Transkript
SCHWERPUNKT
Die überaktive Blase
Differenzialdiagnostik und therapeutisches Management
Die über- oder hyperaktive Blase kann die Befindlichkeit der Betroffenen erheblich stören. Abklärung und Therapie sollen patientinnenorientiert in verschiedenen Stufen erfolgen. Bei Therapieversagen trotz Verhaltensänderung, Blasentraining und Anticholinergika als primäre Therapien ist die intravesikale Injektion von Botulinumneurotoxin, aber auch Neuromodulation eine sehr wirksame Option. Neu erweitern β3-Adrenozeptor-Agonisten in Europa seit 2013* das therapeutische Spektrum.
DANIELE PERUCCHINI, CORNELIA BETSCHART, DAVID SCHEINER, DANIEL FINK
Im Jahr 2002 hat die International Continence Society (ICS) eine neue Definition für die bisher als Dranginkontinenz oder Reizblase bezeichnete Erkrankung eingeführt (Abrams et al. 2002). Seither wird von einer «Overactive Bladder» respektive einem «Overactive Bladder Syndrome» (OAB) oder auf Deutsch von einer überaktiven (oder hyperaktiven) Blase gesprochen. Diese symptomatisch orientierte Zustandsumschreibung hat zu einer Ausweitung der Diagnosestellung geführt. Als Leitsymptom wurde neu «Urgency» definiert. Darunter versteht man einen anfallsartigen, plötzlich auftretenden zwingenden Drang, Urin lassen zu müssen. Dieser Drang kann nur mit Mühe unterdrückt werden. Die überaktive Blase kann die Befindlichkeit der Betroffenen erheblich stören. In der Schweiz sind schätzungsweise 400 000 Frauen betroffen. Abklärung und Therapie sollen patientinnenorientiert in verschiedenen Stufen erfolgen.
Differenzialdiagnostik
Leitsymptom der OAB ist ein anfallsartiger, plötzlich auftretender zwingender Drang, Urin lassen zu müssen. Zur Differenzialdiagnose der OAB gehören Harnwegsinfekte, aber auch gut- und bösartige Tumoren der Harnblase und umgebender Organe, Zystozele und andere genitale Senkungsbefunde, intravesikale Fremdkörper, das Urethralsyndrom und interstitielle Zystitis, peripher- und zentralneurologische und endokrinologische Krankheiten, chronische Restharnbildung (früher: Überlaufblase) und psychogene Faktoren. In der Anamnese sollten Fragen nach Miktionsfrequenz (> 7 x pro Tag, Nykturie > 1 x nachts) und Hämaturie nicht fehlen. Viele Patientinnen können zur Miktionshäufigkeit tagsüber ohne Miktionstagebuch
* voraussichtlich im Verlauf 2014 auch in der Schweiz.
keine genaue Antwort geben, wohl aber zur Nykturie. Hinweis: Wenn Patientinnen auf den Standort von Toiletten zu achten beginnen und die WC ihrer Umgebung kennen, ist dies ein deutlicher Hinweis auf eine mögliche überaktive Blase. Für die Differenzialdiagnosen Painful Bladder («interstitielle Zystitis») und «Harnwegsinfekt» sollte nach Schmerzen vor, während und nach der Miktion gefragt werden. Eine Makrohämaturie sollte als Hinweis für einen Tumor der ableitenden Harnwege ebenso erfragt werden wie Begleiterkrankungen, die eine überaktive Blase verursachen oder unterstützen können: Dies sind Diabetes und Herzinsuffizienz, besonders bei Nykturie (evt. Malleolarödeme), neurologische Grunderkrankungen, infektiologische Erkrankungen wie HIV und sexuell übertragbare Krankheiten. Bei der Nykturie sollte die Frage gestellt werden, ob die Patientin vom Harndrang tatsächlich geweckt wird oder nur Wasser lassen geht, weil sie ohnehin wach ist. Trigger können bei Nahrungsmitteln und Getränken ermittelt werden. Eine Medikamentenanamnese identifiziert Substanzen, die eine Miktionsproblematik begünstigen können. Dazu gehören: Antidepressiva, Kalziumantagonisten, Diuretika und zahlreiche Medikamente mit anticholinerger Potenz. Der korrekt abgenommene Urinstatus und Urikult ist essenziell zum Ausschluss eines Harnwegsinfektes, der besonders bei der älteren Frau als einziges Symptom eine OAB aufweisen kann. Ebenfalls ist der Urinstatus wichtig zum Ausschluss einer Mikrohämaturie (> 2 EC/HPF), als Zeichen für ein neoplastisches Leiden der unteren Harnwege, ein Steinleiden oder einen intravesikalen Fremdkörper. Eine sterile Leukozyturie kann ein Zeichen für eine urogenitale TBC sein, die mittels PCR ausgeschlossen werden kann. Bei wiederholten Infekten gibt der Urinstatus Auf-
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schluss über Infektpersistenz oder Neuinfektion. Grosszügig soll mittels Ultraschall die Restharnmenge nach Miktion bestimmt werden, um eine chronische Restharnbildung auszuschliessen.
Primäre Therapieoptionen
Die primäre Therapie der OAB umfasst die Verhaltenstherapie, das Blasen- und Beckenbodentraining und die medikamentöse Therapie. All diese etablierten Therapieformen zielen darauf ab, die Speicherfunktion der Blase zu verbessern und den Harndrang zu verzögern. Die Patientinnen sollten über die Stufentherapie (Abbildung 1) am Anfang der Behandlung informiert werden. Die Evaluation der primären Therapie erfolgt nach 4 bis 6 Wochen, wozu die Patientin idealerweise 3 Tage vor der Konsultation ein Miktionstagebuch führt.
Verhaltensänderungen/Verhaltenstherapie Für folgende Änderungen des Lebensstils gibt es Evidenzen: I Einschränkung der Trinkmenge um bis zu 25% I Flüssigkeitsaufnahme am Vormittag und frühen
Nachmittag I Verzicht auf scharfe Gewürze, Nikotin, künstliche
Süssstoffe und kohlensäurehaltige Getränke I Reduktion eines übermässigen Koffeinkonsums I Gewichtsreduktion um zirka 10% bringt eine Ver-
besserung der OAB-Symptomatik um 50% I Vermeidung von Obstipation. Die Verhaltenstherapie wie auch das im Folgenden beschriebene Blasentraining bedürfen der Umstellung des Tagesablaufs und einer hohen Eigenmotivation, die nicht von allen Patientinnen aufgebracht werden kann. Diese konservativen Therapieformen erfordern zudem viel Engagement und Unterstützung vonseiten des Therapeutenteams.
Flüssigkeitsaufnahme Zum Verhaltenstraining gehört auch ein adäquates Flüssigkeitsmanagement. «Viel trinken» ist modern. Patientinnen nehmen vielfach an, dass der Nutzen einer hohen Flüssigkeitszufuhr darin bestünde, den Körper zu entgiften und die Stoffwechselfunktion der inneren Organe zu unterstützen. Die in der Laienpresse häufig verbreitete Trinkaufforderung ist in Fachkreisen umstritten. Die normale Trinkmenge regelt sich durch das Durstgefühl und kann – eine normale Nierenfunktion vorausgesetzt – in unseren gemässigten Breitengraden mit zirka 1,5 Litern angegeben werden (24 ml/kg Körpergewicht). Patientinnen mit überaktiver Blase dürfen die Trinkmenge auf 1 bis 1,5 Liter reduzieren. Im Weiteren hält sich hartnäckig das Gerücht, wonach koffeinhaltige Getränke wie Kaffee oder Tee nicht als Flüssigkeitslieferanten betrachtet werden sollten. Neuere Studien zeigen jedoch, dass Menschen, die regelmässig Kaffee oder
Basisabklärung
Blasentagebuch Restharn Urin: Infekt
Mikrohämaturie Gyn. Untersuchung
Neurol. Leiden?
Primäre Therapie
Verhaltenstherapie (Gewichtsabnahme, Trinkmenge, Nikotin,
Ko ein u.a.m.)
Blasentraining BeckenbodenPhysiotherapie Anticholinergica β3-Mimetika (?)
Weitergehende Abklärung
Urodynamik Zystoskopie (evt. Biopsien) Perinealschall Evt. Uro-CT
Sekundäre Therapie
Evt. β3-Mimetika Biotoxinjektionen Neuromodulation (peripher/sacral)
Blasenaugmentation
Abbildung 1: Stufenschema in der Diagnostik und Behandlung der OAB
Tee trinken, diese Getränke durchaus in die tägliche Trinkmenge mit einbeziehen dürfen, denn regelmässiger und nicht übermässiger Kaffeekonsum hat keine entwässernde Wirkung.
Blasen- und Beckenbodentraining Ziel des Blasentrainings ist, das im Miktionstagebuch erfasste kürzeste inkontinenzfreie Intervall sukzessive zu verlängern. Die Patientin entleert ihre Blase dabei vor dem Harndrang, was ihr ein Gefühl von Sicherheit in Bezug auf die Blasenfunktion vermittelt. Schrittweise soll so der Abstand der einzelnen Blasenentleerungen erhöht werden, bis ein 2 bis 3 Stunden langes Miktionsintervall respektive eine Blasenkapazität von mindestens 300 ml bei jeder Miktion erreicht ist. Eine weitere konservative Therapieform ist die Miktion nach der Uhr. Sie ist Frauen zu empfehlen, bei denen sich zystotonometrisch eine terminale pathologische Detrusorüberaktivität zeigt. Dabei kommt es vor Erreichen der maximalen Blasenkapazität zu einer pathologischen Detrusorkontraktion, gegebenenfalls mit Urinabgang. Hier kann die Patientin lernen, vor Erreichen der kritischen Blasenfüllung – und somit «nach der Uhr» – die Toilette aufzusuchen. Auch Beckenbodentraining bringt einen nachweislichen Erfolg in der Behandlung der hyperaktiven Blase. Beckenbodenkontraktionen, wie sie auch für die Behandlung der Belastungsinkontinenz propagiert werden, stärken nicht nur den M. levator ani und M. sphincter urethrae, sondern hemmen auch Detrusorkontraktionen. Die vaginale Elektrostimulation muss niederfrequenter (5–10 Hz) als bei der Belastungsinkontinenz durchgeführt werden. Die Stimulation des Nervus pudendus hemmt die sakralen Efferenzen S2–S4 und somit den Detrusormuskel.
Medikamentöse Therapie
Die Pharmakotherapie der OAB zielt darauf ab, die Hyperaktivität des Detrusormuskels durch antimuskarine (anticholinerge) Medikamente (M2- und M3-
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Rezeptorblocker) zu vermindern. Zudem ist eine Wirkung der Antimuskarinika auf das Urothel nachgewiesen, womit die Afferenzen und dadurch der oftmals verfrühte Harndrang günstig beeinflusst werden. Die medikamentöse Therapie gehört ebenfalls zu den primären Therapieoptionen und wird hier eigenständig diskutiert. Ob eine medikamentöse Therapie gleichzeitig mit obigen Massnahmen begonnen werden soll, muss individuell entschieden werden.
Therapieoptimierung Die Wirksamkeit der anticholinergen Medikamente liegt gemäss verschiedenen Vergleichsstudien bei zirka 60 bis 75%. Zur Optimierung der medikamentösen Therapie, insbesondere zur Verminderung der Mundtrockenheit, wurden von der Industrie mit Erfolg Retardpräparate, rezeptoraffinitive Anticholinergika und ein transdermal anwendbares System (Pflaster) entwickelt (Tabelle). Auch das Prinzip der «individuellen Dosiseskalation» hat zur Verbesserung der Verträglichkeit geführt. Hierbei beginnt die Patientin mit der niedrigsten Dosierung und kann bei ungenügender Wirkung nach 2 bis 4 Wochen das Medikament auf die nächst höhere Dosis steigern. Die lokale Östrogenisierung hat bei postmenopausalen Patientinnen nach wie vor ihre Bedeutung und vermindert sowohl Harnwegsinfekte als auch Drangbeschwerden. Alternative Heilmethoden sind bei Patientinnen mit OAB beliebt und können bei entsprechendem Wunsch immer ausprobiert werden. Mit den konservativen, individuell anpassbaren Therapieoptionen kann vielen Patientinnen eine zufriedenstellende Besserung der Lebensqualität angeboten werden. Dennoch spricht ein Teil nicht genügend auf diese Therapien an, oder die Nebenwirkungen der Anticholinergika sind intolerabel. In dieser Situation muss heute die Botulinumtoxin-Therapie disku-
tiert werden. Alternativ können hoffentlich ab 2014 auch in der Schweiz β3-Adrenozeptor-Agonisten angewendet werden.
Neuentwicklungen Neu wird voraussichtlich 2014 Mirabegron (Betmiga®) zur Behandlung der OAB auf den Schweizer Markt kommen. Das Präparat wurde bereits in EU-Ländern (2013; hier Handelsname: Betmiga®), in den USA (Ende 2012) und in Japan (2011) eingeführt. Eine weitere Substanz ist Solabegron. Bei den β3-Adrenozeptor-Agonisten handelt es sich um eine neue Klasse von Medikamenten mit neuem Wirkungsmechanismus und einem Nebenwirkungsprofil, das sich von den Anticholinergika unterscheidet. β3-Adrenozeptoren vermitteln die Relaxation des M. detrusor, anticholinerge Nebenwirkungen sind deshalb seltener zu erwarten. Während bei der bisherigen medikamentösen Therapie die Blockade der parasympathischen Wirkung im Vordergrund ist (Abbildung 2), entfalten die β3-Adrenozeptor-Agonisten die Wirkung über eine Stimulation des Sympathikus. Im Plazebovergleich bewies es über 12 Wochen gute Wirksamkeit in der Behandlung der Primärsymptome, Dranginkontinenz und erhöhte Miktionsfrequenz. Das Nebenwirkungsprofil von Mirabegron unterscheidet sich von dem der Anticholinergika, insbesondere bezüglich der Mundtrockenheit, welche im Plazebobereich liegt. Die häufigsten therapiebedingten Nebenwirkungen waren in den Studien Hypertonie, Harnweginfekte, Kopfschmerzen und Nasopharyngitis. Aufgrund der bisher publizierten Studien zu Mirabegron (und Solabegron) scheinen die selektiven β3-Adrenozeptor-Agonisten eine neue, effektive und auch recht gut tolerierte Klasse von Medikamente darzustellen, welche zur Behandlung von Patienten mit hyperaktiver Blase zur Verfügung stehen. Im Vergleich zu den Anticholiner-
Tabelle:
Medikamentöse Therapie der OAB. Es sind die heute in der Schweiz gebräuchlichen Antimuskarinika (Anticholinergika) aufgelistet
Wirkstoff Tolterodin ER Oxybutynin IR Oxybutynin ER
Trospiumchlorid Darifenacin
Solifenacin
Fesoterodine
Markenname Detrusitol SR® 4 mg Kaps. Ditropan® 5mg Tbl. Lyrinel® OROS Tbl.
Kentera® Hautpflaster Spasmo Urgenin® Neo 20 mg Drg. Emselex® 7,5 mg Emselex® 15 mg Vesicare®
Toviaz®
Dosierung 1 x 4 mg/Tag abends 3 x 5 mg/Tag 1 x 5 mg/Tag 1 x 10 mg/Tag 1 x 15 mg/Tag 2 x/Woche 2 x 20 mg/Tag 1 x 7,5 mg/Tag 1 x 15 mg/Tag 1 x 5 mg/Tag 1 x 10 mg/Tag 1 x 4 mg/Tag 1 x 8 mg/tag
Packung 14, 28, 56 60 30/90 30/90 30/90 8 20, 60 14, 56 14, 56 30, 90 30, 90 14, 84 14, 84
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gika sind bisher natürlich nur eine geringe Zahl von Patientinnen in Studien eingeschlossen worden. Auch der Effekt auf das Kreislaufsystem, insbesondere auf den Blutdruck, wird weitere Erfahrungsberichte benötigen. Ob β3-Adrenozeptor-Agonisten die Anticholinergika als Erstlinientherapie ablösen werden, welche Stufentherapie sich durchsetzen wird und ob eine Kombination aus β3-Adrenozeptor-Agonisten und Antimuskarinika sinnvoll ist (eine Studie dazu läuft in Japan), werden weitere Studien respektive wird die klinische Praxis demnächst zeigen.
Botulinumneurotoxin-Injektionen in die Blase
Das vom Erreger Clostridium botulinum gebildete Neurotoxin besteht aus einer schweren Kette, die für die Internalisierung des Toxins ins Zytosol am Nervenende verantwortlich ist, und aus einer leichten Kette, die die Fusion der azetylcholinhaltigen Vesikel mit der Zellmembran und somit dessen Ausschüttung in den synaptischen Spalt verhindert. Die daraus resultierende Chemodenervation nach zystoskopischer Botulinumneurotoxin-Injektion in den Musculus detrusor vesicae führt zu einer eindrücklichen Reduktion der Beschwerden der OAB. Verschiedene klinische Studien zeigen Erfolgsraten zwischen 60 und 96% bei der idiopathischen überaktiven Blase. Die Injektionen bei der OAB erfolgen üblicherweise in einer Dosierung von 100 Einheiten Botulinumneurotoxin Typ A. In dieser Dosierung sind die unerwünschten Wirkungen selten (ca. 5%). Nebenwirkungen wie symptomatische Restharnmengen und Harnverhalt steigen mit der Menge an injiziertem Botulinumneurotoxin sowie mit dem Vorliegen psychiatrischer oder metabolischer Komorbiditäten. So sind wir zurückhaltend in der Indikationsstellung bei Patientinnen mit ungenügend eingestelltem Diabetes mellitus oder Patientinnen, die anticholinerg wirksame Psychopharmaka einnehmen, da bei ihnen die Gefahr des Harnverhalts mit der Notwendigkeit des Selbstkatheterismus während einiger Monate erhöht ist. Die Wirkung an der glatten Muskulatur des Detrusor vesicae ist mit durchschnittlich 9 Monaten erheblich länger als jene an der Skelettmuskulatur, wo die Wirkung meist nur 6 bis 12 Wochen anhält. Eine Zwischenanalyse eigener Daten zeigte im 5-Jahres-Verlauf eine Reinjektionsrate von 27%, wobei die zweite Injektion im Durchschnitt 2 Jahre nach der Erstinjektion gewünscht wurde. Bei der neurogen hyperaktiven Blase werden die Kosten von der Krankenkasse seit 2012 übernommen. Derzeit muss vor der Botulinumneurotoxin-Anwendung bei der idiopathischen hyperaktiven Blase noch eine Kostengutsprache der Krankenkasse eingeholt werden. Grosse Phase-III-Studien zur idiopathischen
Abbildung 2: Wirkmechanismen der Anticholinergika und β3-AdrenozeptorAgonisten im Vergleich.
β3-Adrenorezeptor-Agonisten haben ein vielversprechendes therapeutisches Potenzial. Das Wirkprinzip unterscheidet sich von den heutigen Anticholinergika. Bei der bisherigen medikamentösen Therapie steht die Blockade der parasympathischen Wirkung im Vordergrund (rechts im Bild). Die neuen β3-Adrenozeptor-Agonisten entfalten die Wirkung über eine Stimulation des Sympathikus (links im Bild). In der Speicherphase, in der sich der Urin in der Harnblase sammelt, überwiegt die sympathische Nervenstimulation. Die Nervenendigungen setzen Noradrenalin frei, das vorwiegend die β3-Adrenozeptoren in der Harnblasenmuskulatur aktiviert und dadurch den glatten Harnblasenmuskel entspannt. Dagegen wird die Harnblase in der Harnentleerungsphase vorwiegend vom parasympathischen Nervensystem kontrolliert. Aus den Nervenendigungen freigesetztes Acetylcholin stimuliert cholinerge M2- und M3-Rezeptoren und löst eine Harnblasenkontraktion aus. Die Aktivierung des M2-Weges hemmt dabei zusätzlich die über β3-Adrenozeptoren induzierte Zunahme von cAMP. Daher sollte die β3-Adrenozeptor-Stimulation den Entleerungsprozess nicht stören. Prinzipiell könnten β3-Adrenozeptor-Agonisten und Anticholinergika kombiniert werden, eine Studie dazu ist in Japan im Gang.
+ = Aktivierung; – = Inhibition.
hyperaktiven Blase in Europa und Amerika sind abgeschlossen, und es kann gehofft werden, dass die Kosten für diese teilweise sehr eindrücklich wirksame Therapie künftig auch für diese Indikation in der Schweiz übernommen werden.
Neuromodulation/ Blasenaugmentation
Bei refraktärer OAB-Symptomatik kann für eine Minderheit der Patientinnen eine Neuromodulationstherapie indiziert sein. Über kontinuierliche elektrische Impulse, welche von dem im Gesäss implantierten Schrittmachergerät ausgehen und über feine Drähte an die sakralen Wurzeln von S2/S3 gelangen, wird eine anhaltende Drosselung des imperativen Dranges, der hohen Miktionsfrequenz und der Dranginkontinenz bei über 70% der Patientinnen erreicht – sofern die Patientinnen vorher während einer 1- bis 2-wöchigen Testphase auf die Testelektroden angesprochen haben. Als Ultima Ratio kann bei chronischer Blasenwandveränderung wie radiogener
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Schrumpfblase die Blasenkapazität durch ein Interponat aus Ileum- oder Kolonschlingen erhöht werden.
Zusammenfassung
Mit den heutigen modernen Therapieoptionen kann bei unseren Patientinnen in vielen Fällen eine deutliche Verbesserung der Symptomatik erreicht werden. Wenn möglich, empfiehlt sich das Ausschöpfen konservativer Therapiemassnahmen. Eine gute Patientinnenführung und Unterstützung ist dabei sehr wichtig. Die anticholinerge medikamentöse Therapie zeigt in verschiedenen Vergleichsstudien eine Wirksamkeit von 60 bis 75%. Neu stehen sogenannte β3Adrenozeptor-Agonisten in Europa seit Anfang 2013 zur Verfügung und erweitern die Therapiemöglichkeiten. Die Zulassung in der Schweiz wird sich demnächst entscheiden. Mit Botulinumneurotoxin-AInjektionen steht eine bewährte minimalinvasive The-
rapie zur Verfügung, die gute Resultate zeigt. Es ist
zu hoffen, dass die Kosten 2014 endlich von den
Krankenkassen auch für die idiopathische OAB über-
nommen werden. In selteneren Fällen kann auch die
Neuromodulation und in wenigen Fällen die Blasen-
augmentation indiziert sein.
I
PD Dr. med. Daniele Perucchini (Korrespondenzadresse) Blasenzentrum Stadelhofen Gottfried Keller-Str. 7 8001 Zürich E-Mail: info@blasenzentrum.ch und Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich 8091 Zürich
Quelle: Perucchini D et al.: Overactive Bladder. Fragen und Antworten, Unimed-Verlag. Bremen 2008.
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