Transkript
Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie
GYNEA
Apps und Verhütung bei Jugendlichen
Fluch oder Segen?
Das Smartphone spielt als Lifestyleberater im Taschenformat mittlerweile eine nicht zu unterschätzende Rolle als Informationsquelle zur Empfängnisverhütung. Paradoxerweise führt die moderne App-Technologie leider auch dazu, dass unsichere Kalendermethoden ein gefährliches und unerwartetes Comeback feiern. Hingegen bieten sinnvolle Apps Vorteile, die Compliance und Informationsstand in Bezug auf sexuelle Gesundheit gerade bei Jugendlichen wesentlich verbessern können.
SAIRA-CHRISTINE RENTERIA
Klingeltöne von Apple, von Ericsson, von Nokia …, ja, die haben Sie sicher alle im Gedächtnis, denn vermutlich wurden auch Sie und Ihre Patientinnen bereits öfters mitten in der Anamneseerhebung klangvoll gestört. Je nach Persönlichkeit schielt die Patientin dann etwas unsicher nach dem heissgeliebten Smartphone, stoppt rasch das Klingeln und entschuldigt sich. Manchmal antwortet sie auch unmittelbar instinktiv und fast notfallmässig. Es könnte ja der Liebste sein. Wie auch immer, vermutlich sollten wir diesem unliebsamen Unterbruch zukünftig mehr Bedeutung zumessen. Seit Apple 2009 mit dem Slogan «There’s an App for that» seine ersten Informatikprogramme für das Smartphone ankündigte, hat die Zahl dieser Applikationen rasant zugenommen. Die meisten Apps wurden zwar erst 2010 bis 2012 auf den Markt gebracht, aber in der Folge kam es bis heute zu einem wahren Boom, auch bei Themen wie sexuelle und reproduktive Gesundheit. Das US-amerikanische Meinungsforschungsinstitut Pew Research Centre wies 2012 darauf hin, dass 52 Prozent aller Smartphonebesitzer auf diesem Wege Informationen zum Thema Gesundheit suchen. Ein Fünftel aller Benutzer laden auf ihr Smartphone Apps zu Gesundheitsthemen herunter. Das Spektrum reicht von allgemeinen Themen zu Gesundheit und Fitness über medizinische Information und «Helplines» bis hin zu Apps zur Kommunikation innerhalb des Gesundheitssystems. Frauenthemen wie Zyklus, Verhütung und Sexualität stossen auf ganz besonderes Interesse, wobei Schwangerschaft und Menstruation Spitzenpositionen einnehmen. So ergibt eine entsprechende Stichwortsuche für iPhone-Apps weit mehr Applikationen zum Thema Schwangerschaft als zu allgemeinen Gesundheitsthemen (Suchergebnis im Januar 2013:
Stichwort Schwangerschaft: 1031 Apps; Stichwort Gesundheit: 650 Apps).
Elektronisch verhüten
Die Sache wird spätestens dann je nachdem interessant oder verwirrend, wenn man auf der Suche nach Applikationen zum Thema Verhütung bereits nach wenigen Klicks auf unspezifische natürliche Verhütungsmethoden und «Ogino-Knaus» stösst. Auch werden Methoden zur Beobachtung der Ovulation oft nur kaum nuanciert sowohl für Empfängnisverhütung als auch für die Erfüllung eines Kinderwunsches empfohlen. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Dies gilt auch für die Zahl der Apps, die nach Eingabe des Stichwortes «Kontrazeption» angeboten werden. Im Mai 2013 waren es zum Beispiel für Android-Smartphones insgesamt 259 Apps. Davon waren 169 (65%) gratis. In der eher auf Männer ausgerichteten Blackberry-Welt fanden sich im Gegensatz dazu nur 4 Apps. Für das in der Schweiz auch bei den Jugendlichen weitverbreitete iPhone (iOs 6.1.4.) ergab das Stichwort «Kontrazeption» am 18. Mai 2013 58 Apps, davon waren 22 zahlungspflichtig und 36 kostenfrei und somit auch für die kleineren Budgets junger Mädchen leicht zugänglich. Unter dem Stichwort «Kontrazeption» finden sich Programme, die sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Im Wesentlichen können sie in folgende Gruppen unterteilt werden. I Als «Reminder-Apps» können etwa ein Viertel der
oben erwähnten iPhone-Apps bezeichnet werden (15 von 58). Sie zielen darauf, die Compliance im Rahmen der Verwendung einer hormonalen Kontrazeption zu erhöhen. I Problematischer sind Apps zur «natürlichen Ver-
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hütung», die immerhin noch etwa ein Fünftel der gefundenen Programme ausmachen (12 von 58). Darunter finden sich 10 Kalendermethoden, wobei 9 keinen geringsten Hinweis bezüglich Berechnungsmethode und Effizienz enthalten. Nur 2 dieser 12 Apps stützen sich auf eine anerkannte und effiziente Methode zur natürlichen Familienplanung (www.symptotherm.ch).
Rückschritt und Obskurantismus?
Mit einer erweiterten App-Suche, basierend auf Stichworten wie «Schwangerschaftsverhütung», «Fertilitätskontrolle», «Ogino-Knaus», «safe sex», «fertility awareness», «natürliche Familienplanung», finden sich zusätzliche Applikationen. Diese 40 Apps enthalten wiederum 8 Programme, die auf seit langem bekannten und als unsicher eingestuften Berechnungsmethoden beruhen. Die meisten dieser Applikationen gehen von einem Standardzyklus aus. Sie sind deshalb als noch unsicherer zu beurteilen als die bekannte Rhythmusmethode (Ogino-Knaus/Smulders 1930), bei der die Substraktion «kürzester Zyklus minus 19» das Ende der präovulatorischen infertilen Phase ergibt und die Substraktion «längster Zyklus minus 10» die postovulatorische infertile Phase bestimmt (Beispiel: Ein Zyklus von 30 bis 36 Tagen ergibt als fertiles Intervall: 12. bis 25. Zyklustag). Bei den meisten einfachen auf dem Kalender basierenden Apps wird die Ovulation für den 14./15. Tag vorhergesagt, aber eine Modulation der Vorhersagen aufgrund vorhergehender Zyklen ist nicht vorgesehen. Nur ganz vereinzelt wird gewarnt, dass die Berechnung für einen Zyklus mit Variationen ausserhalb der Grenzen von 26 bis 32 Tagen nicht zulässig ist. Dies trifft nur für zwei Apps zu, die auf der etwas sichereren von der Georgetown University entwickelten «Standard Days Method» basieren, welche bei perfekter Anwendung eine Sicherheit von 95 Prozent aufweist (bei typischer Anwendung nur 88%). Bei dieser Methode wird jedoch eine lange Periode vom 8. bis 19. Zyklustag als fertil beurteilt. Die nicht fertilen Tage sind entsprechend reduziert, was
Abbildung: «There’s an App for that!»: Die beliebten Apps zur natürlichen Verhütung sind – gerade für Jugendliche – hochproblematisch, da der Warnhinweis auf die nur relative Sicherheit meist fehlt. Deswegen sollte das Thema in der Sprechstunde besprochen werden.
besonders für junge Paare frustrierend und unrealistisch sein kann. Mindestens 6 Applikationen stehen überdies in klarem Gegensatz zu den Richtlinien der «Standard Days Method», denn sie geben erst den 12. Zyklustag als fertil an und lassen die fertile Periode bereits am 16. Tag enden. Sie öffnen somit das Tor weit für eine unerwünschte Schwangerschaft. Gewisse Apps-Entwickler geben an, dass ihre App sowohl bei der Empfängnisverhütung als auch für die Berechnung der Ovulation Hilfe leiste. Die Informationen sind dabei beispielsweise auf die Angabe von 3 fertilen Tagen reduziert. Alle weiteren sind in der Folge vermeintlich nicht fertil. Eine App heisst sogar «Pregnancy Test», und man behauptet, eine Schwangerschaft oder die Abwesenheit einer Schwangerschaft aufgrund des Zeitpunktes des Geschlechtsverkehrs berechnen zu können. Junge Mädchen und Frauen könnten sich damit fälschlich in Sicherheit wiegen.
Ungenügende Transparenz
Obwohl gewisse Programme das Smartphone durchaus zu einem treuen und wertvollen Begleiter auch im Bereich Kontrazeption machen können, zu denken ist dabei vor allem an die Compliance-verbessernden «Reminder-Apps», wäre es sinnvoll, wenn unsere Patientin-
nen vor dem Download Genaueres über die Apps wüssten. Dabei ist das System nicht so entscheidend, denn die gleichen Funktionalitäten finden sich oft sowohl für iOS, Android als auch andere Systeme. Zu bedauern ist vielmehr die spärliche Information. Bei den «natürlichen Verhütungsmethoden» fehlen nicht nur die Hinweise zur Theorie, auf der die Berechnung basiert, sondern auch klare und warnende Angaben, dass es sich nur um eine relative Sicherheit handelt. So wird paradoxerweise eine hochentwickelte Elektronik dazu benutzt, «prähistorische», unsichere Methoden wieder aufleben zu lassen. Bisher scheint nur eine sehr komplexe natürliche Methode tatsächlich von dieser hoch entwickelten Technologie zu profitieren. Die Symptotherm-Methode ist jedoch in der Adoleszenz kaum sinnvoll einzusetzen, da strenge Disziplin und regelmässige Zyklen unabdingbar sind und der effizienten Anwendung eine lange Lehrzeit vorausgeht. Bei den «Reminder-Apps» ist leider vor dem Herunterladen nur selten zu erfahren, mit welchen Präparaten die Applikation kompatibel ist. Nicht ganz unwichtig wäre auch, voraussehen zu können, ob die Erinnerungsfunktion diskret ist oder ob gleich das ganze Umfeld dank Display und Klingelton zweifelsfrei über den Verwendungszweck informiert wird. Das
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Alarmsystem ist leider oft fix auf einen Pilleneinnahmezyklus von 21 Tagen mit 7 Tagen Pause zugeschnitten. Neuere Programme können für alle auf dem Markt zur Verfügung stehenden Produkte (Pille, Ring Patch) und auch passend für die verschiedenen Einnahmeschemata eingestellt werden.
Tipps und Hilfestellung
Patientinnen schätzen es, in der ärztlichen Sprechstunde auch bezüglich Gedächtnisstützen und alternativer Verhütungsmethoden auf Zuwendung zu stossen. Die Frage: «Haben Sie schon einmal Apps zum Thema Zyklus und Verhütung heruntergeladen?» ist bestimmt nicht überflüssig und kann ein sinnvolles therapeutisches Gespräch auslösen. Es geht nämlich nicht nur um Verhütung, sondern es gibt auch Apps zur Zyklusbeobachtung und zur Erkennung von Symptomen im Zusammenhang mit einem prämenstruellen Syndrom. Wertvolle Hinweise können so in die Anamnese einfliessen und Therapie- oder Beratungsbedürftiges aufdecken. Spezifisch auf die Smartphone-Apps bezogen, sollten im Weiteren dann auch folgende Fragen mit der Patientin abgeklärt werden: I Geht es ihr um wirksame Kontrazep-
tion oder um das Bedürfnis, sich selbst und den eigenen Körper besser kennenzulernen?
I Was, wenn eine Schwangerschaft eintreten würde (Anspruch auf die sicherste Methode)?
I Wird eine Reminder-App gesucht oder eine eigentliche Kontrazeptionsmethode?
I Wie steht es mit der Motivation, denn jede App ist nur so gut wie die Benutzerin?
Beratend können folgende Hinweise gerade bei Jugendlichen hilfreich sein: I Bei Reminder-Apps Kompatibilität
mit der angewandten Verhütungsmethode kontrollieren. I Vor dem Download einer gebührenpflichtigen Version zuerst die Gratisversion testen. I Immer den möglichen Anfall zusätzlicher Mehrkosten abklären (automatisches Benachrichtigungssystem, Upgrade). I Man sollte sich mittels Nutzerbewertungen und Kommentaren zu den Apps zusätzlich informieren.
Schlussfolgerung
Bisher war es vor allem das Umfeld, Freundinnen, Eltern und oft vor allem die Mutter, die beratend und manchmal auch verwirrend bei der Information zur Empfängnisverhütung eine grosse Rolle spielten. Heutzutage spielen auch die Medien und das Internet eine grosse Rolle. Neu gesellt sich das Smartphone als Lifestyleberater im Taschenformat dazu.
Gerade weil die Verunsicherung ge-
genüber der hormonalen Kontrazeption
in der jetzigen Lage wieder akut verstärkt
wurde, ist es wichtig, Folgendes nicht
aus den Augen zu verlieren: Die unsiche-
ren Kalendermethoden feiern dank der
Smartphone-Apps ein gefährliches und
unerwartetes Comeback.
Gut gewählt und mit Umsicht benutzt,
bringt jedoch das neuartige und weitge-
fächerte App-Angebot im Allgemeinen
viele Vorteile, die dazu beitragen kön-
nen, die Compliance und den Informa-
tionsstand in Bezug auf sexuelle Ge-
sundheit gerade bei den Jugendlichen
wesentlich zu verbessern.
Je nach Bedürfnis kann es in diesem Zu-
sammenhang durchaus sinnvoll sein, auf
eine bekannte und für gut befundene
App hinzuweisen, insbesondere dann,
wenn es darum geht, eine Applikation zu
finden, die auf spezifische Bedürfnisse
zugeschnitten ist.
I
Korrespondenzadresse: Dr. med. Saira-Christine Renteria Policlinique et Unité psycho-sociale Consultation de gynécologie pédiatrique et de l’adolescence CHUV 1011 Lausanne E-Mail: Saira-Christine.Renteria@chuv.ch Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel: keine.
Erstpublikation in: Pädiatrie 2013; 6: 7–9.
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