkter erzielt wird, indem das Material als Füllvolumen die Länge der Muskelfibern erhöht, und ob die periurethralen Injektionen nicht mehr am Blasenhals, sondern analog der Schlingenoperation midurethral erfolgen sollen (35–37). Weitere Indikationen für die Anwendung von «bulking agents» sind beispielsweise die Rezidivinkontinenz, gerade beim Vorliegen einer voroperierten starren und oft hypotonen Urethra oder bei Multimorbidität. Denn diese Technik ist deutlich weniger invasiv als die Schlingenoperation und kann auch ambulant in Lokalanästhesie durchgeführt werden. Die Erfolgsraten liegen mit 76% nach 1 Jahr und 48% nach 2 Jahren allerdings deutlich tiefer als beim TVT. Da «bulking agents» nicht kassenpflichtig sind, muss vorher ein Antrag für Kostengutsprache gestellt werden. Retropubischer oder transobturatorischer Zugang? In der Literatur werden die unterschiedlichen retro- pubischen und transobturatorischen Zugänge hin- Zusammenfassung Harninkontinenz betrifft jede dritte Frau und kann ihre Lebensqualität, ihre Gesundheit und ihr Portemonnaie belasten. Doch nur eine Minderheit sucht GYNÄKOLOGIE 3/2016 27 SCHWERPUNKT deswegen den Arzt auf. Dabei lohnen sich das Ge- spräch und die Abklärung für die Patientin, denn die heutigen Therapieoptionen ermöglichen ihr meist eine Heilung oder zumindest eine deutliche Verbes- serung ihrer Inkontinenzsituation. Zunächst sollen die konservativen Massnahmen ausgeschöpft und erst nach ausbleibender Besserung die invasiven Thera- piemodalitäten eingesetzt werden. Der heutige chirurgische Goldstandard in der Behandlung der Belastungsinkontinenz bei der Frau ist die Schlingen- operation als minimalinvasive Technik mit postopera- tiven Kontinenzraten von 90%. Allfällige Überkorrek- turen, die zu Blasenentleerungsstörungen oder De- novo-Drangbeschwerden führen können, sind in der postoperativen Phase minimalinvasiv gut mittels frühzeitiger Bandlockerung innerhalb der ersten Wo- che oder später dann mittels Bandspaltung behan- delbar. In Spezialfällen mit hypomobiler Urethra, der intrinsischen Sphinkterinsuffizienz oder bei multimor- bider Patientin kann die periurethrale Injektion eines «bulking agent» diskutiert werden. I Dr. med. David Scheiner (Erstautor, Korrespondenzadresse) Leiter Urogynäkologie E-Mail: david.scheiner@usz.ch PD Dr. med. Daniele Perucchini Prof. Dr. med. Daniel Fink Dr. med. Cornelia Betschart Klinik für Gynäkologie Universitätsspital Zürich 8091 Zürich Interessenkonflikte: keine. Quellen: 1. Ulmsten U, Johnson P, Petros P.: Intravaginal slingplasty. Zentralbl Gynakol. 1994; 116(7): 398–404. 2. Petros PE, Ulmsten UI.: An integral theory of female urinary incontinence. Experimental and clinical considerations. 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