Transkript
SCHWERPUNKT
Die Belastungsinkontinenz
Diagnostik und Therapie
Die Belastungsinkontinenz ist überaus häufig, doch nur ein Drittel der betroffenen Frauen sucht ärztliche Hilfe. Dabei kann mit den heutigen Therapieoptionen meistens Heilung oder zumindest eine deutliche Verbesserung der Inkontinenzsituation angeboten werden. In dieser Übersicht wird das aktuelle Vorgehen in Diagnostik, konservativer und minimalinvasiver Therapie vorgestellt.
DAVID SCHEINER, DANIELE PERUCCHINI, DANIEL FINK, CORNELIA BETSCHART
Die International Continence Society (ICS) definiert Harninkontinenz als jeglichen unwillkürlichen Urinverlust (1). Von Belastungsinkontinenz spricht man bei unwillkürlichem Urinverlust, der zeitgleich zu körperlicher Aktivität wie Husten, Niesen oder Lachen auftritt (engl. «stress urinary incontinence», SUI). Zunehmendes Alter, Schwangerschaften und Geburten, Menopausenstatus, Zustand nach Hysterektomie, Adipositas, kognitive Beeinträchtigung und Rauchen, aber möglicherweise auch eine vererbte Bindegewebeschwäche gelten als Risikofaktoren. DeLancey beschreibt in seiner «Hammocktheorie», wie die Urethra auf der endopelvinen Faszie und vorderen Scheidenwand liegt, die lateral am Arcus tendineus fasciae pelvis aufgehängt ist und durch den M. levator angespannt und stabilisiert wird (2). So wird bei intraabdominaler Druckerhöhung (z.B. Husten) die Urethra gegen diese hängemattenähnliche Unterstützungsschicht gedrückt und so ihr Lumen verschlossen. Gemäss «Integraltheorie» von Petros und Ulmsten ist diese Unterstützungsschicht wie ein Trampolin vorne an den Ligg. pubourethralia, seitlich am Arcus tendineus fasciae plevis, nach dorsal an den Ligg. sacrouterina und an den Ligg. cardinalia aufgehängt (3). Ist dieser komplexe Mechanismus respektive die suburethrale Aufhängung (Ligg. pubourethralia) beispielsweise durch Geburten oder im Alter geschädigt oder geschwächt (hypermobil), kommt es zur Belastungsinkontinenz (Urethralinsuffizienz).
Häufigkeit und Gesundheitskosten
Die Prävalenz der Harninkontinenz ist altersabhängig und beträgt in der westlichen Welt bei Frauen 24 bis 45% (Abbildung 1) (4). In der Schweiz wird sie auf 10% geschätzt (Abbildung 2). Das Risiko, wegen Beckenbodenschwäche (Harninkontinenz oder Genitaldeszensus) bis zum Alter von 80 Jahren operiert zu werden, beträgt 11% (5). Wenn auch nicht lebensbedrohlich, so reduziert Harninkontinenz bei 2 von 3 Be-
troffenen doch die Lebensqualität und kann zum sozialen Rückzug führen. In den USA werden die jährlichen Kosten auf 17,5 Milliarden US-Dollar geschätzt (6). Darunter sind Arztkonsultationen und Therapien (Chirurgie, Medikamente, Inkontinenzhilfen, Katheter, Physiotherapie), Folgekosten für Wäsche, neue Kleidung, Haut- oder Harnweginfekte sowie Reinigung für Teppiche oder Möbel aufgelistet. Harninkontinenz ist somit nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein finanzielles Problem, und doch sucht nur ein Drittel der Betroffenen ärztliche Hilfe (7). Dabei können erfolgreiche Therapien angeboten werden.
Diagnostik
Es wird zwischen der Basisdiagnostik und der weiterführenden urogynäkologischen Abklärung unterschieden.
Basisdiagnostik Vor Behandlungsbeginn ist ein Harnweginfekt (HWI) als Ursache von häufigem Harndrang («Frequency» bzw. Pollakisurie) und Inkontinenz sowie ein erhöhter Restharn als Ursache einer Überlaufinkontinenz auszuschliessen oder gegebenenfalls zu behandeln. Auch nach einem Genitaldeszensus soll gesucht werden, da dieser Harnweginfekte und Harnverhalt verursachen kann. Die Anamnese erfasst – nebst gynäkologisch-geburtshilflicher Anamnese – Art, Beginn, Dauer und Schweregrad der Symptome, aber auch Deszensusbeschwerden und urologische Symptome (wie Hämaturie, Urogenitalinfektionen), neurologische und endokrinologische Grunderkrankungen, Operationen, Medikamenteneinnahme sowie gastrointestinale Beschwerden. Trinkmenge, Miktionsfrequenz und -volumina, Nykturie (nächtliches Wasserlösen), imperativer Harndrang, Inkontinenzepisoden und Vorlagenverbrauch können von der Patientin in einem Miktionstagebuch über 2 bis 3 Tage objektiv er-
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SCHWERPUNKT
Abbildung 1: Die Abbildung zeigt die altersabhängige Prävalenz von Belastungsinkontinenz, überaktiver Blase, Mischinkontinenz (Belastungsinkontinenz und überaktive Blase gleichzeitig) sowie anderer Inkontinenzformen aus der norwegischen EPINCONT-Studie (4). Jede vierte Teilnehmerin gab eine Harninkontinenz an, wovon die Hälfte eine Belastungsinkontinenz hatte.
fasst werden. In der Spekulumeinstellung werden Genitaldeszensus und -trophik beurteilt und vesikovaginale Fisteln ausgeschlossen. Lässt man die Patientin bei voller Blase husten, und kommt es dabei hustensynchron zu sichtbarem Urinabgang am Meatus externus, dann liegt eine Belastungsinkontinenz vor (positiver Hustentest). Der Restharn kann sonografisch oder mittels Katheterismus bestimmt werden. Die Sonografie liefert akkurate Werte im Bereich von 85 bis 94% (8). Bei erhöhten Restharnwerten soll die weiterführende Abklärung erfolgen.
Urogynäkologische und urodynamische Abklärung Bei unauffälliger Basisuntersuchung kann die Behandlung eingeleitet werden (9). Bei auffälligen Befunden sowie bei Versagen der konservativen Massnahmen, vor operativer Therapie, bei Rezidivinkontinenz, bei komplexer Vorgeschichte oder neurologischen Erkrankungen, bei jeder unklaren Inkontinenz, bei zusätzlicher Drangsymptomatik oder sensomotorischer Blasenstörung, bei Miktionsstörung, Restharnproblematik oder rezidivierenden HWI sowie bei Harninkontinenz nach radikaler und rekonstruktiver Chirurgie im kleinen Becken ist die weiterführende urogynäkologische und urodynamische Abklärung empfohlen (10). Diese dient der weiteren Objektivierung und Quantifizierung der Harninkontinenzsymptome, was auch bei älteren Patientinnen sinnvoll ist (11). Mit der urodynamischen Untersuchung werden die Funktionsweise der Speicher- und Entleerungsfunktion der Harnblase sowie der Tonus der Harnröhre mithilfe von Druckableitungen untersucht. Die Urodynamik umfasst die Füllzystometrie, welche unter kontinuierlicher Füllung der Blase die Drangbeschwerden auslösen kann und als Detrusorkontraktionen aufzeichnet.
Abbildung 2: Prävalenz der Harninkontinenz bei Frauen in der Schweiz im Jahr 2002. In dieser repräsentativen Umfrage wurde 10 467 Teilnehmerinnen die Frage gestellt, ob sie gelegentlich Urin verlieren (Ja/Nein). Datenquelle: Schweizer Haushalt-Panel 2002.
Die Urethradruckmessung misst den Urethralverschlussdruck in Ruhe und unter Belastung, was zusammen mit der sonografisch erfassten Mobilität der Urethra einen wichtigen Hinweis für das Vorliegen einer Belastungsinkontinenz ergibt. Am Ende der Untersuchung werden in der Miktiometrie Flussgeschwindigkeit und Dauer der Miktion zur Erfassung von Blasenentleerungsstörungen aufgezeichnet. Die urodynamische Diagnostik erlaubt die bessere Einschätzung des Operationserfolgs einerseits und eine individualisiertere präoperative Patientinnenin-
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SCHWERPUNKT
Tabelle 1:
Optionen in der Behandlung der Belastungsinkontinenz bei der Frau
Therapie Lifestyle-Änderungen
Inkontinenzdevices
Beckenbodenrehabilitation/Physiotherapie Schlingenoperation (retropubisch oder transobturatorisch)
Periurethrale Injektion von Bulking agents
Prinzip Gewichtsabnahme reduziert mechanischen Druck auf den Beckenboden.
Schaffen eines Widerlagers, wodurch bei abdominaler Druckerhöhung die Urethra komprimiert werden kann.
Erfolg 58% Reduktion der Belastungsinkontinenzepisoden bei Gewichtsabnahme von 8 kg 76–84% subjektive Kontinenz oder Besserung
Stärkung des Beckenbodenmuskels und Automatisierung des Kontraktionsreflexes Rekonstruktion der pubourethralen Aufhängung, womit wieder ein suburethrales Widerlager geschaffen wird.
46 bis 75% kurzfristige subjektive Heilung resp. Besserung 90% objektive Heilung nach 11,5 Jahren
Einengen des Urethralumens 48% Erfolg nach 2 Jahren
Nebenwirkung –
Bemerkungen Compliance
Vaginale Erosionen oder Ulzerationen möglich bei langer ununterbrochener Tragedauer. Selten Toxic-Shock-Syndrom. Keine bekannt
Überbrückung bis zur Operation oder als langfristige Lösung bei multimorbider Patientin
9 Sitzungen, verlängerbar
Intraoperative Komplikationen wie Blasen-, Darm- oder Gefässverletzung. Postoperative Blasenentleerungsstöungen, Harnweginfekte, Banderosionen, bewegungsabhängige Beschwerden, Dispareunie oder Hispareunie, Reoperationen. Postoperative Harnweginfekte Restharn/Harnverhalt
Beste und langfristige Lösung mit hoher Heilungsrate bei relativ geringer Komplikationsrate. Praktisch keine Complianceprobleme. Implantatkosten ca. Fr. 850.–.
Spezialindikation intrinsische Sphinkterinsuffizienz (hypotone hypomobile Urethra), Rezidivinkontinenz, multimorbide Patientin. Eingriff in Lokalanästhesie und ambulant möglich. Nicht kassenpflichtig. Antrag für Kostengutsprache muss jeweils geholt werden. Implantatkosten ca. Fr. 1600.–.
formation andererseits. So weisen ideale Patientinnen für eine Inkontinenzschlinge eine normotone und mobile Urethra auf. Prognostisch ungünstig sind eine hypotone Urethra (maximaler Urethraverschlussdruck < 20 cm H2O) oder Detrusorkontraktionen von über 25 cm H2O in der Füllzystometrie (12, 13). Als sehr ungünstig hat sich die Kombination von hypotoner und immobiler Urethra erwiesen: Hier profitierten nur 17% der Patientinnen von der Schlingeneinlage (14). Die urodynamische Untersuchung ist eine Krankenkassenpflichtleistung. Therapie Ein geschwächter Verschlussmechanismus der Blase führt also zur Belastungsinkontinenz. Deren Behandlung basiert daher auf dem mechanischen Prinzip, den Urethralverschluss wiederherzustellen respektive zu verstärken (Tabelle 1). Konservative Therapieoptionen Lifestyle-Änderungen: Schon längere Zeit ist der Zusammenhang von Ge- wicht und Inkontinenz über den vermehrten mechanischen Druck auf den Beckenboden bekannt. In einer prospektiv randomisierten Studie mit 338 übergewichtigen Frauen (BMI [SD] 36 ± 6 kg/m2) konnte gezeigt werden, dass eine Gewichtsabnahme von 8 kg die Belastungsinkontinenzepisoden um 58% reduzierte, wogegen in der Kontrollgruppe (1,6 kg Gewichtsreduktion) die Reduktion nur 33% betrug (p = 0,02) (15). Lokale Östrogenisierung: In der Postmenopause empfehlen wir die lokale Östrogenisierung. Intravaginal verabreichtes Estriol senkt bei postmenopausalen Frauen die Inzidenz von Harnweginfektionen von 5,9 auf 0,5 pro Jahr und normalisiert bei 61% die Vaginalflora, während die Prävalenz von Enterobacteriaceae von 67 auf 31% sinkt (16). Ob aber lokal applizierte Östrogene Inkontinenzsymptome verbessern, ist nicht geklärt. Die systemische Hormontherapie hat sogar eher eine Verschlechterung der Inkontinenz gezeigt (HERS-Studie) (17). 14 GYNÄKOLOGIE 5/2013 SCHWERPUNKT Inkontinenzbinden: Moderne Inkontinenzbinden sind im Handel frei erhältlich und werden in der Schweiz je nach Schweregrad von den Krankenkassen unterschiedlich rückvergütet (Mittel- und Gegenstände-Liste 15.01–15.07). Physiotherapeutische Beckenbodenrehabilitation: Durch Muskeltraining wird der nach Geburten lädierte oder mit den Jahren atrophierte Beckenbodenmuskel gestärkt, was sich positiv auf den urethralen Druck auswirken kann. So kommt es bei akuter intraabdominaler Druckerhöhung (z.B. Husten) nicht mehr zum Urinverlust. Durch lang anhaltende Kontraktionen des Beckenbodens über zehn Sekunden werden die für die Stützfunktion des Beckenbodens, aber auch für den Blasen- und Analverschluss wichtigen Muskelfasern gestärkt (slow twitch fibers). Nebst dem Wiederaufbau der Beckenbodenmuskulatur ist auch die Automatisierung des Kontraktionsreflexes (guarding reflex) kurz vor physischer Belastung das Ziel. Das Beckenbodentraining kann bei initial fehlender Beckenbodenkontraktion oder nach erfolglosem Beckenbodentraining mit Elektrostimulation über vaginal eingeführte Sonden unterstützt werden. Meist sind 9 Sitzungen nötig mit einer Sitzung pro Woche. Eine Verlängerung der Verordnung erfolgt situationsabhängig nach Rücksprache mit der Physiotherapeutin. Eine gezielte, kurze Kontraktion des Musculus levator ani vor akuter körperlicher Belastung (z.B. Husten) kann schon nach einwöchigem Training den Urinverlust reduzieren (18). Die kurzfristige subjektive Heilung respektive Besserung liegt zwischen 46 und 75%. Vereinzelte Studien zeigen, dass bei initialem Erfolg 66% der Patientinnen nach 10 Jahren immer noch mit dem Resultat zufrieden sind (19). Histomorphologische Untersuchungen des Beckenbodens zeigten, dass der Musculus levator ani bei älteren Frauen entgegen der verbreiteten Meinung nicht immer vorwiegend aus Skelettmuskulatur und das Diaphragma urogenitale zumindest bei der älteren Frau hauptsächlich aus Bindegewebe besteht, was möglicherweise den fehlenden (nachhaltigen) Erfolg nach Physiotherapie erklären kann (20, 21). Dennoch fanden wir keine statistisch signifikanten Unterschiede im Therapieerfolg zwischen prä- und postmenopausalen Frauen (22). Kürzlich zeigte eine randomisierte Multizenterstudie, die 215 Patientinnen mit initialer Schlingenoperation einer Gruppe von 202 Patientinnen mit initialer Physiotherapie gegenüberstellte, sowohl eine höhere subjektive Verbesserung als auch höhere subjektive und objektive Heilungsraten in der Schlingengruppe nach einem Jahr (90,8% vs. 64,4%, 85,2% vs. 53,4%, 76,5% vs. 58,8%) (23). Die Autoren schliessen aus ihren Daten, dass Frauen mit moderater bis schwerer Belastungsinkontinenz bereits bei Behandlungsbeginn sowohl bezüglich Physiotherapie als auch bezüglich primär operativer Therapie mittels Schlingenoperation beraten werden sollen. Inkontinenzdevices Inkontinenztampons oder -pessare sind bei betagten, inoperablen oder aber jungen, aktiven Patientinnen mit nicht abgeschlossener Familienplanung indiziert und können auch gezielt nur während sportlicher Aktivität, wenn die Inkontinenz am meisten stört, getragen werden. Die vaginal eingeführten Inkontinenztampons aus Polyvinylschaumstoff (z.B. Contam® oder Contrelle®, Recafem®) sowie Urethralpessare (Ring- oder Schalenpessare aus Silikon oder Hartplastik mit einer olivenartigen Verstärkung, die suburethral zu liegen kommt) bezwecken die Anhebung der vorderen Scheidenwand zur Unterstützung von Urethra und Blasenhals. Die Miktionsfähigkeit soll bei liegendem Tampon oder Pessar erhalten bleiben. Urodynamische Untersuchungen zeigten, dass unter der Pessartherapie funktionelle Urethralänge und Urethralverschlussdruck zunahmen und der Detrusor sich stabilisierte, ohne dass Obstruktionen im Uroflow auftraten (24). Für Inkontinenztampons findet sich je nach Produkt eine subjektive Kontinenz in 36 bis 48% und eine Besserung in 36 bis 40% (25). Die Tampons können bis zu 12 Stunden getragen werden und werden von der Patientin selbstständig eingeführt und entfernt. Während der Menstruation soll wegen der potenziellen Gefahr des Toxic-Shock-Syndroms auf Inkontinenztampons verzichtet werden (26). Pessare werden tagsüber getragen und abends von der Patientin entfernt, können aber, wenn das selbstständige Handling nicht möglich ist, länger getragen und durch den Arzt oder instruiertes Pflegepersonal entfernt respektive gewechselt werden. Bei Genitalatrophie beziehungsweise bei postmenopausalen Patientinnen empfiehlt sich das Einführen unter Anwendung einer östriolhaltigen Creme. Nebenwirkungen der Pessartherapie sind Erosionen oder Ulzerationen der Vaginalwand; in diesen Fällen muss bis zur Abheilung eine intensive lokale Östrogenisierung ohne Einsatz des Pessars erfolgen. Operative Therapieoptionen Sind die konservativen Therapien ausgeschöpft oder erfolglos und ist die Familienplanung (idealerweise) abgeschlossen, kann die chirurgische Therapie indiziert sein (vgl. oben, [23]). Dies ist ebenfalls der Fall, wenn die Patientin nach eingehender Aufklärung die direkte operative Sanierung wegen hohen Leidensdrucks wünscht. Spannungsfreie midurethrale Schlingen (Schlingenoperation) Ulmsten und Petros haben mit der spannungsfreien GYNÄKOLOGIE 5/2013 15 SCHWERPUNKT Vaginalschlinge, dem Tension-free Vaginal Tape (TVT), die chirurgische Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz mit (hyper)mobiler Urethra revolutioniert (27). Mit dieser standardisierten minimalinvasiven Schlingentechnik steht eine Technik zur Verfügung, die in Lokalanästhesie und Analgosedation durchgeführt werden kann und intraoperativ eine Überprüfung des Erfolges respektive der Überkorrektur gestattet. Dabei wird ein makroporöses monofilamentäres Polypropylenband durch eine 1 cm lange suburethrale Kolpotomie midurethral, also auf Höhe des mittleren Urethraabschnittes, mittels Spezialnadeln retropubisch hochgeführt und über zwei suprasymphysäre Stichinzisionen ausgeleitet. Dieses Kunststoffband (oder -schlinge) ist nicht resorbierbar und bezweckt die Verstärkung der geschwächten pubo-urethralen Verankerung sowie die Stabilisierung der Midurethra. Dabei soll die Urethra weder eleviert noch obstruiert werden. Das Band soll als Matrix für eine Neufixation der Urethra durch Einsprossung von Fibroblasten wirken. Der Eingriff erfolgt im kurzstationären Setting. Intraoperative Komplikationen wie Blasenperforation (in etwa 3%), Darmverletzung (in < 1%) oder Hämorrhagie (in 1,5%) ergeben sich aus der retropubischen Bandpassage durch das kleine Becken (28). Zur Reduktion dieser Komplikationen entwickelten De Leval im Jahr 2001 die transobturatorische Outside-in- und Delorme 2003 die Inside-out-Technik (29, 30). Das Prinzip der transobturatorischen Technik beruht ebenfalls auf einer midurethralen Unterstützung der Urethra, allerdings wird das Band nicht retropubisch, sondern durch die Foramina transobturatoria ausgeleitet. Mittlerweile liegen 17-Jahres-Resultate vor, die die langfristige Wirksamkeit der retropubischen TVT-Operation mit objektiven Heilungsraten von über 90% belegen (31). Nach Bandoperationen treten in etwa 5% Blasenentleerungsstörungen und in etwa 7% De-novo-Drangbeschwerden auf. Die unmittelbare postoperative Blasenentleerungsstörung respektive Überkorrektur wird mittels Restharnkontrolle noch während der Hospitalisation geprüft; bei persistierender Blasenentleerungsstörung mit erhöhtem Restharn oder Harnverhalt kann unter Wahrung der operativ erreichten Kontinenz innerhalb der ersten Woche die Überkorrektur gut mittels Bandlockerung angegangen werden. Gelegentlich kann die Erholung mittels passageren Katheterismus (Selbstkatheterismus, transurethrale oder suprapubische Harnableitung) für einige Wochen abgewartet werden. Bei persistierender Blasenentleerungsstörung und nach etwa zwei Wochen, wenn das Band bereits zu fest eingewachsen ist, bleibt nur die Bandspaltung; allerdings werden dann 61% der Patientinnen wieder inkontinent (32). In der Literatur werden die unterschiedlichen Zugänge – retropubisch oder transobturatorisch – hin- sichtlich Erfolgsrate und Komplikationen diskutiert, ohne dass ein Konsensus besteht. So können nach transobturatorischer Bandeinlage bewegungsabhängige Schmerzen in den Oberschenkeln (Adduktorenmuskeln), Dyspareunien und im Falle von vaginalen Erosionen des Bandes, so bei hohem Sulcus vaginalis, auch Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs beim Partner (Hispareunie) auftreten. Hier kann die operative Banddeckung versucht werden. Doch nicht selten muss das störende Bandteilstück entfernt werden, womit das Risiko der Rezidivinkontinenz besteht. Aufgrund eigener Untersuchungen der langfristigen Kontinenzrate und des Komplikationsprofils wenden wir an unserer Klinik in der Regel die retropubische TVT-Technik an (33, 34). Bulking agents bei wenig mobiler und hypotoner Urethra Einen Sonderfall der Belastungsinkontinenz stellt die prognostisch schlechter therapierbare hypotone und hypomobile bis fixierte Urethra dar. Hier liegt der Inkontinenz weniger das fehlende Widerlager, wie es durch die Schlingenoperation wiederhergestellt werden soll, als vielmehr die intrinsische Sphinkterinsuffizienz zugrunde. Therapeutisch wird versucht, durch die periurethrale Injektion von sogenannten Bulking agents das periurethrale Gewebe einerseits auszudehnen, wodurch die Urethra eingeengt wird. Andererseits wird die Drucktransmission in der proximalen oder mittleren Urethra erhöht. Diskutiert werden eine durch die Injektion des Bulking agents erhöhte Kraft des Sphinkters, indem das Material als Füllvolumen die Länge der Muskelfibern erhöht, sowie die Injektion nicht mehr am Blasenhals, sondern analog der Schlingenoperation midurethral (35–37). Weitere Indikationen für die Anwendung von Bulking agents ist die Rezidivinkontinenz respektive voroperierte starre (und oft hypotone) Urethra. Auch bei multimorbider Patientin kann die periurethrale Injektion indiziert sein. Denn diese Technik ist deutlich weniger invasiv als die Schlingenoperation und kann auch ambulant in Lokalanästhesie durchgeführt werden. Die Erfolgsraten liegen mit 76% nach 1 Jahr und 48% nach 2 Jahren allerdings deutlich tiefer als beim TVT. Zudem sind Bulking agents nicht kassenpflichtig. Zusammenfassung Etwa jede dritte Frau ist von Harninkontinenz betroffen. Diese belastet ihre Lebensqualität, Gesundheit und ihr Portemonnaie. Sprechen Patientin und Arzt über das Tabuthema, so kann mit den heutigen Therapieoptionen unseren Patientinnen in den meisten Fällen Heilung oder zumindest eine deutliche Verbesserung der Inkontinenzsituation angeboten werden. Wenn möglich, empfiehlt sich das Ausschöpfen konservativer Therapiemassnahmen. Mit der Schlin- 16 GYNÄKOLOGIE 5/2013 SCHWERPUNKT genoperation, die mittlerweile zum Goldstandard in der chirurgischen Behandlung der Belastungsinkon- tinenz avanciert ist, steht eine minimalinvasive Tech- nik mit postoperativen Kontinenzraten von 90% zur Verfügung. Allfällige Überkorrekturen, die zu Blasen- entleerungsstörungen führen, können in der Regel mittels Bandlockerung oder -spaltung – ebenfalls mi- nimalinvasive Eingriffe – angegangen werden. In Spezialfällen oder bei multimorbider Patientin kann die periurethrale Injektion eines Bulking agents dis- kutiert werden. I Dr. med. David A. Scheiner (Korrespondenzadresse) Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich 8091 Zürich E-Mail: david.scheiner@usz.ch Quellen: 1. Abrams P, Cardozo L, et al.: The standardisation of terminology of lower urinary tract function: report from the Standardisation Sub-committee of the International Continence Society. Neurourol Urodyn. 2002; 21(2): 167–78. 2. 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