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Die Zertifizierung von Brustzentren in der Schweiz
Trend oder Paradigmawechsel?
Die hohe Inzidenz von Brustkrebs und die mittlerweile komplexe Behandlung verlangen eine stark interdisziplinär geprägte Versorgung, zudem wird von den Spitälern verlangt, gemessene Behandlungsqualität zu dokumentieren. Der Artikel zeigt die Bedeutung der Zentrumsbildung und Qualitätssicherung auf und gibt einen Überblick über die Zertifizierungsmöglichkeiten und deren Anforderungen für ein Brustzentrum in der Schweiz.
SUSANNE BUCHER
Im Hinblick auf die hohe Inzidenz (vgl. Kasten 1) von Brustkrebs und der mittlerweile komplexen Behandlung ist eine stark interdisziplinär geprägte Versorgung wichtig. Zudem sind die Spitäler zunehmend vom Gesetzgeber gefordert, ihre Behandlungsqualität in Form von messbaren Qualitätsparametern (z.B. Infektionsrate nach Eingriffen) vorweisen zu können. In Anbetracht dieser Tatsache darf die moderne Onkologie ihren Auftrag nicht nur in der interdisziplinären Diagnostik und Therapie bösartiger Erkrankungen sehen, sondern muss sich mit Versorgungsoptimierung und Transparenzmachung durch Qualitätssicherung auseinandersetzen. «Brustzentrum» ist kein geschützter Begriff und muss somit mit Vorsicht betrachtet werden. Zertifizierte Brustzentren hingegen haben sich an definierten Qualitätsvorgaben auszurichten. In der Schweiz haben sich in den letzten zwei Jahren mehrere Brustzentren um verschiedene Qualitätslabels bemüht.
Bedeutung der Zentrumsbildung
1998 konnten Roohan und Kollegen aufzeigen, dass die Anzahl behandelter Brustkrebsfälle pro Jahr – untersucht in 266 Spitälern im Staat New York – einen Einfluss auf das 5-Jahres-Überleben hat (1). Frauen, die in einem Zentrum mit über 150 Brustkrebsoperationen pro Jahr behandelt wurden, hatten einen signifikanten Überlebensvorteil. Eine besondere Rolle, bezogen auf das Therapieergebnis (Outcome), scheint dem Operateur zuzukommen; Sainsbury und Kollegen konnten nachweisen, dass die kritische Grenze bei der Anzahl der Operationen pro Operateur pro Jahr bei mehr als 30 Eingriffen lag, welche signifikant die Überlebensrate beeinflusste (2). In vielen weiteren Studien wird aber betont, dass insbe-
Kasten 1:
Brustkrebs in der Schweiz: Zahlen
Brustkrebs ist weltweit die häufigste Krebserkrankung
der Frau. In der Schweiz erkranken jährlich rund 5300
Frauen an Brustkrebs, zirka 1360 Erkrankte sterben je-
des Jahr. Das mittlere Lebenszeitrisiko, an Brustkrebs zu
erkranken, liegt zwischen 9 und 11%.
sondere die Interdisziplinarität für den Überlebensvorteil eine zentrale Rolle spielt (Abbildung) (3, 4).
Bedeutung der Qualitätssicherung
Eine weitere wichtige Bedeutung der bestmöglichen Versorgungsqualität beim Mammakarzinom kommt der Qualitätssicherung zu. Die konsequente Überprüfung der Struktur- (z.B. apparative Ausstattung), Prozess- (z.B. Dauer des Wartens auf einen Operationstermin) und Ergebnisqualität (z.B. Rezidivrate) mittels Datenanalyse der eigenen Leistungen und Kontrollen durch externe Auditoren bildet die Basis der Qualitätssicherung. Die Qualitätsvorgaben der einzelnen Zertifizierungsarten differieren untereinander; alle haben jedoch definierte Qualitätsindikatoren (QI). Dies sind klinische Messgrössen, die in einem definierten Beobachtungszeitraum die Qualität eines Brustzentrums widerspiegeln sollen (z.B. Brusterhaltungsrate bei pT1-Tumoren). Der grosse Vorteil dieser QI liegt in der Möglichkeit eines Benchmarkings. Der Vergleich mit Mitbewerbern zeigt Stärken und Schwächen der eigenen Institution auf und erschliesst Verbesserungspotenziale. Zudem können diese QI der onkologischen Versorgungforschung dienen.
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Abbildung: Abhängigkeit der Überlebensraten von Mammakarzinompatientinnen von der Anzahl der pro Jahr in einem Krankenhaus durchgeführten Operationen (3).
Zertifizierungsmöglichkeiten in der Schweiz
Zertifizierung nach EUSOMA Die European Society of Mastology (EUSOMA) wurde 1986 von Spezialisten für die Behandlung von an Brustkrebs erkrankten Frauen gegründet. Ab 1991 wurde die Gesellschaft öffentlich aktiv. EUSOMA hatte erkannt, dass Brustkrebs in Europa sehr unterschiedlich behandelt wird. Als Antwort auf dieses Problem hat sie vier Hauptziele definiert (5): I die wissenschaftliche Aktivität zu fördern I in Europa die Qualität der Behandlung von Brust-
krebspatientinnen zu verbessern und durch die Bildung von zertifizierten Brustzentren zu standardisieren I die zuständigen gesundheitsverantwortlichen Behörden mit in die Verantwortung zu nehmen I die Fort- und Weiterbildungsprogramme zu fördern. 1998 wurde in Florenz eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Guidelines gebildet. Daraus resultierten die Guidelines «Requirements of a specialist breast unit», welche als Goldstandard in
der Diagnostik und Behandlung von Brustkrebs in Europa definiert wurden. Diese Guidelines umfassen 129 Anforderungen an eine «Breast Unit», von denen 64 als obligatorisch, 65 als nicht obligatorisch, aber als empfehlenswert zur Umsetzung definiert wurden. Die Anforderungen umfassen verschiedene Themen wie generelle Erfordernisse (Primärfallzahl, Direktor, Protokolle, Audit, multidisziplinäre Fallbesprechungen etc.), Brustchirurgie, Radiologie, Pathologie, Onkologie, Radioonkologie, Breast Care Nurses und weitere Angebote (genetische Beratung, Palliative Care, Psychoonkologie, Nachsorge, Physiotherapie etc.). Zudem hat die EUSOMA zehn Messgrössen, sogenannte Qualitätsindikatoren, definiert, welche für den Zertifizierungsprozess erfüllt sein müssen. In Europa bestehen mittlerweile 23 nach EUSOMA zertifizierte Brustzentren; hierzu gehören 2 Schweizer Zentren (Kantonsspital Aarau und Centro di Senologia della Svizzera Italiana mit den Standorten Lugano und Bellinzona). Die Antwort auf die Frage, warum nicht mehr Zentren in der Schweiz dieses Qualitätslabel anstreben, ist wohl in der geforderten Fallzahl (150 Primärfälle/Jahr) und dem Caseload der Brustoperateure (50 primäre Brustkrebsoperationen/Jahr) zu suchen. Wenige Kliniken in der Schweiz können diese Anforderungen erfüllen.
Zertifizierung nach Deutscher Krebsgesellschaft und Deutscher Gesellschaft für Senologie (DKG/DGS) Die Brustzentren haben sich in Deutschland als erste Organzentren überhaupt strukturiert und stellen damit die Vorreiter hoch spezialisierter medizinischer Zentren dar. Die erste Pilotzertifizierung eines Brustzentrums konnte im Dezember 2002 erreicht werden. Die Zertifizierung nach DKG/DGS umfasst einerseits fachliche Anforderungen an Brustzentren (FAB), welche im Erhebungsbogen hinterlegt sind; andererseits verlangt sie als einzige Brustzentrumszertifizie-
Tabelle:
Gegenüberstellung der Zertifizierungssysteme
Anzahl geforderte Kriterien
Qualitätsmanagementsystem Studienteilnahme Primärfallzahl Audits
Netzwerkbildung
EUSOMA 129 total 64 obligatorisch 65 fakultativ 10 QI nein keine Vorgabe 150 I Re-Zertifizierung
alle 3 Jahre I Überwachungs-
audit jährlich nicht möglich
DKG/DGS 173 total obligatorisch 137 Mindestvorgaben 69 QI
Q-Label ca. 100 total (hauptsächlich Struktur- und Prozesserhebungen)
ja mind. 10% der Primärfälle 150 nach 3 Jahren I Re-Zertifizierung
alle 3 Jahre I Überwachungsaudit
jährlich nicht möglich
nein 30 Pat./Jahr 125 nach 3 Jahren I Re-Zertifizierung
alle 4 Jahre I Einreichung von Qualitäts-
bogen jährlich möglich
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rung auch die Implementierung eines Qualitätsmanagementssystems (ISO oder KTQ). Die Grundlage der fachlichen Anforderungen sind die S3-Leitlinien zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms. Diese sind evidenzbasierte Empfehlungen und Statements und wurden unter Berücksichtigung von klinisch und methodisch relevanten Studien nach Konsensusprozessen unter der Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft formuliert. In einer Kohortenstudie wurden Patientinnen mit primärem Mammakarzinom im Rahmen des BRENDAProjektes (Breast Cancer Care Under Evidence-based Guidelines) analysiert. Im Projekt BRENDA I konnte gezeigt werden, dass die leitliniengerechte Versorgung in der adjuvanten Situation zu signifikant besseren rezidivfreien und Gesamtüberlebensraten führte (6). Die DKG hat das unabhängige Institut OnkoZert beauftragt, das Zertifizierungssystem zu betreuen (7). Mittlerweile existieren 274 nach DKG/DGS zertifizierte Zentren; in der Schweiz sind es deren 4 (7). Im Gegensatz zur EUSOMA-Zertifizierung ist die verlangte Primärfallzahl beim ersten Audit nicht so hoch; sie liegt bei 100 Primärfällen. Nach drei Jahren werden allerdings auch 150 Fälle gefordert. Die grosse Hürde dieser Zertifizierungsart liegt unter anderem auch daran, dass diese sehr aufwändig ist. Einerseits werden viele QI geprüft, andererseits muss ein Qualitätsmanagement implementiert werden. Der enorme bis anhin nicht vergütete Aufwand der Dokumentation, des Benchmarkings und der Qualitätssicherung, aber auch die Höhe der geforderten Primärfallzahl hat viele Kiniken in der Schweiz davon abgehalten, eine DKG-Zertifizierung anzustreben. Die DKG/DGS-Zertifizierung ist sicherlich das strengste Zertifizierungsverfahren; der grosse Vorteil liegt in der grossen Transparenz der Ergebnisse und auch gerade in der Implementierung eines Qualitätsmanagementssystems, da dies zu klar definierten, überprüfbaren Standards führt. Über 90% aller Primärfälle werden in Deutschland mittlerweile in zertifizierten Brustzentren behandelt. Obwohl die DKG/DGS-Zertifizierung nicht vom Gesetzgeber verlangt wird, haben sich viele Zentren freiwillig zertifizieren lassen. Dies deutet darauf hin, dass sowohl Patientinnen als auch Zuweiser das System des «zertifizierten interdisziplinären Behandlungspfades» schätzen. Sehr positiv zu werten ist auch die Möglichkeit, einzelne Organkrebszentren (z.B. Darmkrebszentrum, Prostatakrebszentrum) als eigentliches «Onkologisches Zentrum» oder gar «CCC-Zentrum» (= Comprehensive Cancer Center) zu verbinden und zertifizieren zu lassen. Dies ist insbesondere für grosse Kliniken ein sehr interessanter Weiterentwicklungsaspekt.
Schweizer Qualitätslabel (Q-Label) Die «Pattern of care»-Studie der Krebsregister im
Jahr 2009 hat dazu beigetragen, dass die Schweizer Zertifizierung für Brustzentren, an welcher die Schweizerische Gesellschaft für Senologie (SGS) bereits seit einigen Jahren arbeitete, dank dem Engagement der Krebsliga rasch in die Praxis umgesetzt wurde (9). Diese Studie konnte aufzeigen, dass es bei der Betreuung von Brustkrebspatientinnen in der Schweiz bedeutende regionale Unterschiede gibt. Grundlage der Schweizer Zertifizierung ist der Kriterienkatalog der SGS, der sich hauptsächlich auf die Kriterien der EUSOMA («Requirements of a specialist breast unit») beruft. Dieser Kriterienkatalog wurde den schweizerischen Verhältnissen angepasst. So werden beispielsweise von den Brustchirurgen nicht 50 Primärfalloperationen/Jahr gefordert, sondern deren 30. Die jährliche Fallzahl ist mit 125 auch für die Schweiz relativ hoch; es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich zwei Kliniken (sog. Einheiten) in regionaler Nähe als ein Brustzentrum zertifizieren lassen. Die Schweizer Zertifizierung hat für alle Behandlungspartner fachliche Anforderungen definiert; bei Erfüllung derselben gelten diese Fachärzte als sogenannte Kernteammitglieder. Im Gegensatz zu den anderen Zertifizierungsarten spielt zum Beispiel der plastische Brustchirurg eine wichtige Rolle. Dies ist sicherlich als standespolitische Errungenschaft der Fachgesellschaft für Plastisch-ästhetische und Wiederherstellungschirurgie zu werten; letztlich wird die Patientin hiervon sicherlich auch profitieren können. Im Vergleich zu den anderen Zertifizierungsmöglichkeiten scheint doch einiges beim Q-Label noch nicht ausgearbeitet zu sein. Unter anderem muss die Brusterhaltungsrate für jedes Tumorstadium deklariert werden, jedoch sind keine Minimalwerte definiert. Im Extremfall könnte dies bedeuten, dass ein Brustzentrum sämtliche Patientinnen mastektomieren könnte
Merkpunkte
I Übergeordnete Ziele aller an der Behandlung des
Mammakarzinoms Beteiligten bleiben die Senkung
der Mortalitätsrate, die Verbesserung der Lebens-
qualität sowie die Verlängerung des Überlebens.
I Die Brustzentrumszertifizierung führt zu einem
Paradigmawechsel im therapeutischen Denken.
Qualitätsindikatoren führen zu einer Sensibilisierung
der eigenen Behandlungsqualität.
I Nur spezialisierte Einrichtungen wie zertifizierte
Brustzentren können den heutigen Anforderungen
an die ganzheitliche Behandlung und Betreuung ge-
recht werden.
I Interdisziplinarität und Qualitätssicherung tragen
entscheidend zur Verbesserung der onkologischen
Ergebnisse bei.
I Der Gesetzgeber respektive die Krankenkassen
sollten den finanziellen Mehraufwand durch die Zerti-
fizierung der einzelnen Zentren abgelten.
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und das Q-Label trotzdem erhalten würde. Die For-
derung nach Ergebnisqualität durch die Definition
von Qualitätsindikatoren ist imminent wichtig.
Grosses Potenzial ist der Möglichkeit der Netzwerk-
bildung zuzuschreiben. Dies gibt kleineren Spitälern
die Chance, weiterhin Brustkrebspatientinnen zu be-
handeln und sich trotzdem an definierte Qualitäts-
vorgaben zu halten. Dieser Aspekt ist auch für die
Versorgungsforschung sehr wichtig. Letztlich ist es
der Krebsliga und der SGS hoch anzurechnen, dass
trotz diversen standespolitisch unterschiedlichen In-
teressen der Fachgesellschaften eine Zertifizierung
für die Schweiz ins Leben gerufen wurde. Die Verant-
wortlichen haben Verbesserungspotenziale bereits
erkannt; unter anderem sind die Qualitätskriterien in
Überarbeitung (10).
I
Quellen: 1. Roohan PJ et al.: Hospital Volume Differences and Five-Year Survival from Breast Cancer. American J of Public Health March 1998; 88 (3): 454–57. 2. Sainsbury R et al.: Influence of clinician workload and pattern of treatment on survival from breast cancer. Lancet 1995; 345: 1265–70. 3. Wallwiener D et al.: Zertifizierte multidisziplinäre Brustzentren. Gynäkologe 2010; 43: 205–15. 4. Richards M et al.: Inequalities in breast cancer care and outcome. Br J Cancer 76: 634–38. 5. www.eusoma.org 6. Wöckel A et al.: Versorgungsforschung – BRENDA und die Folgen. Senologie 2011; 8: 89. 7. www.onkozert.de 8. Freund M: Qualitätsmanagement und Zertifizierung in der Onkologie. Beilage zu Onkologie 2002; 25(1): 5–8. 9. Ess S et al.: Geographic variation in breast cancer care in Switzerland. Cancer Epidemiology 2010; 34: 116–21. 10. www.krebsliga.ch.
Erstpublikation in: Schweizer Zeitschrift für Onkologie 2014; 1: 6–9.
Dr. med. Susanne Bucher Leitende Ärztin Brustzentrum Luzern Neue Frauenklinik Luzerner Kantonsspital 6000 Luzern 16 E-Mail: susanne.bucher@luks.ch
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