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EXPERTENBRIEF NR. 29 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 29
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Der Beckenboden während der Schwangerschaft und nach der Geburt:
Empfehlungen des AUG-Vorstandes
Der vorliegende Expertenbrief resümiert das heutige Wissen zu physiologischen Beckenbodenschädigungen infolge Schwangerschaft und Geburt und zum empfohlenen ärztlichen Management zur Prävention von Harninkontinenz.
Silvain Meyer, Gabriel Schär, Daniel Faltin, Jörg Humburg, Daniele Perucchini, Bernhard Schüssler, Volker Viereck
Veränderungen durch eine Schwangerschaft
Die Schwangerschaft ist für physiologische Veränderungen im Harntrakt verantwortlich, welche charakterisiert sind durch Pollakisurie, Harndrangsymptome, Harnverlust bei körperlicher Belastung, Harndrang und Störungen bei der Blasenentleerung. Die Prävalenz aller Inkontinenztypen variiert von 32 bis 64%, während die Belastungsinkontinenz leicht prädominant ist (40 bis 59%). Mit Ausnahme einer physiologischen Verlangsamung der Darmpassage, welche zu einer Obstipation führen kann, wird die anorektale Funktion durch die Schwangerschaft nicht verändert. Vorbestehende Probleme des Harntrakts, insbesondere Inkontinenzbeschwerden, sollten zu Beginn der Schwangerschaft anamnestisch erfragt werden, da ein erhöhtes Risiko einer postpartalen Inkontinenz besteht (1).
Veränderungen durch die Geburt
Die Spontangeburt kann Ursache sein für spätere Harnprobleme wie beispielsweise I Harndrangprobleme I Belastungsinkontinenz (Häufigkeit: 15–30%) I Miktionsstörungen infolge postpartaler Harnretention. Sie kann ebenfalls zu einer anorektalen Inkontinenz führen (Häufigkeit 3–5%) sowie eine Veränderung der Beckenstatik zur Folge haben. Diese Probleme nach Spontangeburt sind signifikant häufiger als nach einer Entbindung durch Kaiserschnitt, und zwar unabhängig davon, ob es ein elektiver Kaiserschnitt oder ein sekundärer Kaiserschnitt war (2, 9, 10).
Aufgaben bei der postpartalen Konsultation
Die postpartale Konsultation ist wichtig, um die Auswirkung der Spontangeburt auf die Funktionen des kleinen Beckens zu erfassen. Die Anamnese über die Funktion des Harntrakts sowie des Anorektums hat dabei einen zentralen Stellenwert und kann allenfalls weitere Untersuchungen und Behandlungen einleiten. Dies sind: urogynäkologische Diagnostik,
Perinealsonografie, Ultraschall des Analsphinkters, Beckenbodentesting, urodynamische Abklärung. Die Verschreibung einer Beckenbodenrehabilitation ist wesentlich.
Vorgehen bei Spezialproblemen
A. Unter der Geburt I Eine systematische Episiotomie während der Geburt bringt
gegenüber der indizierten Episiotomie keine Vorteile für den Beckenboden (3) I Bei Notwendigkeit einer instrumentierten Geburt wird die Vakuumgeburt als beckenbodenschonender beurteilt als eine Geburt mittels Forceps. I Die Suche nach einer Läsion des Sphinkter ani sollte systematisch nach einer vaginalen Geburt durchgeführt werden. Sie sollte unmittelbar chirurgisch repariert werden durch eine adäquate Exposition und erneute Vereinigung der zerstörten Strukturen (im Operationssaal und unter Analgesie). I Die Periduralanästhesie scheint gegenüber der Geburt ohne Periduralanästhesie keine Vor- oder Nachteile im Bereich des Harntrakts oder des Anorektums zu ergeben. I Die elektive Kaiserschnittentbindung zum Schutz des Beckenbodens weist in praktisch allen Studien gegenüber der Spontangeburt eine signifikant geringere Inzidenz der Urininkontinenz auf. Dieser Vorteil scheint sich im Laufe der Jahre zu verlieren, das wird besonders in der Postmenopause beobachtet (11, 12).
B. Vor und nach der Geburt I Ein physiotherapeutisch angeleitetes Beckenbodentrai-
ning wie auch die vorbereitende Massage des Perineums während der Schwangerschaft scheint einen Vorteil zu bringen. Auch das Beckenbodentraining in der postpartalen Phase scheint in der Prävention von Urin- und Stuhlinkontinenz einen Vorteil zu bewirken, auch wenn sich dieser Vorteil in den darauffolgenden Jahren abschwächt (4, 6, 8). Auf jeden Fall ist die Beckenbodenrehabilitation bei jeder Form der Inkontinenz hilfreich (5, 7).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Daniel Surbek Universitäts-Frauenklinik Inselspital Bern E-Mail: qsk-sggg@insel.ch
28 GYNÄKOLOGIE 5/2013
Datum des Expertenbriefs: Januar 2012
Deklaration von Interessenkonflikten: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte.
Quellen: 1. Stainton MC, Strahle A, Fethney J, Aust N.: J Obstet Gynaecol 2005; 45(4): 295–99. 2. Bahl R, Strachan B, Murphy DJ.: Am J Obstet Gynecol 2005; 192(3): 789–94. 3. Carroli G, Belizan J.: Episiotomy for vaginal birth. (Systematic Review) Cochrane Pregnancy and Childbirth Group Cochrane Database of Systematic Reviews 2006; 4. 4. Hay-Smith J, Herbison P, Morkved S.: Physical therapies for prevention of urinary and faecal incontinence in adults. (Systematic Review) Cochrane Incontinence Group Cochrane Database of Systematic Reviews 2006; 4. 5. Hay-Smith EJC, Dumoulin C.: Pelvic floor muscle training versus no treatment, or inactive control treatments, for urinary incontinence in women. Cochrane Database of Systematic Reviews 2006; 4. 6. Morkved S, Bo K.: Effect of postpartum pelvic floor muscle training in prevention and treatment of urinary incontinence: a one-year follow up. Brit J Obstetrics and Gynaecol 2000; 107(8): 1022–28.
7. Hay-Smith EJC, Bo K, Berghmans LCM, Hendriks HJM, de Bie RA, van Waalwijk van Doorn ESC.: Pelvic floor muscle training for urinary incontinence in women, Cochrane Database of Systematic Reviews 2006; 4.
8. Glazener CM, Herbison GP, Wilson PD, MacArthur C, Lang GD, Gee H, Grant AM.: Conservative management of persistent postnatal urinary and faecal incontinence: randomised controlled trial. Brit Med J 2001; 323: 1–5, 2.
9. MacArthur C, Glazener CM, Wilson PD, et al.: Persistent urinary incontinence and delivery mode history: a six-year longitudinal study. Brit J Obstetrics and Gynaecol 2006; 113(2): 218–24.
10. Glazener C, Herbison GP, MacArthur C et al.: New postnatal urinary incontinence: obstetric and other risk factors in primiparae. Brit J Obstetrics and Gynaecol 2006; 113(2): 208–17.
11. Rortveit G, Daltveit AK, Hannestad YS, Hunskaar S.: Urinary incontinence after vaginal delivery or cesarean section. N Engl J Med 2003; 6; 348(10): 900–07.
12. Rortveit G, Hunskaar S.: Urinary incontinence and age at the first and last delivery: the Norwegian HUNT/EPINCONT study. Am J Obstet Gynecol 2006; 195(2): 433–38.