Transkript
Neue Therapien
Neurogene und überaktive Harnblase
«Ich hatte schon lange die Idee, dass Botox auf den Blasenmuskel wirkt»
Anlässlich des 20. Jahrestages der Erstzulassung von Botulinumtoxin A (Botox®) in der Schweiz* (1994 zur Behandlung des Blepharo- und hemifazialen Spasmus) wurden klinische Erfahrungen auch im Therapiebereich Blasenfunktionsstörungen (Zulassungen 2012/13) im Rahmen eines von Allergan Schweiz veranstalteten Medienevents ausgetauscht.
Das Medikament enthält geringe Mengen des aufbereiteten Proteins Botulinumtoxin Typ A, welches aus dem Bakterium Clostridium botulinum gewonnen wird. Schon seit den Fünfzigerjahren ist bekannt, dass Botulinumtoxin die Ausschüttung des Neurotransmitters Acetylcholin in den synaptischen Spalt blockiert. Entsprechend wurde die Substanz eingesetzt, um überaktive Muskeln zu entspannen, beispielsweise bei Spastizität und Dystonie. Beim klinischen Einsatz wurde beobachtet, dass die Injektion des Wirkstoffs bei einigen Patienten auch Schmerzen (z.B. Migräne) linderte, dies häufig bereits vor Beginn der muskelrelaxierenden Wirkung. In wissen-
schaftlichen Untersuchungen zeigte sich dann, dass das Botulinumtoxin auch die Freisetzung weiterer kalziumgesteuerter Neurotransmitter beeinflusst und somit nicht nur auf motorische, sondern auch auf sensorische Prozesse wirkt.
Einsatz in der Urologie und Urogynäkologie
In der Folge wurden neue Behandlungsfelder erschlossen, darunter die Linderung der Drangsymptomatik bei überaktiver Blase. Im Jahr 2012 erhielt Botox® die Zulassung bei neurogener Detrusoraktivität (neurogener Harnblase) infolge Querschnittslähmung (stabiler subzervikaler Rückenmarksverletzung) oder Mul-
tipler Sklerose (mit Kostenübernahme
durch die Krankenkasse). 2013 erfolgte
die Marktzulassung bei der idiopathi-
schen überaktiven Blase (OAB) nach Aus-
schöpfung konservativer Therapien.
2015 wird die Kostenerstattung durch die
Krankenkassen auch bei dieser Indika-
tion erwartet.
GYNÄKOLOGIE befragte Prof. Brigitte
Schürch, Neuro-Urologin am CHUV Lau-
sanne, welche massgeblich in der Thera-
pieentwicklung von Botox® in klinischen
Studien bei neurogener Detrusorhyper-
aktivität bei querschnittsgelähmten und
MS-Patienten sowie idiopathischer über-
aktiver Blase (OAB) beteiligt war, zu wis-
senschaftlichen Hintergründen.
I
Bärbel Hirrle
Quelle: Medienevent «The multiple faces of Botox® – from neurology to urology» von Allergan AG Switzerland. Bern, 6.11.2014.
Interessenkonflikte: Allergan AG, Zürich.
GYNÄKOLOGIE: Frau Prof. Schürch, wie kam es zur Untersuchung der Wirksamkeit von Botulinumtoxin A bei neurogener Detrusorhyperaktivität («neurogener Blase»)? Prof. Brigitte Schürch: Durch intensives Literaturstudium hatte ich schon lange die Idee, dass Botox auch in glatter Muskulatur, vor allem auf den Blasenmuskel, wirkt. Eine Pilotstudie erfolgte 1997 bis 2000 bei 21 querschnittsgelähmten Patienten mit neurogener Blase. Die Nachverfolgung über 9 Monate zeigte, dass alle Patienten kontinent waren, der Detrusordruck sich gesenkt hatte und somit neue Lebensqualität und vor allem auch der Nierenschutz gewonnen waren.
Was ergaben weitere Studien bei dieser Indikation? 2005 wurde eine randomisierte, plazebokontrollierte Vergleichsstudie publiziert mit 52 querschnittsgelähmten respektive MS-Patienten mit Harninkontinenz infolge neurogener Detrusorhyperaktivität. Die 24-Wochen-Studie ergab eine signifikante Besserung mit Minderung der Inkontinenz bei 70% der Betroffenen. Schliesslich folgten 2011 zwei randomisierte, doppelblinde, plazebokontrollierte Phase-III-
Prof. Brigitte Schürch, Unité Neuro-urologie; Hôpital Nestlé CHUV, Lausanne
Studien bei 691 Patienten mit oral vorbehandelter Harninkontinenz aufgrund von neurogener Blase im gleichen Protokoll (Dosis 200 oder 300 Einheiten): Es resultierten signifikante Therapieerfolge, welche zur Zulassung des Medikaments und Kostenerstattung bei dieser Indikation** führten.
Sie untersuchten ferner Patienten mit der Diagnose «idiopathische OAB». Dies waren vermutlich überwiegend Frauen. Welche Studien liefen dazu? 2006 wurde eine Serie von 100 Fällen, mehrheitlich waren es Frauen mit dieser Indikation, mit Botox 100 Einheiten therapiert: Es zeigte sich eine Verringerung der Inkontinenz und des Harndrangs um zirka 80%. Zwei doppelblinde, plazebokontrollierte, randomisierte, multizentrische Phase-III-Studien über 24 Wochen wurden
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Neue Therapien
daraufhin bei 1105 PatientInnen mit vorbehandelter OAB durchgeführt und 2011/12 publiziert: Die PatientInnen, deren Symptome durch Anticholinergika zuvor nicht zufriedenstellend kontrolliert werden konnten oder die inakzeptable Nebenwirkungen hatten, erlebten nach der Botox-Injektion in den Blasenmuskel signifikante Verbesserungen der Symptomatik und der Inkontinenz. Daraufhin folgte 2013 die Swissmedic-Zulassung auch bei dieser Indikation***.
Welche Nebenwirkungen haben Sie hauptsächlich unter der Therapie mit Botox beobachtet? Mögliche Nebenwirkungen sind ein erhöhtes Restharnvolumen und Harnweginfekte. Die Erhöhung des Restharns ist dosisabhängig, transient und tritt normalerweise nur im ersten Monat nach dem Eingriff auf. Unsere eigenen Daten bei Patienten, denen 100 Einheiten Botox verabreicht wurden, zeigten einen relevanten Harnverhalt bei 4 von 100 Patien-
ten. Das Risiko einer Harnweginfektion ist vergleichbar dem anderer zystoskopischer Eingriffe.
Es handelt sich ja um eine Injektion in den Blasen-(Detrusor-)Muskel. Wie bewerten Sie die Anwendung von Botox in der gynäkologischen Praxis? Nun, es ist die Zweitlinientherapie, alle oralen Therapien sollten vorher ausgeschöpft sein. Bei guter urologischer/ urogynäkologischer Schulung des Anwenders dauert das Therapieprozedere einschliesslich der Anästhesie und Kontrollphase zirka 1,5 Stunden. Sie sollte aber dem Experten vorbehalten sein, und eine urodynamische Abklärung sollte erfolgt sein. Eine klinische Verbesserung der Symptomatik tritt dann innerhalb von 2 Wochen auf.
Frau Prof. Schürch, herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview: Bärbel Hirrle
*In der Schweiz ist Botox® für 8 Indikationen zugelassen: I Blasenfunktionsstörungen:
– **Harninkontinenz bei Erwachsenen mit neurogener Detrusorhyperaktivität bei neurogener Blase infolge einer stabilen subzervikalen Rückenmarksverletzung oder Multipler Sklerose.
– ***idiopathisch überaktive Blase (OAB; «Reizblase») mit den Symptomen Harninkontinenz, imperativer Harndrang und Pollakisurie bei erwachsenen PatientInnen, die auf Anticholinergika nur unzureichend angesprochen oder diese nicht vertragen haben.
I Übermässiges Schwitzen: – starke, fortbestehende primäre Hyperhidrosis axillaris, die störende Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens hat und mit einer topischen Behandlung nicht ausreichend kontrolliert werden kann.
I Spastiken: – hemifazialer Spasmus und koexistierende fokale Dystonien – fokale Spastizität in Zusammenhang mit dynamischer Spitzfussstellung infolge von Spastizität bei gehfähigen Patienten mit infantiler Zerebralparese, die 2 Jahre oder älter sind – fokale Spastizität einschliesslich der oberen Extremitäten bei erwachsenen Schlaganfallpatienten.
I Dystonien: – zervikale Dystonie (Torticollis spasmodicus) – Blepharospasmus.
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