Transkript
Im Brennpunkt
Prof. Thürlimann zum Mammografiescreening:
«Wir führen in der Schweiz eine Scheindebatte»
In Replik auf die neuere Empfehlung des Swiss Medical Boards, das flächendeckende Screeningprogramm in der Schweiz nicht einzuführen und bestehende Programme abzuschaffen, formulierte Prof. Beat Thürlimann, Leiter des Brustzentrums St. Gallen, sein Statement hierzu vor Gynäkologinnen und Gynäkologen auf dem Women’s Health Congress 2015 in Bern. Er plädiert vehement für das qualitätskontrollierte Screeningprogramm.
BÄRBEL HIRRLE
Das Swiss Medical Board (SMB) unterzog das systematische Mammografiescreening einer KostenNutzen-Evaluation und sprach sich im Februar 2014 gegen die flächendeckende Einführung der Screeningprogramme in der Schweiz aus (siehe Kasten). Was jahrelang von der Krebsliga Schweiz und zahlreichen, vor allem leitenden onkologisch tätigen Ärzten mit Vehemenz gefordert war/wird und mit kantonalen Gesundheitsbehörden ausgefochten wurde, wurde vom SMB plötzlich infrage gestellt. In der Folge entstand eine breite Verunsicherung bei der Ärzteschaft und den Frauen, für die im Alter zwischen
Kasten:
Das Swiss Medical Board und ...
Das Swiss Medical Board (SMB), ein Gremium aus Vertretern der Medizin, der Ethik, der Gesundheitsökonomie und des Rechts, geht der Frage nach dem Mehrwert einer modernen Behandlungsform gegenüber einer anderen nach, dies unter Betrachtung der Kosten-Wirksamkeits-Relation. In einer Gesamtwürdigung werden medizinische, ökonomische, ethische und rechtliche Aspekte einbezogen.
... die Evaluation des systematischen Mammografiescreenings
Das SMB ging in einer Untersuchung zum systematischen Mammografiescreening der Frage nach, ob (inwiefern) die systematische Mammografie die vom Krankenversicherungsgesetz vorgegebenen Kriterien der Wirksamkeit, der Zweckmässigkeit und der Wirtschaftlichkeit erfüllt. In seinem Bericht rät es vom systematischen Screening ab und empfiehlt stattdessen die gründliche ärztliche Abklärung und für die Frauen eine verständliche Aufklärung mit Darstellung der erwünschten und unerwünschten Wirkungen vor dem Entscheid zur Teilnahme am Programm. Die Trägerschaft des SMB regt zu einer Fachdiskussion im Rahmen dieses PostPublication-Reviews an. hir
Weitere Informationen: http://www.medical-board.ch Quelle: Medienmitteilung von 2.2.2014.
50 und 70 Jahren das systematische Screeningprogramm in vielen Kantonen* verfügbar oder neu vorgesehen ist. Die Verunsicherung und die Kontroverse erreichten darüber hinaus weite Teile der Öffentlichkeit, einschliesslich die Gesundheitspolitiker.
Es geht darum, welches Screening wir brauchen
«Wir führen hier eine Scheindebatte, denn das Mammografiescreening ist längst Realität innerhalb und ausserhalb von qualitätskontrollierten Programmen, und zwar in sehr breitem Masse», argumentierte Prof. Thürlimann. Über 50% der Frauen im Alter von 70 bis 79 Jahren und über 35% der über 80-jährigen Frauen seien heute in der Schweiz schon auf Brustkrebs gescreent worden, allerdings in der Mehrheit ausserhalb organisierter Programme. Vielmehr gehe es doch um die Frage, welches Screening sinnvoll sei – das organisierte Screening oder das «wilde», also opportunistische (diagnostische) Screening auf Verordnung des/der konsultierten Arztes/Ärztin. Verfechter des organisierten Mammografiescreenings sehen dessen Vorteile darin, dass alle Frauen der betreffenden Altersgruppe alle zwei Jahre für eine Mammografie eingeladen werden, sodass die breite Bevölkerung erreicht wird. Der Qualitätsstandard lässt sich nur mittels systematischer Datenerhebung sichern; eine Qualitätskontrolle wird möglich.
* Heute bestehen Mammografieprogramme in den Kantonen Bern, Basel-Stadt, Freiburg, Genf, Graubünden, Jura (inkl. Berner Jura), Neuenburg, St. Gallen, Tessin, Thurgau, Waadt und Wallis. In allen anderen Kantonen erfolgt die Durchführung einer Mammografie in Absprache mit der Ärztin oder dem Arzt. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten der Früherkennungsmammografie im Rahmen eines kantonalen Programms oder bei einem familiär erhöhten Brustkrebsrisiko.
GYNÄKOLOGIE 1/2015
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Im Brennpunkt
«Der Qualitätsstandard lässt sich nur mittels systematischer
Datenerhebung sichern.»
Beim opportunistischen (= diagnostischen, «wilden») Screening sind die Rahmenbedingungen anders, denn die Früherkennung erfolgt fallweise und unterliegt keinen Kriterien, die eine ausreichende Steuerung der Qualität erlauben.
Chancengleichheit muss ein Ziel sein
Beat Thürlimann zeigte einige Fakten auf: In Kantonen mit organisiertem Screening werden auch wenig gesundheitsbewusste Frauen (meist aus unteren Bildungsschichten) eingeschlossen, und somit wird eine grosse Chancengleichheit erreicht. In Kantonen ohne Screeningprogramm würden gerade diese weniger gesundheitsbewussten Frauen einen hohen «Blutzoll» infolge typischerweise späterer Diagnose («patient delay») zahlen. Das zeigten die Erhebungen zur Inzidenz und Mortalität von Brustkrebs sehr deutlich: Während Genf, welches das Screeningsprogramm bereits 1999 eingeführt hat, die niedrigste Inzidenz fortgeschrittener Mammakarzinome mit entsprechend höherer Sterberate in der Schweiz aufweist, liegen diese Zahlen in Kantonen ohne Programm markant höher – Schlusslicht ist Graubünden (wo das Programm inzwischen, aber erst Mitte des Jahres 2011 eingeführt wurde). Die Brustkrebsmortalitätskurve zeigt seit Jahren im ganzen Land nach unten. in der Westschweiz aber steiler. «Die Qualitätskontrolle des Mammografiescreenings kann dazu beitragen, den Unterschied einzuebnen und die Chancengleichheit für alle Frauen herzustellen», stellte Thürlimann fest.
300 vorzeitige Todesfälle zu verhindern! Thürlimann wies darauf hin, dass Tumoren im Frühstadium (T1Tumoren) meist heilbar seien.
«Das Mammografiescreening hat das Potenzial, jedes Jahr 100 bis 300 vorzeitige brustkrebsbedingte
Todesfälle zu verhindern!»
Diskussion um Überdiagnostik und Übertherapie
Wie schwer wiegen sogenannte abklärungsbedürftige Befunde, also falschpositive Resultate, wirklich? Überdiagnose (falscher Alarm) und Übertherapie (Sicherheitstherapie) seien ein Teil unserer heutigen Medizin, so der Onkologe, und tatsächlich käme es im organisierten Screening bei zirka 10% zur Überdiagnose, also zu Befunden, die letztlich nicht maligne oder behandlungsbedürftig seien. Wenn aber ein abzuklärender Verdacht vorliegt, ist es die ärztliche Aufgabe, diagnostisch und gegebenenfalls therapeutisch weiterzugehen. Beat Thürlimann vermutet, dass die aktuelle Kontroverse der Compliance in den Kantonen, die das systematische Mammografieprogramm eingeführt haben, schadet. Gleichzeitig werde das «wilde» (opportunistische) Screening möglicherweise häufiger, vielleicht auch unterstützt durch finanzielle Anreize für den Diagnostiker. Das systematische Screening sei effizient und gesundheitspolitisch kostengünstig (ca. 100 Franken pro Messung und etwa 10 Franken für den Radiologen); die opportunistische Screeningmammografie schlage mit 354 Franken zu Buche, zitierte Thürlimann eigene Berechnungen. «Das wilde Screening sollte nicht attraktiv werden.»
Mehr als 10% der vorzeitigen Todesfälle sind verhinderbar
«Wir sind ein Land mit hoher Inzidenz und Mortalität von Brustkrebs: Alle 6 Stunden stirbt in der Schweiz eine Frau an Brustkrebs!», zitierte der Onkologe
«Wir sind ein Land mit hoher Inzidenz und Mortalität von Brustkrebs:
Alle 6 Stunden stirbt in der Schweiz eine Frau an Brustkrebs!»
neuere Erhebungen. Er erinnerte daran, dass anders als bei den meisten häufig vorkommenden Malignomen Brustkrebs bereits in vergleichbar jungen Jahren tödlich sei. «Die meisten produktiven Lebensjahre der Frau werden durch Brustkrebs zerstört.» Die organisierte Früherkennung hat das Potenzial, von den jährlich 1400 an Brustkrebs Sterbenden 100 bis
«Das wilde Screening sollte nicht attraktiv werden.»
Der Onkologe plädiert für die Weiterentwicklung des
flächendeckenden und qualitätskontrollierten Mam-
mografiescreeningprogramms, damit die Teilneh-
merinnen den grösstmöglichen Nutzen daraus zie-
hen können.
I
hir
Ich bedanke mich bei Prof. Thürlimann für die freundliche Durchsicht.
Quelle:
Vortrag: Prof. Dr. Beat Thürlimann: Mammografie-Screening – ein diagnostischer Overkill? Anlässlich des 11. Women’s Health Congress, Bern, 15. Januar 2015.
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