Transkript
UPDATE
Schilddrüse und Kinderwunsch
Wann ist die Gabe von Schilddrüsenhormonen sinnvoll?
Die Inzidenz der subklinischen Hypothyreose ist bei infertilen Frauen gleich hoch wie bei gesunden, dennoch stellt sich die Frage, ob die Chance auf eine Schwangerschaft bei Betroffenen durch eine Behandlung mit Schilddrüsenhormon erhöht werden kann und welche Auswirkungen diese auf Schwangerschaft und spätere Kindesentwicklung hätte. Der Artikel diskutiert Standpunkte zur derzeitigen Praxis.
JÜRGEN M. WEISS
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob eine euthyreote Stoffwechsellage mit hochnormalen Werten von thyreoidstimulierendem Hormon (TSH) von 2,5 mIU/l bis zum oberen Referenzbereich des Labors bei 4,x mIU/l bei einer Patientin mit Kinderwunsch von der reproduktiven Funktion über die Schwangerschaft bis zur Gesundheit des Kindes einen negativen Einfluss hat und ob in dieser Situation eine Therapie mit Schilddrüsenhormon angezeigt ist. Es geht zugespitzt um die Frage, ob der obere Grenzwert für eine Behandlung 2,5 mIU/l oder 4,x mIU/l sein sollte. Ebenso wird die subklinische Hypothyreose abgehandelt. Die Therapie einer manifesten Hypo- oder Hyperthyreose steht ausser Frage und ausserhalb des Spektrums dieses Artikels.
Die präkonzeptionelle Einstellung bei Kinderwunschpatientinnen
Fallvignette: Welcher Arzt hat hinsichtlich der präkonzeptionellen Einstellung bei Kinderwunschpatientinnen recht?
Arzt 1: «Solange die SD-Werte im Normbereich meines Labors liegen, mache ich gar nichts.»
Kasten 1:
Definition der subklinischen Hypothyreose
Wenn das TSH über dem Referenzbereich von 4,x mIU/l liegt, die peripheren Hormone (freies T4) jedoch im Normalbereich liegen, spricht man von einer subklinischen Hypothyreose. Einige Gesellschaften sprechen bereits ab einem TSH von 10 mIU/l, bei noch normalen peripheren Hormonen, von einer «overten Hypothyreose» (American Thyroid Association und Endocrine Society) (18, 19).
Arzt 2: «Bei TSH-Werten über 2,5 mIU/l und unterhalb des Referenzbereichs meines Labors von 4,x mIU/l bei normalen peripheren SD-Hormon- und negativen Antikörperwerten behandle ich die Kinderwunschpatientin mit L-Thyroxin.» Und zu welcher Einschätzung kommen wir am Ende dieser Lektüre?
Historie Dass eine Schilddrüsenerkrankung Auswirkungen auf die reproduktive Funktion haben kann, wurde schon von Carl Adolph von Basedow im 19. Jahrhundert beobachtet (20). Er beschrieb Zyklusstörungen bei seinen Patientinnen mit Exophthalmus. Auch später wurden solche Zusammenhänge beschrieben. So haben Bohnet und Leidenberger in den Achtzigerjahren in einem «Letter to Lancet» über eine Beeinflussung der Lutealphase durch die Schilddrüse berichtet (1). Immer wieder wurde auch eine Assoziation des Syndroms der polyzystischen Ovarien und der Endometriose mit Schilddrüsenerkrankungen postuliert (2, 3). So liegt es nahe, sich in der Abklärung der Sterilität mit der Schilddrüsenfunktion zu beschäftigen.
Fragestellungen
Wie kommt man eigentlich auf einen TSH-Grenzwert von 2,5 mIU/l? Dazu existieren mehrere Quellen (21): I Die National Academy of Clinical Biochemistry
stellt fest, dass 95% der Gesunden einen TSHWert von < 2,5 mIU/l aufweisen. I Der TSH-Referenzbereich im ersten Trimenon liegt bei eben 2,5 mIU/l. I Das 50%-Quantil des von unserem Labor eingesetzten Roche-Elecsys-Tests liegt median bei 1,16 mIU/l und damit ebenfalls unter 2,5 mIU/l. Aufgrund dieser Überlegungen kann man zu dem Schluss kommen, dass Werte > 2,5 mIU/l nicht mehr
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Inserat
Euthyrox Merck
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als normal bezeichnet werden könnten. Die Frage ist aber, ob sich daraus auch eine Behandlungsnotwendigkeit ableitet. In den letzten 10 Jahren wurde diese Frage positiv beantwortet und eine Behandlung ab einem TSH-Wert von 2,5 mIU/l bei Kinderwunschpatientinnen propagiert. In letzter Zeit mehrten sich die kritischen Stimmen (4), und die jüngste Guideline der American Society for Reproductive Medicine (ASRM) von 2015 spricht eine andere Sprache (Kasten 2).
Ist eine subklinische Hypothyreose mit Infertilität assoziiert? Oder anders gefragt: Kann man die Chance auf den Eintritt einer Schwangerschaft erhöhen, indem man eine subklinische Hypothyreose (SCH) behandelt? Die Inzidenz der SCH ist bei infertilen Frauen gleich hoch wie bei gesunden. Die TSH-Level mögen bei Infertilen allenfalls etwas höher sein (5). Die Daten sind jedoch zu insuffizient, um zu belegen, dass eine SCH mit einer Infertilität assoziiert ist. Auch lässt sich keine Assoziation einer Hypothyreose mit niedriger ovarieller Reserve herstellen (6). Daher würde man die Frage eher mit Nein beantworten. Zudem: Wenn schon die SCH keinen negativen Einfluss auf die Fertilität hat, wird die euthyreote Stoffwechsellage mit einem hochnormalen TSH von > 2,5 mIU/l erst recht keine Rolle spielen.
Kann das Schwangerschafts-Outcome durch eine Behandlung einer subklinischen Hypothyreose verbessert werden? Einige Publikationen fanden eine höhere Schwangerschaftsrate und auch eine höhere Lebendgeburtrate nach der Therapie einer SCH. Dies war durch eine niedrigere Abortrate erklärbar (7, 8). Eine retrospektive Analyse von 1231 Frauen vor assistierter Reproduktionstherapie (ART) zeigte die gleichen Schwangerschafts- und Abortraten, unabhängig davon, ob der TSH-Wert höher oder niedriger war (9). Zwei rezente Metaanalysen haben sich des Themas angenommen (10, 11). In Letzterer wurden aus 630 Studien nur 3 mit nur insgesamt 220 Patientinnen ausgewählt, die die Kriterien erfüllten. Ihnen wurde 50 bis 100 µg L-Thyroxin vor ART verabreicht, wenn ihr TSH-Wert > 4 mIU/l betrug. Der mittlere TSHWert betrug vor Behandlung 4,7 mIU/l und nach der Behandlung mit L-Thyroxin nur noch 1,1 mIU/l. Insgesamt zeigt diese Metaanalyse einen positiven Effekt der Behandlung mit Schilddrüsenhormon. Allerdings ist bei der geringen Anzahl an Studien und Patientinnen nur 1 Studie (7) für den Effekt ausschlaggebend. Diese schon erwähnte ägyptische Studie sieht eine Erhöhung der klinischen Schwangerschaftsrate von 10% auf 35% und der Lebendgeburtrate von 3% auf 26%. Es ist anzumerken, dass die
Kasten 2.
TSH-Referenzwerte in der Schwanger-
schaft gemäss ASRM 2015
I im ersten Trimenon: 2,5 mIU/l
I im zweiten Trimenon: 3 mIU/l
I im dritten Trimenon: 3,5 mIU/l
Schwangerschaftsraten ohne Schilddrüsentherapie unglaublich niedrig liegen. Daher ist das Gesamtergebnis dieser Metaanalyse fraglich. Die andere Metaanalyse von Vissenberg und Kollegen zeigt nur für die Behandlung einer overten Hypothyreose einen positiven Effekt (siehe dazu die Vorbemerkung). Insgesamt könnte es sein, dass eine Therapie einer echten SCH mit einem TSH > 4 mit Schilddrüsenhormon ein verbessertes Schwangerschaftsoutcome durch niedrigere Abortraten bewirkt. Eine Therapie eines TSH-Wertes von 2,5 mIU/l bis 4,x mIU/l bringt höchstwahrscheinlich keinen Benefit.
Können Schwangerschaftskomplikationen verringert werden, wenn eine subklinische Hypothyreose (SCH) behandelt wird? Eine SCH ist mit Gestationsdiabetes (GDM), Präeklampsie und intrauterinem Fruchttod (IUFT) assoziiert. Von knapp 25 000 Frauen hatten 2% eine SCH mit einem TSH-Wert > 4,13 mIU/l. Die GDM-Häufigkeit stieg signifikant von 1,9% auf 4,9% im Vergleich der niedrigsten zu den höchsten TSH-Werten (12). In einer anderen Studie wiesen 3,3% von knapp 7000 Frauen eine SCH auf. Auch hier war die Rate an GDM signifikant höher bei SCH. Zudem waren Fälle von IUFT bei Frauen mit SCH signifikant häufiger (13). Eine Präeklampsie war bei SCH signifikant häufiger (14). Aus diesen Daten wird klar, dass eine SCH zu mehr Schwangerschaftskomplikationen führt. Kann nun die Therapie einer SCH diese Schwangerschaftskomplikationen verringern? Eine italienische Arbeitsgruppe hat von 4562 Frauen mit einem mittleren Gestationsalter von 9 Wochen eine Hälfte auf TSH, fT3 und fT4 sowie Schilddrüsenantikörper getestet. Bei der anderen Hälfte wurde die Blutentnahme zwar auch durchgeführt, die Proben wurden aber erst nach der Entbindung analysiert (15). Die Frauen, die wegen einer SCH in der Schwangerschaft behandelt wurden, hatten gegenüber denjenigen, die auch eine SCH hatten, von denen man es aber erst nach der Entbindung wusste und die daher auch nicht behandelt wurden, weniger Schwangerschaftskomplikationen (number needed to treat: 40, 95%-KI: 1,4–2,5). Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass die
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Behandlung einer SCH zu einer Reduktion von Schwangerschaftskomplikationen führt. Dass ein TSH von 2,5 mIU/l bis 4,x mIU/l überhaupt zu mehr Schwangerschaftskomplikationen führt, ist unwahrscheinlich. Eine Behandlung ist daher unnötig.
Wie sieht es mit der neurokognitiven Entwicklung des Kindes aus? Da die maternalen Schilddrüsenhormone für die neurokognitive Entwicklung des Feten essenziell sind und die fetale Schilddrüse erst im zweiten Trimenon beginnt, Schilddrüsenhormone zu produzieren, liegt es nahe, bei einer maternalen Schilddrüsendysfunktion von einer Beeinträchtigung der neuronalen Entwicklung auszugehen. Die oft zitierte Studie von Haddow (16) berichtet über niedrigere IQ-Werte bei Kindern von Müttern, die in der Schwangerschaft eine overte Hypothyreose mit mittleren Werten von 13,2 mIU/l aufwiesen. Die IQWerte der 48 Kinder von den Frauen, die nicht mit L-Thyroxin therapiert wurden, lagen um 7 Punkte niedriger als diejenigen von 128 Kontrollen. Es handelt sich bei diesen hohen TSH-Werten um eine klare Behandlungsindikation. Ein Rückschluss auf die Situation bei einer SCH lässt sich daraus nicht ziehen. Eine grosse europäische randomisierte, klinische Studie mit knapp 22 000 Frauen zeigt keinen Unterscheid beim IQ bei Dreijährigen. Durchschnittlich in der 13. Schwangerschaftswoche (SSW) wurde bei allen Frauen der TSH-Wert bestimmt. Bei der einen Hälfte wurden die Werte offengelegt. Wenn das fT4 < 2,5 Perzentile und/oder das TSH > 97,5 Perzentile lag, wurde mit 150 µg L-Thyroxin gestartet. Die andere Hälfte diente als Kontrollgruppe, bei der die Werte erst nach der Geburt offengelegt wurden (23). Die Limitationen waren, dass die Behandlung erst spät (13. SSW) und nicht schon präkonzeptionell begonnen wurde und dass IQ-Tests im Alter von 3 Jahren weniger aussagekräftig sind. Eine andere Kohortenstudie untersuchte die mentale und psychomotorische Entwicklung von 1761 spanischen Kindern im 2. Lebensjahr. Ein fT4 < 5 Perzentile und eine Schilddrüsenerkrankung in der Anamnese ohne Therapie waren mit niedrigeren mentalen Scores (-3,4 [-6,7 bis -0,2]) und -5,5 [-8,9 bis -2,0]) assoziiert. Das TSH war allerdings nicht mit den mentalen oder psychomotorischen Scores assoziiert (17). Eine ganz aktuelle finnische Kohortenstudie zeigt, dass Mädchen, deren Mütter eine SCH in der frühen Schwangerschaft hatten, im Alter von 8 Jahren schlechter in Mathematik abschnitten (18).
Zusammenfassung Es lässt sich vermuten, dass eine SCH in der Schwangerschaft zu einer verminderten neurointellektuellen Performance führen kann. Eine SCH sollte daher behandelt werden.
Kasten 3:
Zusammenfassung der wichtigsten Statements der ASRM-Guideline von 2015 (22)
I Good evidence: Kein generelles Screening auf Hypothyreose.
I Fair evidence: Eine subklinische Hypothyreose (SCH) mit TSH > 4 mIU/l ist mit einer höheren Abortrate assoziiert.
I Insufficient evidence: Ein TSH-Wert zwischen 2,5 mIU/l und 4 mIU/l sei mit einer höheren Abortrate einhergehend.
I Fair evidence: Eine SCH mit TSH > 4 mIU/l ist mit mehr Schwangerschaftskomplikationen assoziiert.
I Insufficient evidence: Eine SCH mit TSH zwischen 2,5 mIU/l und 4 mIU/l sei mit mehr Schwangerschaftskomplikationen assoziiert.
I Good evidence: Eine overte Hypothyreose ist mit schlechterer Entwicklungsneurologie assoziiert.
I Fair evidence: Eine SCH > 4 mIU/l ist mit schlechterer Entwicklungsneurologie assoziiert.
I No evidence: Eine SCH mit TSH zwischen 2,5 mIU/l und 4 mIU/l sei mit schlechterer Entwicklungsneurologie assoziiert.
Für die Annahme, dass hochnormale TSH-Werte von 2,5 mIU/l bis 4,x mIU/l in der Frühschwangerschaft zu einer intellektuellen Beeinträchtigung der Kinder führen könnte, gibt es keine Belege. Die wichtigsten Statements der American Society of Reproduction Medicine (ASRM) sind in Kasten 3 aufgeführt.
Fazit für die Praxis
Screening? Ein generelles Screening auf Hypothyreose ist nicht zu empfehlen, dafür aber die Bestimmung von TSH und TPO-Antikörper in der Kinderwunschsprechstunde entsprechend einer Case-Finding-Strategie. Nach Empfehlungen der amerikanischen Endokrinologie-Gesellschaft gibt es verschiedene Patientengruppen, die für eine Case-Finding-Strategie qualifizieren. Unter diesen sind zwei Gruppen für die Reproduktionsmedizin relevant: Frauen mit Kinderwunsch und Frauen über 30 Jahre.
Wie vorgehen? I Bei overter Hypothyreose: L-Thyroxin I Bei TSH > 2,5 mIU/l mit AK+: L-Thyroxin I Bei SCH (TSH > 4,2 mIU/l) mit AK-: L-Thyroxin I Bei Euthyreose mit AK+: Tendenz zu L-Thyroxin I Bei SCH zwischen 2,5 mIU/l und 4,2 mIU/l mit AK-:
kein L-Thyroxin.
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Es gibt gute Gründe, bei einem TSH-Wert oberhalb
des Referenzbereiches von 4,x mIU/l oder bei erhöh-
tem TPO-AK zu therapieren. Die Behandlung eines
hochnormalen TSH > 2,5 mIU/l und < 4,x mIU/l ist mit
hoher Wahrscheinlichkeit nicht notwendig.
Diese neue Einschätzung führt dazu, dass weniger
unserer Kinderwunschpatientinnen als «krank» be-
zeichnet werden.
I
Prof. Dr. med. Jürgen M. Weiss Leiter Gynäkologische Endokrinologie und Kinderwunschzentrum Neue Frauenklinik Luzerner Kantonsspital 6000 Luzern 16 E-Mail: juergen.weiss@luks.ch
Quellen: 1. Lancet.
Interessenkonflikte: keine.
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