Transkript
SERIE Notfallmedizin in der Frauenheilkunde
Nr. 2:
male Untersuchungsergebnisse zu erlan-
Untersuchungspraxis nach erlebter sexueller
gen (1, 2). In Abhängigkeit von der Latenzzeit zwischen Ereignis und Kontaktauf-
Gewalt am Beispiel des Berner Modells
nahme respektive dem psychischen Zustand der Frau wird ein Untersu-
Sexuelle Gewalt an Frauen kann viele verschiedene Formen anneh-
chungstermin umgehend oder geplant angesetzt. Empfohlen wird, die Untersu-
men. Sie kann von einer einfachen «Anmache» bis zu einem körperlichen Übergriff im Sinne einer Vergewaltigung oder einer
chung notfallmässig durchzuführen, sofern das Ereignis innerhalb der letzten 72 Stunden erfolgte (3). Diese 72-Stunden-
sexuellen Nötigung reichen. Mithilfe einer professionellen rechtsmedi- Grenze hat den Hintergrund, dass in die-
zinisch-gynäkologischen Untersuchung – möglichst zeitnah zu einem
ser Zeitspanne eine Spurensicherung und eine Entnahme von Blut und Urin für
solchen Ereignis – gilt es, allfällige Verletzungen zu dokumentieren, Spuren zu sichern und eine medizinisch-psychologische Betreuung der betroffenen Frau zu gewährleisten.
chemisch-toxikologische Untersuchungen noch sinnvoll sein können und bei Bedarf eine HIV-Postexpositionsprophylaxe und auch Medikamente zur postkoitalen
Empfängnisverhütung («Pille danach»)
CORINNA A. SCHÖN, KATJA WOLF
wirksam sind. Verletzungen, insbesondere genitale, verheilen zum Teil sehr
schnell, sodass diese bei einer späteren
Untersuchung nicht mehr zu identifizie-
Das Vorgehen beim «Berner
meldeten sich innerhalb der 72-Stunden- ren sind (4). Untersuchungen im Rahmen
Modell»
Grenze. 33 Untersuchungen erfolgten des «Berner Modells» werden immer in
Im Kanton Bern existiert seit 1986 das tagsüber, 52 in der Nacht.
der Universitätsklinik für Frauenheilkunde
«Berner Modell», das die interdiszi-
des Inselspitals Bern unter enger Zusam-
plinäre Zusammenarbeit zwischen der Rechtsmedizinisch-gynäkologische
menarbeit von Gynäkologie und Rechts-
Universitätsklinik für Frauenheilkunde Untersuchung
medizin durchgeführt. Die Untersuchung
des Inselspitals, dem Institut für Rechts- Nimmt eine Frau nach einem sexuellen der Frau ist – seitens der Frauenklinik –
medizin der Universität Bern, dem Insti- Übergriff Kontakt mit der Frauenklinik durch eine Gynäkologin aufgrund eines
tut für Infektiologie des Inselspitals, der oder ihrem Gynäkologen auf, sollten bei entsprechenden Dienstsystems gewähr-
Kantonspolizei Bern, der Staatsanwalt- diesem ersten Gespräch wichtige Infor- leistet.
schaft und der Opferhilfestelle Lantana mationen ausgetauscht werden, die für
in der Betreuung von weiblichen Opfern das weitere Vorgehen wesentlich sind Das Untersuchungskit
sexueller Gewalt beschreibt. Unter dem (Tabelle 1). Sollte es sich bei der ersten Hilfreich für die Untersuchung ist die An-
Motto «Von Frauen für Frauen» hat das Anlaufstelle nicht um eine für solche Un- wendung eines Untersuchungskits (z.B.
Modell zum Ziel, von sexueller Gewalt tersuchungen spezialisierte Stelle han- «Sexual assault care kit» von Prionics AG,
betroffenen Frauen und Jugendlichen deln, wird geraten, die betroffene Frau Schlieren Zürich), in welchem mit Aus-
ab 14 Jahren die bestmögliche medizini- an eine solche zu verweisen. Erfahrung nahme einer Fotokamera und des gynä-
sche Betreuung und weiterführende bei der Durchführung dieser Untersu- kologischen Untersuchungsinstrumenta-
Nachsorge zukommen zu lassen. Wurde chung ist vonnöten, um möglichst opti- riums alle für die Untersuchung wichtigen
eine Frau Opfer eines Sexualdeliktes,
kann sich diese, auch ohne polizeiliche
Anzeige, jederzeit in der Universitäts- Tabelle 1:
klinik für Frauenheilkunde für eine Abklärungen anlässlich der ersten Kontaktaufnahme
rechtsmedizinisch-gynäkologische Untersuchung melden. Erfolgt vor oder nach der Untersuchung eine polizeiliche Anzeige, so soll die betroffene Frau auch hier durch eine Polizistin befragt werden. Jährlich finden im Rahmen des Berner
Abzuklärende Fakten Zeitpunkt des Ereignisses? Handlungen nach dem Ereignis? ■ Reinigungsmassnahmen ■ Kleiderwechsel Psychischer Zustand?
Warum? Festlegung des Untersuchungszeitpunktes zwecks Spurensicherung folgende Hinweise: ■ sich nicht weiter reinigen, essen, trinken ■ allfällig gewechselte Kleider mitbringen Aufgleisung psychischer Betreuung
Modells zirka 60 bis 80 Untersuchungen statt. 2012 wurden 43 Frauen mit und 42
Sprache? Anzeige geplant?
Organisation von Übersetzung Information an die Polizei bei Wunsch der Patientin
ohne Anzeige untersucht. 77 Betroffene
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SERIE Notfallmedizin in der Frauenheilkunde
Tabelle 2:
Wichtige Fragen zum Ereignis und zu den nachfolgenden Handlungen (5):
■ Welche Art von Übergriff ist passiert (oral, vaginal, anal)? Wann und wo ereignete sich der Übergriff?
■ An welchen Körperstellen fand ein Kontakt zum Täter statt (Küssen, Lecken, Saugen …)? ■ Erfolgte ein Samenerguss? Wenn ja, wohin? ■ Wurde ein Kondom verwendet? Wenn ja, wo befindet sich dieses? ■ Wurde ein Gleitmittel o.ä. benutzt? ■ Wurde körperliche Gewalt angewandt (Schläge, Strangulation, Fesselung ...)? Einsatz von
Tatwerkzeugen? ■ Genitale und körperliche Beschwerden? ■ Wurden vor, während oder nach dem Ereignis Alkohol, Drogen oder Medikamente konsu-
miert? Bestehen Erinnerungslücken? ■ Wo befindet sich die beim Ereignis getragene Kleidung? ■ Welche Reinigungsmassnahmen wurden nach dem Ereignis durchgeführt? ■ Bestanden vor dem Ereignis bereits Verletzungen? ■ Letzter gewollter Geschlechtsverkehr/Sexualkontakt?
Utensilien vorhanden sind. Es enthält einen Dokumentationsbogen, der aufgrund seiner Struktur mit Fragen zur Anamnese und Vorgaben zum Ablauf der Untersuchung auch ungeübten Untersuchern hilft. Zudem sind diverse Materialien zur Asservierung von DNA-Spuren (Wattetupfer, sterile Kochsalzlösung, Transportbehälter), Kleidung, anderen Spuren, Blut und Urin sowie zur Durchführung der Toluidinblau-Färbung enthalten. Das korrekte Sichern von Beweisen ist wichtig, da diese zur Identität des Täters führen und die Aussagen der Frau untermauern können.
Körperliche Untersuchung Die körperliche Untersuchung wird durch den Arzt oder die Ärztin der Rechtsmedizin ausgeführt. Hierbei wird der Hautmantel der Frau hinsichtlich Verletzungen wie zum Beispiel Hautunterblutungen, Hauteinblutungen oder Hautabschürfungen beurteilt. Die Dokumentation von Verletzungen erfolgt durch Einzeichnen in Körperschemata sowie mittels Fotografie, wobei eine Übersichtsaufnahme der betroffenen Körperregion und eine Detailaufnahme der Verletzung mit Massstab angefertigt werden. Besonderes
Augenmerk ist auf Zeichen einer Strangulation und damit unter Umständen einhergehenden Punkt- respektive Stauungsblutungen zu legen, die typischerweise in der Haut und den einsehbaren Schleimhäuten des Kopfes zu finden sind und Aussagen zu einer allfälligen Lebensgefahr zulassen (6). Sofern es zu einem Kontakt zwischen Frau und Täter an einer bestimmten Körperstelle gekommen ist (festes Zugreifen, Küssen, Lecken etc.), werden in Abhängigkeit von der Latenzzeit zwischen Ereignis und Untersuchung sowie den möglicherweise bereits erfolgten Reinigungsmassnahmen DNAAbstriche an diesen Stellen abgenommen. Ebenso werden anderweitige Spuren (Haare, Gras, Splitter o.a.) asserviert, da diese den von der Frau geschilderten Geschehensablauf belegen oder auch Rückschlüsse auf den Ereignisort zulassen können. Bei der Untersuchung ist es wichtig, den gesamten Hautmantel zu inspizieren, allerdings ohne komplette Entblössung der Frau. Es empfiehlt sich, zuerst den Kopf zu untersuchen, danach Arme und Oberkörper mit besonderer Berücksichtigung der Brüste als Zielorgane sexueller Handlungen und zuletzt die Beine. An dieser Stelle angekommen, lässt sich dann die gynäkologische Untersuchung anschliessen.
Anamnese Am Beginn der Untersuchung steht die Anamnese, bei der es insbesondere um das erlebte Ereignis geht. Neben dem Zeitpunkt des Ereignisses, welcher Einfluss auf das Ausmass der Spurensicherung, die Abnahme von Asservaten zwecks chemisch-toxikologischer Untersuchungen und die Gabe von Medikamenten hat, sind möglichst detaillierte Angaben zum Ablauf desselben von Interesse (Tabelle 2). Auch sind Informationen zur Einnahme von Medikamenten, Drogen oder Alkohol vor und nach dem Ereignis sowie eventuell damit in Zusammenhang stehende Erinnerungslücken zu erheben.
Abbildung 1: Fremdhaar an der rechten grossen Schamlippe (a: Übersicht; b: Detailaufnahme).
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Gynäkologische Untersuchung Die gynäkologische Untersuchung wird durch die Gynäkologin unter Mithilfe des/der Rechtsmediziners/in durchgeführt. Während der gynäkologischen Untersuchung sollte die Frau über jeden anstehenden Schritt informiert werden. Auch hier ist es sinnvoll, sich einen bestimmten und immer gleichbleibenden Ablauf anzueignen, damit einerseits keine allfälligen Spuren zerstört werden und andererseits keine möglicherweise durch die Untersuchung entstandenen Verletzungen dokumentiert werden. Es wird mit der Inspektion des äusseren Genitales mit Beurteilung der Labien, der Klitoris, der Harnröhrenöffnung, des Introitus inklusive Hymen, der Fossa navicularis, der hinteren Fourchette, der Commissura posterior und des Anus begonnen. Bei Jugendlichen wird zudem das Tanner-Stadium beschrieben. Eine Fotodokumentation ist auch bei einem unverletzten äusseren Genitale ratsam, damit man eine unter bestimmten Umständen nötige Zweituntersuchung möglichst vermeiden kann. Sofern sinnvoll, erfolgt anschliessend die Sicherung von DNA- und anderen Spuren in diesem Bereich (Abbildung 1). Wir empfehlen zudem eine Toluidinblau-Färbung des äusseren Genitales in den ersten Tagen nach dem Ereignis (Abbildung 2), da hiermit sehr feine Verletzungen angefärbt und somit manchmal erst sichtbar gemacht werden (7). Nach Durchführung dieses Untersuchungsschrittes wird auch dieser Befund, ob negativ oder positiv, fotodokumentiert. Insbesondere wenn noch kein regelmässiger vaginaler Geschlechtsverkehr stattfand, wird vor der Toluidinblau-Färbung das Hymen beispielsweise mit einer Glaskugel oder einem Ballonkatheter dargestellt (Abbildung 3). Im Anschluss daran werden die Vagina und die Zervix mit einem Spekulum untersucht und DNA-Abstriche abgenommen. Der Spurensicherung folgen zuletzt die Abnahme infektiologischer Abstriche (Chlamydien, Gonokokken, allgemeine Bakteriologie), ein PAP-Abstrich sowie ein Nativabstrich zur Untersuchung auf Spermien. Sofern vorhan-
den, wird die gesamte Inspektion mit einem Kolposkop empfohlen (8), wobei der Umgang mit diesem Gerät beherrscht werden sollte. Vorteilhaft sind die sehr gute Vergrösserung der Befunde bei guter Lichtquelle sowie die gute Dokumentationsmöglichkeit bei installierter Kamera.
Weiteres Prozedere
Nach der Untersuchung werden meistens Blut und Urin für allfällige chemischtoxikologische Untersuchungen abgenommen. Falls aufgrund einer geltend gemachten Gedächtnislücke der Verdacht auf die Beibringung sogenannter K.-o.-Tropfen besteht, ist eine sehr rasche Asservierung ratsam, da manche Substanzen eine nur kurze Nachweisbarkeit aufweisen (9). Ebenso werden infektiologische Parameter wie HIV, Hepatitis B und C sowie Syphilis getestet; Folgeuntersuchungen sollten nach 3 und 6 Monaten erfolgen. Wenn der Täter oder dessen serologischer Status unbekannt ist, werden eine Postexpositionsprophylaxe (HIV) sowie die Impfung gegen Hepatitis B empfohlen. Eine Urinprobe sollte auch für einen Schwangerschaftstest abgenommen werden. Der Schwangerschaftstest dient dazu, eine möglicherweise bereits bestehende Schwangerschaft auszuschliessen.
Weitere Hilfsangebote Jeder betroffenen Frau wird geraten, sich an eine möglichst auf Sexualdelikte spezialisierte Opferhilfestelle zu wenden (in Bern: Lantana). Sie erhält dort psychologische Begleitung oder kann dort die Vernetzung zu anderen Hilfsangeboten nutzen. Auch erhält sie Unterstützung bei einer eventuellen Prozessvorbereitung oder beim Entscheid für oder gegen eine polizeiliche Anzeige, sofern diese noch nicht erfolgt ist. An dieser Stelle ist anzumerken, dass in der Schweiz die ärztlichen Melderechte/Meldepflichten bezüglich Körperverletzungen und Sexualdelikten kantonal geregelt sind. Es wird daher jedem Arzt/jeder Ärztin empfohlen, sich in seinem/ihrem Arbeitskanton entspre-
Abbildung 2: Darstellung von Verletzungen am äusseren Genitale vor (a) und nach (b) Anfärbung mit Toluidinblau.
Abbildung 3: Darstellung des Hymens mit einer Glaskugel.
chend zu informieren. Gegen den Willen der Frau sollte nur wohlüberlegt eine Meldung erfolgen. Sämtliche Untersuchungsbefunde werden, in Abhängigkeit vom Auftraggeber, in einem Bericht oder Gutachten detailliert beschrieben und schliesslich hinsichtlich Alter und Ursprung der Verletzungen sowie deren Folgen (bleibende Schäden, Lebensgefahr, Entstellung, etc.) forensisch beurteilt.
Fazit
Die kompetente Durchführung einer rechtsmedizinisch-gynäkologischen Un-
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tersuchung verlangt die Kenntnis einer
umfassenden Anamneseerhebung in Zu-
sammenhang mit Sexualdelikten und
des korrekten und sinnvollen Untersu-
chungsablaufs sowie der Spurensiche-
rung. Um einer betroffenen Frau eine
gute medizinische Betreuung zukom-
men zu lassen, wird die Untersuchung in
spezialisierten Zentren empfohlen. Mit
dem «Berner Modell» soll Opfern sexuel-
ler Gewalt eine interdisziplinäre Betreu-
ung zukommen, die nicht an eine polizei-
liche Anzeige gebunden ist.
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Dr. med. Corinna Schön Fachärztin Rechtsmedizin FMH Institut für Rechtsmedizin Universität Bern 3012 Bern E-Mail: corinna.schoen@irm.unibe.ch
Katja Wolf Fachärztin Gynäkologie/ Geburtshilfe FMH Zentrum für Familienplanung Universitätsfrauenklinik Inselspital 3010 Bern E-Mail: katja.wolf@insel.ch
Quellenangaben:
1. Klopfstein U, Schön C, Plattner T.: Sexuelle Gewalt. Rechtliche und praktische Konsequenzen. Gynäkol prax 2006; 30(4): 709–721.
2. Newton M.: The forensic aspects of sexual violence. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 2013; 27(1): 77–90.
3. U.S. Department of Justice. Office on Violence Against Women: A National Protocol for Sexual Assault Medical Forensic Examinations, Adults/Adolescents. September 2004. NJJ 206554.
4. Adams JA, Knudson S.: Genital findings in adolescent girls referred for suspected sexual abuse. Arch Pediatr Adolesc Med 1996; 150: 850–57.
5. Ingemann-Hansen O, Vesterby Charles A.: Forensic medical examination of adolescent and adult victims of sexual violence. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 2013; 27: 91–102.
6. Plattner T, Bolliger S, Zollinger U.: Forensic assessment of survived strangulation. Forensic Sci Int 2005; 153: 202–07.
7. Navratil F: Sexuelle Gewalt in der Adoleszenz : Befunderhebung, Sinn und Notwendigkeit der körperlichen Untersuchung. Gynäkol Geburtshilfliche Rundsch 2003: 43: 146–51.
8. Slaughter L, Brown CRV.: Colposcopy to establish physical findings in rape victims. Am J Obstet Gynecol 1992; 166: 83–86.
9. Madea B, Musshoff F: K.-o.-Mittel : Häufigkeit, Wirkungsweise, Beweismittelsicherung. Dtsch Arztebl Int. 2009; 106(20): 341–47.
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