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«Ja zu einer zeitgemässen Fortpflanzungsmedizin!»
Stellungnahme der SGRM und der SGGG zur Abstimmung am 14. Juni 2015
Am 14. Juni 2015 wird über die Änderung des Artikels 119 der Bundesverfassung (BV) abgestimmt. Die Annahme dieser Änderung ist nicht nur für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) unabdingbar, sondern schafft ganz grundsätzlich den gesetzlichen Rahmen für die Durchführung einer zeitgemässen Reproduktionsmedizin. Letztere wird nicht nur eine effizientere Behandlung ermöglichen, sondern auch Komplikationen für Mutter und Kind vermeiden helfen.
CHRISTIAN DE GEYTER1, BRUNO IMTHURN2
In der Schweiz wird die assistierte Reproduktionsmedizin seit dem 1. Januar 2001 durch das sogenannte Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) geregelt, das Ende der Neunzigerjahre als Reaktion auf eine Verbotsinitiative (Initiative für eine menschenwürdige Fortpflanzungsmedizin) verfasst und verabschiedet wurde. Die Verbotsinitiative entstand seinerzeit als Reaktion auf einen bundesgerichtlichen Entscheid zur Aufhebung des Verbots der assistierten Reproduktionsmedizin in den Kantonen Basel-Stadt und St. Gallen 1994. In der Folge wurde das FMedG als eines der restriktivsten Gesetze in Europa konzipiert. So sind die Kryokonservierung von Embryonen und die Präimplantationsdiagnostik (PID) explizit verboten (1).
wurde die maximale Anzahl übertragener Embryonen von drei durch die Übertragung von zwei Embryonen pro Behandlung unterboten. FIVNAT-CH, das nationale Register der Schweizer Kinderwunschzentren, hat durch eine umfassende Erfassung der Behandlungsdaten und deren Übermittlung an das Bundesamt für Statistik für eine maximale Transparenz bei der Durchführung ihrer Tätigkeit gesorgt (2, 3). Trotz der restriktiven Rahmenbedingungen konnten die Kinderwunschzentren die Effizienz der angewandten Behandlungen – auch im internationalen Vergleich – erhalten. Der Anteil der nach assistierter Reproduktionsmedizin entstandenen Neugeborenen steigt nahezu stetig und beträgt derzeit etwa 2,5% der Neugeborenen (Abbildung 1).
Derzeitige Situation der Reproduktionsmedizin
Die in der Schweiz tätigen Institutionen haben seinerzeit die therapeutischen Abläufe umgestellt und an die gesetzlichen Bedingungen angepasst. Um unnötige Wiederholungen der aufwendigen und belastenden hormonellen Stimulationsbehandlungen zu vermeiden, werden, wenn mehr als drei Eizellen befruchtet wurden, anstelle von Embryonen Eizellen im Vorkernstadium (im Gesetz: «imprägnierte Eizellen») kryokonserviert. Die gesetzlich festgelegte Aufbewahrungsfrist von maximal fünf Jahren wird dabei strikt eingehalten. Dem internationalen Trend folgend
1 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (SGRM)
2 Präsident des Wissenschaftlichen Beirats der SGGG Gynécologie Suisse
Passagen des FMedG noch zeitgemäss? Aufgrund der Weiterentwicklung der international anerkannten Behandlungsstandards wirken sich einige Passagen des FMedG zunehmend ungünstig aus. Während im internationalen Umfeld häufig nur noch ein Embryo (elective single embryo transfer, eSET) übertragen wird, müssen hierzulande weiterhin alle innerhalb einer Behandlung entstandenen Embryonen übertragen werden (maximal 3). Die eSET-Methode beinhaltet, dass aus einer Kohorte von mehreren Embryonen ein Embryo als ein entwicklungsfähiger Embryo identifiziert werden kann. Die anderen Embryonen können dann für spätere Behandlungen kryokonserviert werden. Im Stadium vor der Verschmelzung der Vorkerne gibt es keine zuverlässige Beurteilung der Entwicklungsfähigkeit, sodass mindestens zwei Eizellen in der Kultur belassen werden müssen, um der Patientin eine realistische
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Chance auf eine Schwangerschaft zu ermöglichen. Falls sich dann zwei Embryonen entwickeln, müssen diese laut Gesetz übertragen werden. Aufgrund der zunehmenden Behandlungszahlen und der verbesserten Behandlungsmöglichkeiten trägt die assistierte Reproduktionstechnologie (ART) deshalb immer mehr zu den Mehrlingsgeburten bei (ca. 20%) (2). Heute werden im internationalen Umfeld Mehrlingsgeburten nach ART als eine vermeidbare Komplikation betrachtet (4). Die European Society for Human Reproduction and Embryology (ESHRE) empfiehlt eine Mehrlingsgeburtenrate von höchstens 9% als ein wichtiges und erreichbares Ziel (4). Eine weitere Folge des Verbotes der Kryokonservierung von Embryonen und der damit einhergehenden Kryokonservierung von Eizellen im Vorkernstadium ist die oft hohe Anzahl der notwendigen Therapieversuche bis zum Erfolg.
Ungünstige Auswirkungen des bisherigen Fortpflanzungsmedizingesetzes
Seit der Verabschiedung des FMedG wurden die Kulturbedingungen für Embryonen erheblich verbessert. Anders als damals können heute Embryonen über einen Zeitraum von 5 oder 6 Tagen bis in das Blastozystenstadium (das Entwicklungsstadium unmittelbar vor der Einnistung in das Endometrium) kultiviert werden. In diesem Stadium kann unter dem Mikroskop unmittelbar erkannt werden, welche Embryonen tatsächlich entwicklungsfähig sind. Nur jene, die entwicklungsfähig sind, werden übertragen oder kryokonserviert. Auch die Technik der Kryokonservierung von Embryonen wurde in den letzten Jahren optimiert, da durch die inzwischen etablierte Methode der Vitrifikation die Vitalität der Embryonen kaum beeinträchtigt wird. Bei einzelnen infertilen Paaren sind viele der durch ART entstandenen Embryonen entwicklungsfähig, bei anderen jedoch nicht. Unmittelbar nach der Gewinnung der Eizellen und nach der Bildung der Vorkerne ist die Entwicklungsfähigkeit der Eizellen kaum beurteilbar, sodass aufgrund des Verbots der Kryokonservierung von Embryonen viel mehr Eizellen im Vorkernstadium kryokonserviert und später aufgetaut werden müssen. Aufgrund dessen sind oftmals viel mehr Behandlungszyklen notwendig, bis es zur Schwangerschaft kommt oder bis erkannt wird, dass eine Therapie erfolglos ist. Die ungewollte Kinderlosigkeit und deren Behandlung stellt für jede betroffene Frau und für jeden betroffenen Mann eine schwere emotionale, körperliche und auch finanzielle Belastung da. Heute werden in vielen Staaten und Institutionen die Behandlungsergebnisse gesammelt, ausgewertet und veröffentlicht und stehen somit auch den Betroffenen zur Verfügung. Auch wenn die kumulativen Ergebnisse pro Paar in der Schweiz mit jenen im internationalen Ver-
Abbildung 1: Der Anteil (in %) der neugeborenen Kinder nach assistierter Reproduktionsmedizin im Verhältnis zur Gesamtanzahl der Neugeborenen in jedem Land Europas wird jedes Jahr von einer Kommission der ESHRE (EIM, European IVF-Monitoring) berechnet und veröffentlicht (7). In fast allen Staaten Europas wie auch in der Schweiz steigt dieser Anteil nahezu kontinuierlich.
Abbildung 2: Das Bundesamt für Statistik BfS veröffentlicht jedes Jahr einen Überblick über das Alter der Frauen zum Zeitpunkt der Geburt. Hierbei stieg ab Ende der Neunzigerjahre der Anteil von Frauen, die ab dem 45. Lebensjahr ein Kind gebaren. Dieser plötzlicher Anstieg kann durch die Inanspruchnahme von Behandlungen mit der Eizellenspende in ausländischen Zentren erklärt werden. 2012 waren 338 Frauen älter als 45 Jahre. gleich vergleichbar sind, stellen die aufgrund der restriktiven gesetzlichen Voraussetzungen vielfachen Wiederholungen von frustranen Therapieversuchen für viele Paare einen Grund für eine Behandlung in einem ausländischen Behandlungszentrum dar. Ein weiterer Grund für einen regen Fortpflanzungsmedizintourismus in andere Länder ist das Verbot der PID sowie der Eizellenspende. (Abbildung 2) Hilfen für betroffene Paare durch die PID Die PID wurde bereits 1989 als eine wirksame Behandlungsmethode beschrieben und ist ausserhalb der Schweiz fast überall eine gängige und akzeptierte Technologie.
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Für die Verhinderung der Übertragung von Erbkrankheiten erlaubt das FMedG im Rahmen der ART lediglich die Polkörperdiagnostik (5) sowie die Sortierung von Samenzellen mittels Durchflusszytometrie (6). Analog zur bekannten Pränataldiagnostik werden für die PID am 5. Tag nach der Befruchtung aus einem Embryo mehrere Zellen entnommen und diese mit molekulargenetischen Methoden auf das Vorhandensein einer bestimmten genetischen Veranlagung untersucht. Anschliessend wird nur jener Embryo übertragen, welcher von diesem Erbleiden nicht befallen ist. Die PID hilft somit Paaren mit einem genetisch bestimmbaren Erbleiden, nicht nur ein Kind ohne dieses Erbleiden zu bekommen, sondern auch einen allfälligen Schwangerschaftsabbruch zu vermeiden. Der alltägliche Umgang mit Paaren, die für eine PID infrage kommen, belegt die erhebliche emotionale und gesundheitliche Belastung im Umgang mit einem Kind mit einer genetischen Behinderung. Die Verzweiflung angesichts des Risikos für ein weiteres Kind mit der gleichen genetischen Erkrankung und die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch stellen für betroffene Paare extreme Belastungen dar. Nicht selten müssen diese Paare sogar mehrfach einen Schwangerschaftsabbruch erleiden. Die wiederholte Traumatisierung der Gebärmutter kann zudem eine uterinbedingte Sterilität verursachen. Aufgrund des im FMedG explizit festgehaltenen Verbots der PID finden viele Paare den Weg in ein ausländisches Zentrum. Der Aufenthalt in einem fremden Land, oft zeitlich begrenzt und geprägt von
sprachlich bedingten Kompromissen bei der Beratung und Aufklärung, erhöht die Belastung der Betroffenen massiv.
Entstehungsgeschichte der jetzigen Gesetzesvorlage
Die jetzt zur Volksabstimmung anstehende Änderung des Artikels 119c BV ist das Resultat einer Motion zur Zulassung der PID, die vom jetzigen Ständerat Felix Gutzwiller eingereicht und vom Parlament am 2. September 2004 angenommen wurde (Tabelle). Im Zuge der Beratungen und der Vernehmlassungen wurde festgestellt, dass eine wirksame PID nicht ohne Anpassung des Artikels 119c BV möglich ist, die festhält, dass «nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden dürfen, als ihr sofort eingepflanzt werden können». Diese Zahl ist im FMedG auf maximal 3 Embryonen begrenzt. Zunächst wurde vom Bundesrat in einem ersten Gesetzesvorschlag diese Anzahl für eine PID auf 8 erhöht. Da diese Anzahl von allen Fachexperten als unzweckmässig und willkürlich beurteilt wurde, wurde im Parlament ein neuer Vorschlag ausgearbeitet. Obwohl die Motion ursprünglich nur die Einführung der PID vorsah, wurde im Parlament am 13. Dezember 2014 mehrheitlich eine umfassende Änderung des FMedG angenommen. Nicht nur die PID bei schweren, nicht heilbaren und familiär bekannten Erbkrankheiten wird zugelassen, sondern auch die Bestimmung des Chromosomensatzes von Embryonen bei Sterilitätsbehandlungen, die Kryokonservierung von Embryonen und die Verlängerung der
Tabelle: Beratungen und Abstimmungen Zulassung Motion zur PID Annahme der Motion zur PID durch den NR, resp. durch den SR Eröffnung der 1. Vernehmlassung durch den Bundesrat Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten Vernehmlassung Eröffnung der 2. Vernehmlassung durch den Bundesrat Veröffentlichung der Ergebnisse der 2. Vernehmlassung zum Art. 119 BV und zum FMedG Beratungen WBK-SR
Beratungen im SR Beratungen WBK-NR
Beratung NR, sowie WBK-SR Beratung SR Schlussabstimmung im Parlament Volksabstimmung zum Art. 199 BV
NR= Nationalrat; SR= Ständerat; WBK= Kommissionen für Wissenschaft, Bildung, Kultur
Datum 2. September 2004 16. Juni 2005 resp. 13. Dezember 2005 18. Februar 2009 26. Mai 2010 29. Juni 2011 27. Juni 2012
Ab 15. August 2013 27. und 28. Januar 2014 4. bis 22. März 2014 27. März 2014 15. Mai 2014 Anfang Juni 2014 8. September 2014 12. Dezember 2014 14. Juni 2015
Seit der Zulassung der vom jetzigen Ständerat Felix Gutzwiller eingereichten Motion zur Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) am 2. September 2004 sind über 10 Jahre vergangen. Der ursprüngliche Vorschlag des Bundesrats, der eine Beschränkung der PID auf maximal 8 zu Embryonen kultivierbare Eizellen im Vorkernstadium vorsah, wurde von allen Fachdisziplinen als unzweckmässig und willkürlich kritisiert. Daraufhin wurde ein zweiter Vorschlag eingereicht, der zuerst im Ständerat, später im Nationalrat umfassend überarbeitet wurde. Nach mehrfachen, zum Teil umstrittenen Beratungen in beiden Kammern des Parlaments wurde schliesslich am 12. Dezember 2014 ein Kompromissvorschlag mehrheitlich angenommen.
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Aufbewahrungsdauer auf 10 Jahre. Die genetische Untersuchung von Embryonen entspricht dem schon lange allgemein akzeptierten und etablierten Vorgehen in der Pränataldiagnostik. Für diese umfassende gesetzliche Regelung wurde folgende Formulierung des Artikels 119c BV vorgenommen: «… es dürfen nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau entwickelt werden, als für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig sind.» Diese Anzahl der zu Embryonen kultivierbaren Eizellen im Vorkernstadium wurde auf maximal 12 festgelegt. Wenn mehr als 12 Eizellen im Vorkernstadium entstehen könnten, muss ein Teil davon im Vorkernstadium kryokonserviert werden.
Fazit
Über die Änderung vom Artikel 119c BV wird am
14. Juni 2015 abgestimmt. Sie wird in einer weiteren
legislativen Etappe nicht nur die Zulassung der PID,
sondern auch eine umfassende Modernisierung der
assistierten Reproduktionsmedizin zugunsten unse-
rer Kinderwunschpaare in der Schweiz ermöglichen.
Die geplanten Änderungen im Artikel 119c BV und
des FMedG wurden sowohl vom Bundesrat als auch
von der Parlamentsmehrheit befürwortet. Alle betei-
ligten medizinischen Disziplinen wie die Reproduk-
tionsmedizin, die Medizingenetik, die Neonatologie
und die Geburtshilfe sind sich einig, dass die
vorgesehenen Gesetzesänderungen überfällig und
dringend erforderlich sind.
I
Prof. Dr. med. Christian De Geyter Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Universitätsfrauenklinik Basel 4031 Basel E-Mail: christian.degeyter@usb.ch
Prof. Dr. med. Bruno Imthurn Klinik für Reproduktions-Endokrinologie UniversitätsSpital Zürich 8091 Zürich E-Mail: bruno.imthurn@usz.ch
Quellen: 1. Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft: Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG). Schweizerische Eidgenossenschaft 1998/2006; SR 810.11: 1–14. 2. Van den Bergh M, Hohl MK, De Geyter C, Stahlberg A, Limoni C.: Ten years of Swiss IVF data. Are we making progress? Reprod Biomed Online. 2005; 11: 632–40. 3. De Geyter C, Fehr P, Moffat R, Gruber IM, von Wolff M.: Assisted reproductive medicine: outcomes, key trends and recommendations. Swiss Med Wkly. 2015; 145: w14087. 4. ESHRE Campus Course Report: Prevention of twin pregnancies after IVF/ICSI by single embryo transfer. Hum Reprod. 2001; 16: 790–800. 5. Imthurn B, Achermann J, Klug Arter M, Macas E.: Preimplantation diagnosis in Switzerland – birth of a healthy child after polar body biopsy. Swiss Med Wkly. 2004; 134: 254–58. 6. De Geyter C, Sterthaus O, Miny P, Wenzel F, Lapaire O, De Geyter M, Sartorius G.: First successful pregnancy in Switzerland after prospective sex determination of the embryo through the separation of X-chromosome bearing spermatozoa. Swiss Med Wkly. 2013; 143: w13718. 7. Kupka MS, Ferraretti AP, de Mouzon J, Erb K, D’Hooghe T, Castilla JA, CalhazJorge C, De Geyter C, Goossens V; European IVF-monitoring (EIM); Consortium for the European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE): Assisted reproductive technology in Europe, 2010: results generated from European registers by ESHRE. Hum Reprod. 2014; 29: 2099–113.
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