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Internationaler Konsensusbericht
Management der postpartalen Blutung (PPH)
Der D-A-CH-Algorithmus
Die postpartale Hämorrhagie (PPH) stellt eine Notfallsituation dar, die eine rasche Entscheidung, eine exakte Diagnose und eine exakte Ursachenanalyse erfordert, um die korrekten therapeutischen Massnahmen rechtzeitig einzuleiten. Jetzt wurde für die PPH erstmals interdisziplinär und im Konsensus der deutschsprachigen Länder ein Handlungsalgorithmus entworfen, der auf den Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften (Anästhesie und Intensivmedizin, Geburtshilfe) basiert und der Verbesserung der Versorgungsqualität bei PPH dient.
Interdisziplinäre D-A-CH-Konsensusgruppe
PPH (Deutschland [D], Österreich [A],
Schweiz [CH])**
Die Inzidenz der postpartalen Hämorrhagie (PPH) steigt kontinuierlich (1–3), vor allem wegen der Zunahme von Uterusatonien und Plazentaimplantationsstörungen infolge eines zunehmenden Uterotonikaeinsatzes zur Geburtseinleitung oder Wehenunterstützung sowie wegen steigender Raten an vaginaloperativen und Kaiserschnittentbindungen (3–6). Die PPH zählt nach wie vor zu den Hauptursachen der maternalen Morbidität und Mortalität: Weltweit sterben jährlich ungefähr 150 000 Frauen aufgrund einer PPH (7–10). Das Risiko, an einer PPH zu versterben, beträgt in den Industrieländern zirka 1:100 000, in den Entwicklungsländern 1:1000 Geburten (11), hinzu kommt die schwere maternale Morbidität bei 4–7:1000 Geburten (12, 13).
Die Problematik – Notwendigkeit eines Algorithmus
Die Prävalenz der PPH wird mit zirka 6% respektive 1,9% (schwere PPH) aller Geburten angegeben (16). Allerdings ist zu beachten, dass der peripartale Blutverlust selten gemessen wird und bei visueller Beurteilung das Ausmass der Blutung um 30 bis 50% unterschätzt wird (17, 18).
Diagnostik und Risikofaktoren Eine rechtzeitige und korrekte Diagnostik der zugrunde liegenden Ursachen ist entscheidend, um ein ursachenadaptier-
tes Vorgehen durchzuführen. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch definiert man die sogenannten «4 T» (= Tonus, Trauma, Tissue, Thrombin) als mögliche Ursachen einer PPH, wobei mehrere Ursachen kombiniert oder sequenziell auftreten können. Durch eine stufenweise Diagnostik gilt es, rasch die Ursache einer PPH zu differenzieren, um eine adäquate Therapie einzuleiten (Tabelle 1). Neben einer rechtzeitigen Diagnostik ist das Erkennen von Risikofaktoren einer PPH von essenzieller Bedeutung. Eine vorgeburtliche Risikostratifizierung der Schwangeren ist die erste Präventionsmassnahme zur Vermeidung maternaler Todesfälle (20), auch wenn nur 40% der Schwangeren mit identifizierbaren Risiken eine PPH entwickeln (2). Neben präexistenten anamnestischen Risikofaktoren (8, 14, 22) sind spezielle Risikokonstellationen im Rahmen des geburtshilflichen Managements zu beachten (Tabelle 2) (14, 23).
Therapie- und Risikomanagement Die Therapie einer PPH beinhaltet neben allgemeinen Massnahmen (u.a. zur Kreislaufstabilisierung) die ursachenadaptierte medikamentöse und/oder chirurgische Therapie, die rasch, koordiniert und oft zeitgleich durchgeführt werden müssen (19). Die PPH stellt einen Notfall dar, der eine rasche Entscheidung und vor allem eine exakte Diagnose und eine exakte Ursachenanalyse notwendig macht, um die korrekten therapeutischen Massnahmen in einer interdisziplinären Zusammenarbeit rechtzeitig einzuleiten. Neben
dem Erkennen der Notfallsituation ist somit auch das Wissen um die Ursachen sowie deren Diagnostik für ein optimales Management essenziell. Das gilt insbesondere unter der Berücksichtigung, dass der Grossteil der maternalen Todesfälle aufgrund einer PPH als vermeidbar angesehen werden muss, da in 60 bis 80% aller Fälle ein «major substandard care» vorliegt (8, 20, 22, 24). Als Hauptprobleme im Risikomanagement der PPH werden angeführt (20, 23–25): I Verzögerung der Diagnose und/oder
Therapie durch eine Unterschätzung des tatsächlichen Blutverlustes I Verzögerung in der Bereitstellung von Blut- respektive Gerinnungsprodukten I Fehlen oder Nichtbefolgen von einfachen Handlungsanweisungen I Fehlen von adäquater Fortbildung und Training I schlechte Kommunikation im interdisziplinären Team
Postpartale Hämorrhagie (PPH): Definition
Der durchschnittliche Blutverlust bei einer unkomplizierten vaginalen Geburt liegt bei 500 ml, bei einer Kaiserschnittentbindung bei 1000 ml (14). Eine PPH ist definiert als ein Blutverlust aus dem Genitaltrakt > 500 ml innerhalb von 24 Stunden postpartal, eine schwere PPH als ein Blutverlust von 1500–2000 ml oder > 150 ml/min oder ≥ 50% des zirkulierenden Blutvolumens innerhalb von 3 Stunden (15).
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Konsensusgruppe «D-A-CH-Handlungsalgorithmus Postpartale Hämorrhagie»
D. Schlembach*#, M.G. Mörtl*#, T. Girard*, W. C. Brezinka, K. Chalubinski, D. Fries, W. Gogarten, B.-J. Hackelöer, H. Helmer, W. Henrich, I. Hösli, P. Husslein, F. Kainer, U. Lang, G. Pfanner, W. Rath, E. Schleussner, H. Steiner, D. Surbek, R. Zimmermann
* = Hauptverantwortliche Autoren bei der Manuskripterstellung;
# = Leitung des Konsensusteams
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Tabelle 1: Ursachen der postpartalen Hämorrhagie (PPH): Die 4 Ts und ihre Diagnose
«T» TONUS TRAUMA TISSUE
THROMBIN (Koagulopathie)
Ursachen Uterusatonie Weichteilverletzungen, Uterusruptur Plazentaretention, Plazentalösungsstörung, Plazentaimplantationsstörung G primär traumatisch G primär koagulopathisch
Anteil 70–90% 20% 10%
ca. 1%
Diagnose Höhenstand und Konsistenz des Uterus Inspektion der Geburtswege Vollständigkeit der Plazenta (visuell, Ultraschall)
Klinisch: z.B. «nicht chirurgische Blutung» Labor: Gerinnung, Blutbild, ROTEM, TEG
modifiziert nach Rath W., Der Gynäkologe 2011 (19); ROTEM = Rotationsthrombelastometrie; TEG = Thrombelastografie
Tabelle 2: Risikofaktoren einer PPH
«T» TONUS TRAUMA
TISSUE
THROMBIN
Präpartal (Risikostratifizierung möglich) Z.n. Uterusatonie Z.n. Operation am Uterus Uterus myomatosus Vermehrte Dehnung des Uterus, z.B. G Mehrlingsschwangerschaft G Hydramnion G Fetale Makrosomie Z.n. Abruptio placentae Placenta praevia Plazentaimplantationsstörungen (Placenta accreta, increta, percreta) Angeborene/erworbene Koagulopathien
ANDERE URSACHEN
Z.n. PPH Vielgebärende Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen (z.B. PE, HELLP-Syndrom) Amnioninfektionssyndrom Nikotinabusus
Intra- und postpartal
Uterusatonie Uterusruptur Uterusinversion Geburtsverletzung
Plazentaretention
DIG G bei Schwangerschafts-
komplikationen (PE, HELLP-Syndrom, AIS, Fruchtwasserembolie) G bei hämostaseologischen Störungen (Verlust-/ Verdünnungskoagulaopathie, Hyperfibrinolyse) Verzögerte Geburt Geburtseinleitung lange Oxytozinsubstitution vaginaloperative Entbindung Kaiserschnitt
modifiziert nach Henrich W. (14); Z.n. = Zustand nach; PE = Präeklampsie; DIG = disseminierte intravasale Gerinnung; AIS = Amnioninfektionssyndrom
I Defizite in der Organisationsstruktur I Verzögerung bei der Initiierung eines
Behandlungsstandards. Aktuelle Berichte belegen den Sinn und Nutzen standardisierter Therapiealgorithmen (26) sowie deren Überprüfung im Rahmen von regelmässigen Audits (27). Ein solcher Algorithmus wurde interdisziplinär (Anästhesie und Intensivmedizin, Geburtshilfe) und länderübergreifend in Deutschland, Österreich und der Schweiz erarbeitet und soll hier vorgestellt werden (Abbildung).
Entwicklung, Ziel und Konzept des Algorithmus
Die Erstellung des länderübergreifenden (D-A-CH = Deutschland – Österreich – Schweiz) «Handlungsalgorithmus Postpartale Blutung» erfolgte von 2009 bis 2011. Basierend auf den bisherigen Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften (Anästhesie und Intensivmedizin, Geburtshilfe) der drei Länder sowie den internationalen vergleichbaren Algorithmen zur Therapie der PPH wurde von den beteiligten Kolleginnen und Kolle-
gen (siehe Kasten Konsensusgruppe) in mehreren Sitzungen der vorliegende Algorithmus erstellt. Intention dieses Artikels ist die Erstellung eines interdisziplinären (Anästhesie, Geburtshelfer, Hebamme) Handlungsalgorithmus für das Management der persistierenden PPH anhand der vorhandenen Leitlinien sowie der ausgewählten Übersichtsarbeiten der jeweiligen Länder (14, 15, 19, 28–30). Durch die Verbreitung eines im Notfall übersichtlichen und leicht zu befolgenden Ablaufdiagramms soll eine Verbesserung der Versorgungsqualität der Patientinnen mit manifester Blutung nach vaginaler Geburt oder in der postoperativen Überwachungsphase nach Sectio caesarea erreicht werden. Mit diesem Handlungsschema sollen die eingangs beschriebenen Probleme im Management der PPH reduziert werden. Die Prävention der PPH (z.B. durch aktives Management der Plazentarperiode) ist nicht Thema des Algorithmus.
Der Algorithmus
Das Handlungsschema soll für jede geburtshilfliche Abteilung (ggf. nach Adaptation an die Organisationsstruktur) anwendbar sein und richtet sich interdisziplinär an die bei der Geburt beteiligten Berufsgruppen (Geburtshelfer, Anästhesisten und Intensivmediziner, Hebammen sowie Pflegekräfte der jeweiligen Disziplinen). Der Handlungsalgorithmus ist in vier Schritte unterteilt und vertikal zur besseren Differenzierung farblich unterschiedlich gestaltet. Diese vier Schritte sind in der durchzuführenden Aktion definiert, zum Teil zeitlich begrenzt und können an die gegebenen Organisationsstrukturen der jeweiligen Institutionen angepasst werden. Einführend zu jedem Schritt sind
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die – nach Meinung der Experten – personellen Mindestanforderungen aufgeführt. Da abhängig von der Organisationsstruktur im Verlauf der Behandlung früher oder später ein Transfer der Patientinnen erforderlich werden kann, sind Kriterien für einen Transport definiert. Der horizontale Aufbau ist in die drei Spalten klinische Symptome, allgemeine/operative Massnahmen und Medikamente/Zielkriterien untergliedert. Wie eingangs beschrieben, stellen die verzögerte Diagnose (z.B. durch Unterschätzung des Blutverlustes) und daraus resultierend oder auch per se eine verzögerte Initiierung eines suffizienten Behandlungsschemas die Hauptprobleme im Management der PPH dar. Im vorliegenden Algorithmus wurde auf diese Erkenntnis deshalb besonders geachtet. Die Aufführung der Massnahmen in einzelnen Schritten bedeutet nicht, dass diese zeitlich nacheinander durchgeführt werden müssen, sondern sie richten sich vor allem nach der klinischen Symptomatik, das heisst, bei einer hämodynamischen Instabilität muss vom zeitlichen Ablaufschema abgewichen werden. Von geburtshilflicher Seite steht die ursachenadaptierte Therapie der PPH nach den vier «T» im Vordergrund. Neben Massnahmen zur Kontraktion oder Tamponade des Uterus werden operative Therapieschritte aufgeführt. Von anästhesiologisch-intensivmedizinischer Seite stehen bei der PPH die Therapie der Mikrozirkulationsstörung, der Hypothermieausgleich und die Korrektur der Gerinnungsstörung im Mittelpunkt. Im Algorithmus werden die Zielkriterien für die notwendigsten hämodynamischen Parameter und die Laborparameter aufgelistet. Die Kombination aus Hypothermie, Azidose und Gerinnungsstörung erhöht die Mortalität. Die Folgen der Azidose für die Hämostase sind mittels Puffertherapie nicht reversierbar. Daher sind ein adäquates Volumen- und ein Kreislaufmanagement essenziell, um das Auftreten einer Azidose zu verhindern respektive zu vermindern.
Step 1
Initiiert werden sollte der Handlungsalgorithmus bei jeder postpartalen vagi-
Abbildung 1: Handlungsalgorithmus PPH – Konsensus D-A-CH
nalen Blutung, bei welcher der Endverantwortliche einen Interventionsbedarf sieht. Zugrunde liegen hier die Definitionskriterien der PPH (d.h. ein Blutverlust > 500 ml nach vaginaler Geburt bzw. > 1000 ml nach Sectio caesarea) bei der kreislaufstabilen Patientin. Eine korrekte Abschätzung des Blutverlustes ist ohne Hilfsmittel nicht möglich. Deshalb sollten bei jeder manifesten PPH zur besseren Abschätzbarkeit des Blutverlustes geeignete Blutmesssysteme verwendet werden (31–34). Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte ein geburtshilflicher Facharzt hinzugezogen werden sowie die Vorabinformation der Anästhesie erfolgen. Parallel erfol-
gen hier diagnostische Massnahmen zur raschen Abklärung der Blutungsursache und gegebenenfalls deren adäquate Therapie sowie wesentliche allgemeine Massnahmen (zwei intravenöse Zugänge, Abnahme von Notfalllabor und Kreuzprobe, Bereitstellung von Erythrozytenkonzentraten, Katheterisierung der Harnblase, adäquate Volumensubstitution). Ebenso erfolgt parallel die Uterustonisierung neben einer eventuell manuellen Uteruskompression als medikamentöse Therapie über den Oxytocinrezeptor.
Uterustonisierung Als Oxytocinrezeptoragonisten stehen Oxytocin oder Carbetocin zur Verfügung:
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I Oxytocin: Zunächst 3–5 IE (1 Ampulle) i.v. als Kurzinfusion, gefolgt von 40 IE in 30 min (über Infusomat oder Perfusor). Bei einer Halbwertszeit von 4–10 min tritt die Wirkung nach i.v. Gabe in weniger als 1 min ein.
I Carbetocin: 100 µg (1 Ampulle) in 100 ml NaCl 0,9% als Kurzinfusion. Als synthetischer, lang wirksamer Oxytocinagonist (Halbwertszeit etwa 40 min, Wirkungseintritt nach etwa 2 min) ist Carbetocin zur Prävention der Uterusatonie nach Sectio caesarea unter regionalen Anästhesieverfahren zugelassen, es gilt hier der off-label-use. Allerdings erscheint dieses Medikament aufgrund seiner lang anhaltenden uterotonen Wirkung für die Indikation PPH gut geeignet.
Cave: Eine dosisabhängige hämodynamische Wirkung von Oxytocin und Carbetocin zeigt sich insbesondere bei Bolusgabe deutlich ausgeprägter als bei Kurzinfusion. Infolge der vasodilatatorischen Wirkung kommt es zu einer passageren Reflextachykardie und zu Hypotonie (8, 34, 35).
Aufrechterhaltung der Volämie Um das Herzminutenvolumen und die Mikrozirkulation aufrechtzuerhalten, ist eine adäquate Volumenzufuhr notwendig. Werden grössere Volumina benötigt, sollten Infusionswärmer eingesetzt werden, um eine zusätzliche Auskühlung der Patientin zu verhindern. Der Einsatz von kristalloiden (Ringer-Lactat, RingerAcetat) oder kolloidalen (Stärkelösungen, Gelatine) Lösungen ist schon seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver anästhesiologischer Diskussionen. Eine eindeutige Evidenz für den isolierten Einsatz kristalloider oder kolloidaler Lösungen gibt es nicht. Kolloidale Lösungen auf Stärkebasis (HES) verbleiben länger intravasal und haben gegenüber Kristalloiden einen besseren Volumeneffekt. Allerdings können Kolloide in Abhängigkeit des infundierten Volumens die Thrombozytenaggregation behindern. Zudem führen diese Lösungen zu einem falschhohen Fibrinogenwert bei der Bestimmung nach Clauss (36). Die Dauer von Step 1 wurde auf zirka 30 Minuten nach Diagnosestellung limitiert. Bei weiter bestehender Blutung kann abhängig von der Blutungsstärke vorgegangen werden:
I Besteht Aussicht auf baldiges Sistieren der Blutung, kann – als Sicherungstherapie von Step 1 – Misoprostol (800 µg entsprechend 4 Tbl. á 200 µg) rektal appliziert werden. Allerdings ist auch für dieses Medikament der off-label-use zu beachten.
I Besteht eine starke, persistierende Blutung, muss unmittelbar der nächste Schritt erfolgen. Bei der kreislaufstabilen Patientin ist das Step 2, bei der kreislaufinstabilen Patientin Step 3.
Step 2
Bei persistierender schwerer Blutung und kreislaufstabiler Patientin soll nach zirka 30 Minuten zu Step 2 übergegangen werden. Organisatorisch wird die Anästhesie hinzugezogen und das OPTeam zur Organisation des OP-Saals alarmiert. Abhängig von der Organisationsstruktur ist es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll, einen eventuell notwendigen Transfer vor einer Eskalation zu überdenken. Neben der OP-Vorbereitung erfolgt gegebenenfalls nochmals ein Ausschluss einer Geburtsverletzung oder eines Plazentaresiduums (mit entsprechender Therapie bei auffälligen Befunden). Eventuell erforderliche Blutprodukte (FFP, EK, TK) werden in den Kreissaal (bzw. Operationssaal) beordert.
Der Schwerpunkt in Step 2 liegt im Bereich der medikamentösen interdisziplinären Therapie, das heisst einerseits in der uteruskontrahierenden Medikation mit Prostaglandin E2 und andererseits in der Aufrechterhaltung respektive Stabilisierung der hämodynamischen Parameter, der Koagulation und der Körpertemperatur.
Uterustonisierung Bei ineffektiver Uterustonisierung durch Oxytocin(-analoga) steht mit Sulproston ein zugelassenes und effektives Medikament zur Verfügung. I Sulproston 500 µg (1 Ampulle) i.v. –
nur über Infusomat oder Perfusor (maximal 1500 µg [3 Ampullen] über 24 Stunden). Nebenwirkungen von Sulproston umfassen hämodynamische Effekte (Hypotonie, Abfall des peripheren Widerstands, Anstieg des Cardiac-Outputs) und Übelkeit, Erbrechen und Tachypnoe (4).
Die intramyometrane Applikation von Prostaglandinen ist kontraindiziert!
Anämie und Gerinnung Gesunde Patientinnen tolerieren einen Abfall des Hämoglobins < 7 g/l (4,4 mmol/l) respektive des Hämatokrits < 21% relativ problemlos. Es kommt jedoch bei einem Hämatokrit von < 20% zu einer klinisch relevanten Beeinträchtigung der Hämostase. Zudem muss beachtet werden, dass die Blutung aktuell persistiert und daher der Zielwert höher anzusiedeln ist. Bei starken Blutungen fällt das Fibrinogen als erster Gerinnungsfaktor auf kritische Werte ab (37). Die Plazenta hat eine stark fibrinolytische Wirkung, und deshalb ist schon früh bei einer PPH an die Gabe eines Antifibrinolytikums zu denken (38). Tranexamsäure in der Dosierung von 2 g hat sich in einer grossen Studie zum präklinischen Trauma als sicher und blutsparend erwiesen (39). Da die optimale Dosierung von Tranexamsäure bei der PPH unbekannt ist und bei Traumapatienten Dosierungen zwischen 1 und 3 g empfohlen wurden, hat sich die Konsensusgruppe auf 2 g geeinigt.
Die Korrektur einer Verbrauchs- respektive Verdünnungskoagulopathie ist derzeit Gegenstand aktiver Diskussionen. Während vor allem im westlichen Europa eine faktorenbasierende Therapie favorisiert wird, steht im angelsächsischen Raum eine Therapie mit Erythrozytenkonzentraten (EK), Gefrierplasma (FFP) und Thrombozytenkonzentraten (TK) im Vordergrund. Letztere werden bei militärischen und zivilen Schwerverletzten häufig in einem fixen Verhältnis verabreicht (40). Diese Strategie wird jedoch zunehmend hinterfragt (36), gleichzeitig muss eine PPH klar von einem Blutverlust polytraumatisierter Patienten unterschieden werden. Retrospektive Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein erniedrigter Fibrinogenspiegel auf eine schwere PPH hinweist (41–43). Die Fibrinogenkonzentration liegt gegen Ende der Schwangerschaft physiologisch bei 5 g/l (44,45), es scheint also vorteilhaft zu sein, Fibrinogen frühzeitig (jedoch nach Applikation eines Antifibrinolytikums) zu substituieren.
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Wird FFP zur Therapie einer Gerinnungsstörung eingesetzt, sind Volumina von mindestens 20–30 ml/kg Körpergewicht notwendig (46).
Aufrechterhaltung der Normothermie Ohne präventive Massnahmen führt eine massive Blutung unweigerlich zur Hypothermie. Unter 33–34° C ist mit einer klinisch relevanten Beeinträchtigung der plasmatischen Gerinnung zu rechnen, neben einer verminderten Thrombingeneration kommt es zu einer beeinträchtigten Fibrinbildung. Darüber hinaus ist auch die Thrombozytenfunktion bei einer Körpertemperatur < 34° C gestört (47–49). Aus diesem Grund kommt einer frühzeitigen, präventiven respektive therapeutischen Wärmezufuhr mit Warmluftgebläse und gewärmten Infusionsleitungen eine zentrale Bedeutung zu. Ebenso sollte die Temperatur des Operationssaals erhöht werden. Stellt sich nach weiteren 30 Minuten (d.h. insgesamt 60 min nach Initiierung des Handlungsalgorithmus) kein therapeutischer Erfolg ein, wird Step 3 initiiert.
Step 3
Der Einsatz der Cavumtamponade wird mit zwei Zielsetzungen durchgeführt: einerseits mit der Therapie der PPH (d.h. dem definitiven Blutungsstopp) (50) und andererseits mit dem Ziel des «bridging» (d.h. einem [temporären] Blutungsstopp), um eine hämodynamische Stabilisierung oder die Organisation von Step 4 zu ermöglichen. Zu diesem Zeitpunkt sollen spätestens ein anästhesiologischer Oberarzt und die bestmögliche personelle Expertise (Operateur) hinzugezogen werden. Abhängig von der Einrichtung sind bei der kreislaufstabilen Patientin die Transferkriterien in ein grösseres Zentrum zu überdenken. Zur Tamponade des Cavum uteri stehen heute kommerziell erhältliche Ballonsysteme zur Verfügung, die den Vorteil einer frühzeitigen Erkennung einer persistierenden Blutung bieten.
Step 4
Die nach Ausschöpfen aller konservativen Therapiemassnahmen persistierende PPH zwingt letztlich zu einem chirurgischen Vorgehen. In dieser Situation erfordert die hämodynamische Instabi-
lität der Patientin, kombiniert mit einhergehender Gerinnungsstörung, Azidose und Hypothermie, ein unverzügliches, interdisziplinäres strukturiertes Vorgehen. Der Algorithmus unterscheidet in Step 4 – bei weiter persistierender Blutung – zwischen kreislaufstabiler und kreislaufinstabiler Patientin.
Kreislaufinstabilität Persistiert trotz aller Bemühungen eine PPH und zeigt die Patientin Zeichen eines hämorrhagischen Schocks, kann eine sofortige chirurgische Intervention auch bei ausgeprägter Gerinnungsstörung unumgänglich sein, um den fatalen Ausgang zu verhindern. Die aktuell in der Geburtshilfe vorherrschende Meinung, als Ultima Ratio den
Uterus zu exstirpieren, wird in Anbetracht der Literatur kritisch diskutiert. Im hämorrhagischen Schock, kombiniert mit einer schweren Gerinnungsstörung, eine Intervention zu starten, für welche ein durchschnittlicher Blutverlust von 3325,6 ± 1839,2 ml und eine Operationsdauer von 157,1 ± 75,4 Minuten angegeben wird (51), zwingt zur differenzierten Betrachtung. Die Kennzahl zum Trainingszustand des OP-Teams mit 0,8– 1,39 postpartalen Hysterektomien auf 1000 Geburten als weiterer limitierender Faktor darf nicht ausser Acht gelassen werden (52, 53). Aus diesem Grund empfiehlt der Algorithmus in der Situation der letalen Trias – anhaltende Blutung, hämorrhagischer Schock und Koagulopathie – ein Vorgehen in drei Phasen:
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D-A-CH-Konsensusteam Managementalgorithmus Postpartale Blutung
I PD Dr. med. Wolfgang Arzt, Abt. für Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Landesfrauen- und Kinderklinik Linz (A)
I Prof. Dr. med. Christoph Brezinka, Universitätsklinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Department Frauenheilkunde (A)
I Prof. Dr. med. Kinga Chalubinski, Universitätsfrauenklinik, Medizinische Universität Wien (A) I Prof. Dr. med. Dietmar Fries, Klinische Abt. für Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin,
Medizinische Universität Innsbruck (A) I Prof. Dr. med. Thierry Girard, Departement Anästhesie, UniversitätsSpital Basel (CH)* I Prof. Dr. med. Wiebke Gogarten, Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und
Schmerztherapie, Klinikum Harlaching, Städtisches Klinikum München (D) I Prof. Dr. med. Bernd-Joachim Hackelöer, Klinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin,
Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg (D) I Prof. Dr. med. Hanns Helmer, Universitätsfrauenklinik, Medizinische Universität Wien (A) I Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich, Klinik für Geburtsmedizin, Charité – Universitätsmedizin
Berlin (D) I Prof. Dr. med. Irene Hösli, Abt. Geburtshilfe und Schwangerschaftsmedizin, UniversitätsSpi-
tal Basel (CH) I Prof. Dr. med. Peter Husslein, Universitätsfrauenklinik, Medizinische Universität Wien (A) I Prof. Dr. med. Franz Kainer, Diakonie Neuendettelsau – Klinik Hallerwiese, Geburtshilfe und
Pränatalmedizin, Nürnberg (D) I Prof. Dr. med. Uwe Lang, Universitätsklinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Medizini-
sche Universität Graz (A) I Dr. med. Manfred G. Mörtl, Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Perinatalzentrum, Klini-
kum Klagenfurt am Wörthersee (A)*# I Dr. med. Georg Pfanner, Abt. für Anästhesiologie und Intensivmedizin, LKH Feldkirch (A) I Prof. Dr. med. Werner Rath, Universitätsfrauenklinik, Universitätsklinikum RWTH Aachen (D) I Prof. Dr. med. Dietmar Schlembach, Universitätsfrauenklinik, Universitätsklinikum RWTH
Aachen (D)*# I Prof. Dr. med. Ekkehard Schleussner, Universitätsfrauenklinik, Universitätsklinikum RWTH
Aachen (D) I Prof. Dr. med. Horst Steiner, Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Para-
celsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg (A) I Prof. Dr. med. Daniel Surbek, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital, Medizinische
Universität Bern (CH) I Prof. Dr. med. Roland Zimmermann, Klinik für Geburtshilfe, Universitätsspital Zürich (CH)
* = Hauptverantwortliche Autoren bei der Manuskripterstellung # = Leitung des Konsensusteams
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I Phase 1 Chirurgische Blutstillung in einer akzeptablen Zeitspanne auch mit chirurgisch-geburtshilflicher «Basisexpertise» per Pfannenstiel- oder medianer Laparotomie, Eventeration des Uterus mit Zug nach kranial und Uterusmassage sowie Setzen von atraumatischen Klemmen im Bereich der Aa. uterinae, um die Perfusion zu minimieren.
I Phase 2 Operationspause und Stabilisierungsphase mit Korrektur von Volämie, Temperatur, Säure/Basenhaushalt und Koagulation durch die beschriebenen anästhesiologisch-intensivmedizinischen Massnahmen.
I Phase 3 Definitive (chirurgische) Versorgung (Kompressionsnähte, Gefässligaturen, Hysterektomie) der jetzt stabilen Patientin durch einen Operateur mit entsprechender chirurgischer Expertise. Bei vorhandener Infrastruktur kann hier optional auch eine interventionell radiologische Embolisation der zuführenden uterinen Arterien vorgenommen werden (54).
Kreislaufstabilität Ist die Patientin kreislaufstabil, empfiehlt der Algorithmus die definitive Versorgung entsprechend der oben beschriebenen Phase 3.
Zusätzliche Bemerkungen
Gerinnungsanalysen Die herkömmlichen Gerinnungsanalysen (Prothrombinzeit, aktivierte partielle Thromboplastinzeit, Fibrinogenbestimmung) sind für das Monitoring der Koagulopathie bei der PPH wenig geeignet: Die Resultate sind erst nach einer zeitlichen Verzögerung verfügbar, zudem wird die Koagulation in vivo durch diese Untersuchungen nur ungenügend abgebildet. Patientinnennahes (real-time-, bedsideoder point-of-care-)Monitoring wie die Thromboelastometrie (ROTEM®) respektive die Thromboelastografie (TEG®) hat aus diesem Grund an Bedeutung gewonnen (55). Diese Untersuchungen können im Kliniklabor durchgeführt werden, und eine einfache Verbindung (virtual network computing, VNC) erlaubt es, die entsprechenden Kurven am Behand-
lungsort online zu verfolgen. Kürzlich publizierte Referenzwerte am Ende der Schwangerschaft sind für das FIBTEM 15–38 mm im MCF (44, 56) und im TEG eine MA von 64–86 mm (45). Steht eine solche Messung nicht zur Verfügung und handelt es sich um eine massive postpartale Blutung, sollte zusätzlich zum Antifibrinolytikum mit 2–4 g Fibrinogen therapiert werden.
Rekombinanter Faktor VII Der Nutzen des rekombinanten Faktors VIIa (off label use) als Ultima Ratio zur Vermeidung einer Hysterektomie oder zur Wiederherstellung der Hämostase nach einer Hysterektomie wird derzeit diskutiert. Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Präparates sind hierbei jedoch die Korrektur einer bestehenden Azidose (pH ≥ 7,2), ein ausreichender Fibrinogenspiegel (> 1,5 g/l), eine Körperkerntemperatur > 35° C sowie der Ausschluss beziehungsweise die Therapie einer Hyperfibrinolyse und eine Thrombozytenzahl > 50 Gpt/l (14, 43).
Transfer der Patientin Da der Transport einer kreislaufinstabilen Patientin ein grosses Risiko darstellt, gilt es – abhängig von den organisatorischen Voraussetzungen der betreuenden Einheit – im Verlauf des Managements einer PPH den Transfer der kreislaufstabilen Patientin zu überdenken. Hier gilt es, bereits im Vorfeld den Handlungsablauf zwischen Zielkrankenhaus und transferierendem Krankenhaus schriftlich festzuhalten (57). Alternativ kann – wenn entsprechende Vereinbarungen bestehen – bei Instabilität der Patientin auch ein Expertenteam herbeigeholt werden.
Training Das geburtshilfliche und anästhesiologische Personal muss für den Notfall eine ausreichende Expertise trotz geringer Fallzahl besitzen. Die Seltenheit, mit der das Ereignis für den Einzelnen auftritt, sowie die vitale Bedrohung in der Situation erfordern ein strukturiertes Vorgehen nach vorgegebenen Handlungsalgorithmen sowie das wiederholte Training dieser Notfallsituation im Team (z.B. durch regelmässige Simulationsübungen in den jeweiligen Kliniken bis hin zu Teamübungen im Simulationskreisssaal) (58, 60).
Zusammenfassung
I Die postpartale Blutung (PPH) zählt zu den Hauptursachen der Mütter-
sterblichkeit auch in der westlichen
Welt. Die PPH stellt eine Notfall-
situation dar, die eine rasche Ent-
scheidung und vor allem eine exakte
Diagnose und eine exakte Ursachen-
analyse notwendig macht, um die kor-
rekten therapeutischen Massnahmen
in interdisziplinärer Zusammenarbeit
rechtzeitig einzuleiten.
I Neben etablierten Leitlinien ist der Nutzen standardisierter Therapiealgo-
rithmen belegt. Ein Therapiealgorith-
mus für den geburtshilflichen Notfall
«postpartale Hämorrhagie» fehlte bis-
her im deutschsprachigen Raum. Die
Erstellung des länderübergreifenden
(Deutschland – Österreich – Schweiz =
D-A-CH) «Handlungsalgorithmus Post-
partale Blutung» erfolgte interdiszi-
plinär, basierend auf den bisherigen
Leitlinien der jeweiligen Fachgesell-
schaften (Anästhesie und Intensivme-
dizin, Geburtshilfe) der drei Länder so-
wie den internationalen vergleichba-
ren Algorithmen zur Therapie der
PPH.
I Das geburtshilfliche und anästhesiologische Personal muss für den Notfall eine ausreichende Expertise trotz
geringer Fallzahl besitzen. Die Selten-
heit, mit der das Ereignis für den Ein-
zelnen auftritt, sowie die vitale Bedro-
hung in der Situation erfordern ein
strukturiertes Vorgehen nach vorge-
gebenen Handlungsalgorithmen. Das
kann mit dem nun ausgearbeiteten
Algorithmus erfolgen. Darüber hinaus
bietet dieser Algorithmus die Mög-
lichkeit, den Notfall im interdiszi-
plinären Team zu trainieren.
I
Prof. Dr. med. Dietmar Schlembach (Korrespondenzadresse) Universitätsklinikum Jena Abt. für Geburtshilfe / Pränatale Diagnostik und Fetale Physiologie Bachstrasse 18 D-07732 Jena E-Mail: dietmar.schlembach@med.uni-jena.de
Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Die Quellenliste ist einsehbar unter www.ch-gynaekologie.ch/GYNÄKOLOGIE 01/2014 oder über die Redaktion erhältlich: hirrle@rosenfluh.ch
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