Transkript
Journal Club
Führt eine In-vitro-Fertilisation zu gesundheitsrelevanten Gefässveränderungen bei den Kindern?
Das gesundheitliche Risiko von In-vitro-Fertilisations-Therapien (IVF) für die IVFKinder war und ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Erstmals wurde jetzt in einer qualitativ hochwertigen Studie eine funktionelle Veränderung des Gefässsystems bei IVF-Kindern nachgewiesen.
Scherrer U et al.; Circulation 2012; resümiert und kommentiert von Michael von Wolff
Die bisherigen klinischen Studien haben unter anderem eine erhöhte Frühgeburtsrate sowie ein niedrigeres Geburtsgewichts festgestellt (1). Auch die Fehlbildungsrate bei IVF-Kindern ist mit 5 bis 6% im Vergleich zu 3 bis 4% bei Nicht-IVF-Kindern höher (2). Offen ist aber weiterhin die Ursache dieser erhöhten Fehlbildungsrate sowie, ob auch langfristige, lebenszeitreduzierende gesundheitliche Veränderungen bei den Betroffenen gehäuft auftreten. Diese Frage versucht die kürzlich publizierte Studie von Scherrer und Kollegen zu beantworten, in der Gefässparameter bei Kindern untersucht werden, deren Veränderung mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergehen könnten.
Die Studie: Methodik
Probanden 65 schweizerische gesunde IVF-Einlingskinder (Alter: 11,1 ± 2,4 Jahre) und 57 Kontrollkinder (Alter: 11,9 ± 2,3 Jahre) wurden untersucht. Bei 21 Kindern wurde eine IVF-Therapie ohne ICSI und bei 44 Kindern eine solche mit ICSI durchgeführt. Unter diesen Kindern waren auch 5 Geschwisterpaare, von denen 1 nach einer IVF und 1 nach natürlicher Konzeption geboren wurden. 48 Kinder entstanden nach einem Frischtransfer und 17 nach einem Auftauzyklus. Zusätzlich wurden 16 Kinder untersucht, die nach einer «Hyperstimulation» ohne IVF geboren wurden, um den Effekt einer Stimulation zu bewerten. Auch wurden 22 «sterile» sowie 14 «fertile» Eltern untersucht, um den Einfluss der Vererbung von Risikofaktoren zu evaluieren. Ein Teil dieser Untersuchungen wurde auf über 3450
Höhenmetern durchgeführt, um eine ausreichende Sensitivität der Untersuchungstechniken zu gewährleisten.
Untersuchungstechniken Untersucht wurden die systemische vaskuläre Funktion durch die Bestimmung der pulsabhängigen Dilatation der Brachialarterie, die Pulswellengeschwindigkeit und die Dicke der Intima/Media der Arteria carotis. Die Lungenarterienfunktion wurde durch die Bestimmung des pulmonalen arteriellen Drucks per Dopplerechokardiografie auf einer Höhe von 3450 m bestimmt. Für die einzelnen Untersuchungen wurden die Kinder verblindet registriert. Ob eine Verblindung auch bei der Gesamtanalyse der Untersuchungsergebnisse gegeben war, wird in der Studie nicht beschrieben.
Ergebnisse
Alle im Folgenden dargestellten Unterschiede waren signifikant. 1. Systemische vaskuläre Funktion: Die
flussabhängige Dilatation der Brachialarterie war bei IVF-Kindern um 25% niedriger, die Pulswellengeschwindigkeit höher und die Intima/MediaDicke der Arteria carotis erhöht. 2. Pulmonale vaskuläre Funktion: Der systolische pulmonale arterielle Druck war bei IVF-Kindern um 30% höher. 3. Kinder nach einer «Hyperstimulation» (n = 16) und die Kontrollen (n = 53) hatten die gleiche flussabhängige Dilatation der Brachialarterie. Dies galt als ein Hinweis, dass die Gonadotropin-Stimulation als solche keinen Effekt auf die veränderten Gefässparameter hatte.
4. «Sterile» (n = 22) und «fertile» (n = 14) Eltern hatten die gleiche flussabhängige Dilatation der Brachialarterie. Dies galt als ein Hinweis, dass diese Veränderungen nicht von den Eltern an die Kinder vererbt wurden.
5. Der Vergleich der 5 Geschwisterpaare (1 Kind nach IVF, 1 nach natürlicher Konzeption) zeigte bei IVF-Kindern eine niedrigere flussabhängige Dilatation der Brachialarterie und einen höheren systolischen pulmonalen arteriellen Druck. Auch dies galt als ein Hinweis, dass diese Veränderungen nicht von den Eltern an die Kinder vererbt wurden.
Die Ausprägung der Unterschiede entsprach etwa den Veränderungen bei Kindern mit einem Diabetes Typ I.
Bewertung der Studie
Erstmals wurde eine funktionelle Veränderung des Gefässsystems bei IVF-Kindern nachgewiesen. Ein solcher Nachweis ist von einer erheblichen Tragweite, da dieser langfristig eine Auswirkung auf die Lebenserwartung der durch eine IVF gezeugten Kinder haben könnte. Bereits in der Vergangenheit wurden im Rahmen anderer Studien Blutdruckmessungen bei IVF-Kindern durchgeführt. Die Studienergebnisse waren jedoch widersprüchlich. So wiesen beispielsweise Belva und Kollegen (3) bei 8-jährigen IVFKindern erhöhte Blutdruckwerte nach, die in einer Nachfolgestudie bei 14-Jährigen aber nicht mehr gefunden wurden (4). Diese Unterschiede wurden unter anderem mit verschiedenen Messtechniken in den beiden Studien erklärt.
Daten werden in Schweizer Studie überprüft Grundsätzlich ist der Nachweis vaskulärer Veränderungen bei den noch jungen IVF-Kindern methodisch schwierig. Scherrer und Kollegen haben deswegen mit einem sehr grossen Aufwand eine Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt, die zum einen objektivierbar sind und zum anderen eine vorsichtige prognostische Abschätzung der Gesund-
44 GYNÄKOLOGIE 3/2013
Journal Club
heitsentwicklung erlauben könnten. Somit sind die Ergebnisse dieser qualitativ hochwertigen Studie sehr ernst zu nehmen, da sie eine erhöhte Morbidität oder begrenzte Lebenserwartung bei IVF-Kindern zumindest erwarten lassen. Eine finale Bewertung dieser Veränderungen sollte jedoch erst vorgenommen werden, wenn zum einen eine Nachfolgestudie an den gleichen Kindern, oder besser eine weitere Studie mit anderen, älteren Kindern, ein ähnliches Ergebnis aufzeigt. Eine solche Studie wird vermutlich in der Schweiz initiiert werden. Eine komplette Verblindung der Daten der Kinder durch die Probanden-rekrutierenden Reproduktionsmediziner würde die Akzeptanz der Studienergebnisse unter Reproduktionsmedizinern sicherlich deutlich erhöhen. Zum anderen muss zum Beispiel durch eine Kohortenstudie gezeigt werden, dass diese Veränderungen auch persistieren und einen langfristig relevanten gesundheitlichen Effekt haben. Letzteres dürfte aber noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Eine solche Kohortenstudie ist in der Schweiz in Planung.
Weitere Fragestellungen Gewarnt werden muss vor vorzeitigen Hochrechnungen zur zukünftigen Gesundheit der Kinder. Scherrer und Kollegen geben an, dass die gemessenen Veränderungen denen von DiabetesTyp-I-Kindern entsprechen. Dieser Vergleich mag objektiv richtig sein, darf aber nicht zu der Annahme verleiten, dass IVF-Kinder und Diabetes-Kinder eine ähnliche Prognose haben. Ein Diabetes ist eine erworbene komplexe metabolische Störung mit einem progredienten Verlauf und sicherlich anders zu bewerten als die Veränderungen bei IVFKindern. Scherrer und Kollegen ziehen in ihrer Arbeit die Schlussfolgerung, dass die gemessenen Veränderungen nicht auf der Gonadotropinstimulation und nicht auf einer genetischen Übertragung der Eltern beruhen dürften. Grundlage dieser Schlussfolgerung sind die als Punkt 3 bis 5 dargestellten Ergebnisse. Bei dieser Bewertung zeigt sich jedoch eine Schwäche dieser Studie. So sind folgende Punkte unklar:
■ Was sind «sterile» Eltern? Sind es Väter, Mütter, Mütter mit Tubenfaktoren und so weiter? Hierzu gibt es keine Informationen in der Publikation.
■ Was heisst: «Kinder nach Stimulationsbehandlung»? Welche Gonadotropindosierung haben die Mütter erhalten? Eine IVF wird mit supraphysiologischen Gonadotropindosen durchgeführt, eine Stimulation ohne eine IVF (z.B. monofollikuläre Stimulation) mit weitgehend physiologischen Dosen. Waren es monofollikuläre Stimulationen?
■ 5 Geschwisterkinder «ohne und nach einer IVF» wurden rekrutiert: Wie ist das möglich? Welche Sterilitätsfaktoren lagen vor? Sind es wirklich genetisch vergleichbare Kinder?
Punkt 3 bis 5 der Ergebnisse können aufgrund der genannten offenen Fragen nicht weiter interpretiert werden und lassen auf keinen Fall den Schluss der Studie zu, dass die Veränderungen nicht mit der Stimulation oder mit elterlichen Faktoren erklärbar sind. Eine wesentliche Frage ist auch, was die eigentliche Ursache der gemessenen Veränderungen sein könnte. Wenn es nicht eine Weitergabe von prädisponierenden Faktoren durch die Eltern sind, was ist es dann? Scherrer und Kollegen diskutieren epigenetische Veränderungen als Ursache, für die es im Tiermodell diverse Hinweise gibt. Wenn die Kultur als solche die Ursache ist, ergibt sich daraus die Frage, ob sich das Risiko für die nachgewiesenen
Veränderungen mit der Optimierung der
Kulturmedien im Laufe der Jahre redu-
ziert hat. Diese Frage lässt sich natürlich
nicht beantworten. Interessant ist in die-
sem Zusammenhang aber eine grosse
schwedische Studie, die zeigte, dass die
Rate kardialer Fehlbildungen bei Kin-
dern, die 2001 bis 2007 nach einer IVF-
Therapie geboren wurden, deutlich
niedriger war als bei Kindern, die nach ei-
ner IVF-Therapie in den Jahren 1982 bis
2001 geboren wurden (5).
■
Prof. Dr. med. Michael von Wolff Abteilung für Gynäkologische
Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Universitätsfrauenklinik Bern 3010 Bern
E-Mail: Michael.vonWolff@insel.ch
Quelle:
Scherrer U, Rimoldi SF, Rexhaj E, Stuber T, Duplain H, Garcin S, de Marchi SF, Nicod P, Germond M, Allemann Y, Sartori C.: Systemic and pulmonary vascular dysfunction in children conceived by assisted reproductive technologies. Circulation. 2012 Apr 17; 125(15): 1890–96.
Referenzen:
1. Helmerhorst FM, Perquin DA, Donker D, Keirse MJ.: Perinatal outcome of singletons and twins after assisted conception: a systematic review of controlled studies. BMJ. 2004 Jan 31; 328(7434): 261–70.
2. Hansen M, Bower C, Milne E, de Klerk N, Kurinczuk JJ.: Assisted reproductive technologies and the risk of birth defects – a systematic review. Hum Reprod. 2005 Feb; 20(2): 328–38.
3. Belva F, Henriet S, Liebaers I, Van Steirteghem A, CelestinWestreich S, Bonduelle M. Medical outcome of 8-year-old singleton ICSI children (born > or = 32 weeks’ gestation) and a spontaneously conceived comparison group. Hum Reprod. 2007 Feb; 22(2): 506–15.
4. Belva F, Roelants M, De Schepper J, Roseboom TJ, Bonduelle M, Devroey P, Painter RC.: Blood pressure in ICSI-conceived adolescents. Hum Reprod. 2012 Oct; 27(10): 3100–08.
5. Källén B, Finnström O, Lindam A, Nilsson E, Nygren KG, Otterblad PO.: Congenital malformations in infants born after in vitro fertilization in Sweden. Birth Defects Res A Clin Mol Teratol. 2010 Mar; 88(3): 137–43.
Zusammenfassung
Die Studie ist ein wesentlicher Beitrag zur Diskussion über den Einfluss einer IVF-Therapie auf die Gesundheit der Kinder. Sie zeigt signifikante Veränderungen des Gefässsystems bei IVFKindern auf. Dies ist grundsätzlich ernst zu nehmen. Die Daten zeigen, dass nach wie vor die Indikation für eine IVF-Behandlung streng gestellt werden sollte, da ein gesundheitliches Risiko durch die Behandlung durchaus möglich ist. Aus Sicht des Autors erlaubt die Studie allerdings nicht – aufgrund von methodischen Schwächen oder auch aufgrund fehlender Detailinformationen – die von Scherrer gezogene Schlussfolgerung, dass diese nachgewiesenen Veränderungen «wohl nicht elterlichen Ursprungs sein dürften». Eine Nachfolgestudie – wie derzeit in der Schweiz anvisiert – muss interdisziplinär unter enger Einbindung der Reproduktionsmediziner durchgeführt werden. Ein Fokus muss auf der Frage liegen, ob die Veränderungen mit der IVF-Therapie als solche zu erklären sind oder ob diese von den Eltern übertragen wurden. Für das Kind mag dies irrelevant sein, für die Reproduktionsmediziner als potenzielle «Verursacher» dieser Veränderungen ist dies aber von grosser Relevanz.
GYNÄKOLOGIE 3/2013
45