Transkript
SERIE Notfallmedizin in der Frauenheilkunde
Nr. 1:
Patientinnen nach sexueller Gewalt in der gynäkologischen Praxis
Frauenärztinnen und -ärzte in der Praxis sollten dafür sensibilisiert sein, dass einige Patientinnen sexuelle Gewalterfahrungen erlitten haben und diese körperliche wie auch psychische Auswirkungen haben. Der Artikel zeigt, worauf in der Sprechstunde zu achten und wie im Verdachtsfall das Thema anzugehen ist.
ELKE KRAUSE
Sexualität hat sich in unserem Kulturkreis in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Ausgehend von der bürgerlichen Sexualmoral zu Beginn des letzten Jahrhunderts, sind wir heute nach der sogenannten sexuellen Revolution und Liberalisierung im Zeitalter der Neosexualität angekommen (1). Neosexualität bedeutet Verhandelbarkeit der Sexualität, sei es bezüglich Sexualpraktiken, Frequenz oder materieller Entlohnung. Verhandlungen benötigen jedoch gleichberechtigte Partner, also Partner, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen und die Möglichkeit haben, ihren Willen klar zu äussern. Kommt es zu sexuellen Handlungen, die nicht im gegenseitigen Einverständnis geschehen, spricht man von sexueller Gewalt, sexuellem Missbrauch, Übergriff oder Ausbeutung.
Prävalenz sexueller Gewalterfahrung
Laut Aussagen von UN Women, der Frauenorganisation der vereinten Nationen (Name früher: Unfem) wird weltweit jede dritte Frau in ihrem Leben mindestens einmal vergewaltigt oder zum Sex gezwungen (2). In der Schweiz finden wir, wie in vielen Ländern, eine hohe Dunkelziffer betreffend sexuelle Gewaltdelikte. Fachleute schätzen, dass 20 bis 30% aller in der Schweiz lebenden Kinder und Jugendlichen in ihrem Leben bereits einmal Opfer einer Form sexueller Übergriffe geworden sind (3). Sexuelle Gewalt
hat psychische und körperliche Auswirkungen. Eine 2012 erschienene Statistik des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zeigt mögliche Konsequenzen (Tabelle).
Langzeitsymptome nach Gewalterfahrung
Uns Gynäkologen sollte bewusst sein, dass viele unserer Patientinnen in der Praxis sexuelle Gewalt erfahren haben. Wir wissen, dass viele Krankheitsbilder, die wir täglich behandeln, oft nach sexueller Gewalt auftreten, beispielsweise chronische Unterbauchschmerzen, Vulvodynien, Urininkontinenz, Dysurien, Dyspa-
Tabelle:
Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs
Gemäss einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen 2012 (n = 3938)
■ Körperliche Auswirkungen (43%) ■ Beziehungs- und Partnerschafts-
probleme (41,6%) ■ Leistungsbeeinträchtigung (30,0%) ■ Flashbacks ■ Alpträume (29,9%) ■ Probleme mit Körperlichkeit
und Sexualität (17,3%) ■ Selbstwertproblematik (17,1%) ■ Minderung der Lebensqualität (13,2%) ■ Orientierungs- und Hilflosigkeit (7,4%)
In einer mehrteiligen Serie werden ausgewählte Themen in der Notfallmedizin für den frauenärztlich tätigen Praxisarzt vorgestellt. Die beiden ersten Beiträge (GYNÄKOLOGIE 2 und 3.2013) behandeln «Sexuelle Gewalterfahrung und ihre Folgen im medizinisch-therapeutischen Setting» – Fortbildung der Frauenklinik am Inselspital Bern.
reunie, Menorrhagien und Sexualstörungen. Gewalterfahrungen können eine Schwangerschaft erheblich beeinflussen. Viele Frauen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, benötigen eine verstärkte Kontrolle über ihren Körper. In einer Schwangerschaft kommt es zu körperlichen Veränderungen, die diese Frauen bis dahin nicht kennen und nicht einzuordnen wissen. Über ein erhöhtes Auftreten von Hyperemesis gravidarum bei missbrauchten Frauen wird berichtet. Frauen mit Gewalterfahrung suchen in der Schwangerschaft häufiger ihren Arzt auf als Schwangere ohne diese Erfahrung. Sie sind verunsichert und möchten immer wieder beruhigt werden, dass der Schwangerschaftsverlauf normal sei.
Ebenfalls vorkommend: Nichtwahrnehmung von Körperempfindungen Ihnen gegenüber stehen die Frauen, die durch Ausblenden von Körperempfindungen klinische Zeichen einer Schwangerschaft und erste Anzeichen geburtshilflicher Komplikationen wie vorzeitige Wehentätigkeit, Infektionszeichen oder reduzierte Kindsbewegungen unter Umständen nicht wahrnehmen, sodass eine optimale geburtshilfliche Vorsorge nicht eingeleitet werden kann. Mit zunehmendem Schwangerschaftsalter reagieren viele missbrauchte Frauen mit Depressionen, Ängstlichkeit und negativen Zukunftserwartungen für sich selbst und ihr Kind, wie Fragebogenerhebungen zeigen (4). Ängste vor der Geburt können die früheren negativen Erlebnisse reaktivieren.
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Flashbacks Flashbacks spiegeln Missbrauchsituationen; Erinnerungsfragmente von Gefühlen wie Panik oder Kontrollverlust tauchen auf. Triggerreiz für Flashbacks kann eine vaginale Untersuchung sein, die dazu führt, dass sich die Frau wie in der ursprünglichen Missbrauchsituation fühlt und entsprechend verhält. Flashbacks können dazu führen, dass Vorsorgetermine ausgelassen und Untersuchungen abgelehnt werden, um belastende Situationen zu vermeiden. Auch postpartale Depressionen treten bei missbrauchten Frauen gehäuft auf (5).
Frauen mit Missbrauchserfahrungen gemäss Befragungsstudie Wie hoch ist die Prävalenz der Frauen mit Missbrauchserfahrungen in unserer gynäkologischen Praxis? Auskunft darüber gibt eine Befragungsstudie in der gynäkologischen Ambulanz im Universitätsspital München von 1999 bis 2006. 1157 anonyme Fragebogen in verschiedenen Sprachen wurden an Frauen ausgegeben, 1079 konnten ausgewertet werden. Auf die Fragen: «Wurden Sie jemals selbst mit einer ungewollten sexuellen Aktivität konfrontiert, wie verbale Belästigung oder Berührung?» und «Wurden Sie jemals zu einer sexuellen Aktivität gezwungen, die Sie nicht selbst wollten?», antworteten 44,6% der Frauen, dass sie sich an sexuelle Belästigung erinnerten. 20,1% waren zu sexuellen Handlungen gezwungen worden, 24,3% hatten verbale Anzüglichkeiten, Berührungen, Angebote, Exhibitionismus erlebt. 3,1% waren sich nicht sicher, 52,3% gaben an, nie sexuell belästigt worden zu sein. Nur 6% dieser missbrauchten Frauen hatten mit ihrem Gynäkologen über den Übergriff geredet. Die Reaktion des Arztes beschrieben über die Hälfte von ihnen als wenig verständnisvoll, abfällig, inkompetent oder indifferent, nur wenige Frauen berichten über ein hilfreiches Gespräch. Gründe der Frauen, die ihrem Gynäkologen den Missbrauch nicht mitgeteilt hatten, waren Angst, das Thema zu berühren, andere hielten dies für die Behandlung nicht für relevant.
Diese und auch andere Studien zeigen, dass viele Frauen aus eigener Initiative nicht über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt sprechen, auf Nachfrage wären aber 70% dazu bereit.
Ärzte/Ärztinnen: Sensibilisierung und Beratungskompetenz
Warum vermeiden wir Gynäkologen das Thema? Immer wieder hören wir Argumente wie fehlende Übung oder mangelnde Ausbildung in der Gesprächsführung, Angst vor Situationen, die durch uns nicht mehr kontrolliert werden können, uns hilflos machen. Unkenntnis der Anlaufstellen, mangelnde Zeit in der gynäkologischen Praxisroutine werden als Gründe genannt. Dabei sind wir Gynäkologinnen diejenigen, die in ihrer Praxisroutine am häufigsten mit Sexualität konfrontiert werden. Die SGGG, Schweizer Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, hat zum Thema «Häusliche und sexuelle Gewalt» bereits 2003 folgende Forderung formuliert: «... es ist wichtig, dass alle Medi-
zinalpersonen, welche Patientinnen betreuen, im Speziellen aber Gynäkologinnen/Gynäkologen, vertraut sind mit dieser Problematik. Sie sollten sensibilisiert sein für das Erkennen von Zeichen, die auf erfahrene Gewalt hinweisen, wissen, was beim Umgang mit Gewaltopfern speziell beachtet werden sollte, und über die nötige Beratungskompetenz verfügen ...».
«Leitfaden Häusliche Gewalt» der SGGG
Aus diesem Grund hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Gynäkologinnen aus der ganzen Schweiz, die meisten mit einer psychosomatischen Zusatzausbildung, den «Leitfaden Häusliche Gewalt» (7) ausgearbeitet. Häusliche Gewalt integriert das Thema sexuelle Gewalt; die Vorschläge zum Umgang mit Betroffenen sind absolut übertragbar. In diesem Nachschlagewerk sind alle nötigen Informationen in kurzer, aber vollständiger Form zusammengestellt. Neben Kapiteln über Diagnose, Gesprächsführung,
Kasten 1:
Checkliste möglicher Interventionsschritte bei Patientinnen mit Verdacht auf Erfahrungen mit sexueller Gewalt
1. Bereitschaft signalisieren Bereits im Wartezimmer ausgelegtes Material signalisiert der Patientin, dass Sie bereit sind, sich mit Gewalt gegen Frauen zu befassen.
2. Ansprechen, zuhören, fragen Betroffene Patientinnen empfinden es oft als Erleichterung, wenn sie nicht selbst das Thema Gewalt ansprechen müssen, sondern befragt werden.
3. Untersuchen Alle Untersuchungen sollen im Einverständnis mit der Patientin in einer ungestörten Atmosphäre erfolgen.
4. Schützen Versuchen Sie herauszufinden, ob die Patientin derzeit schutzbedürftig ist. Die betroffene Patientin kann ihre Situation selbst am besten einschätzen. Wichtig ist, ihr bei Bedarf Schutzmöglichkeiten aufzuzeigen. Ihre Entscheidung, solche nicht in Anspruch zu nehmen, müssen wir respektieren. Die Polizei soll nur mit ihrer Zustimmung eingeschaltet werden.
5. Dokumentieren Notieren und dokumentieren Sie alle Untersuchungsergebnisse und Antworten der Patientin. Sollte die Patientin juristische Schritte einleiten, sind sie möglicherweise von Bedeutung.
6. Informieren und weitervermitteln Der Patientin sollten Telefonnummern und Adressen von Beratungsstellen angeboten werden. Sie sollen ihr jedoch nicht aufgedrängt werden, und sie muss darauf hingewiesen werden, dass es auch gefährlich sein kann, diese mit sich zu tragen. Bieten Sie an, den Kontakt zu Beratungsstellen oder Schutzeinrichtungen zu vermitteln.
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Betreuung und Screening enthält der Leitfaden Dokumentationsbögen, rechtliche Grundlagen, Hinweise zur speziellen Situation von Mädchen und Migrantinnen sowie Hinweise auf spezialisierte Betreuungsstellen in allen Kantonen. In Anlehnung an diesen Leitfaden ist hier eine Checkliste von Interventionsschritten bei Patientinnen, die möglicherweise sexuelle Gewalt erfahren haben, angefügt (siehe Kasten 1). Anzeichen einer möglicherweise erfahrenen Gewalt sind in Kasten 2 aufgeführt.
Gesprächsanleitungen
Ein Ansprechen des Themas Gewalterfahrung von Ärzteseite beginnt mit einer kurzen Erklärung. Mögliche Einleitungen können sein: «Studien in der Schweiz zeigen, dass jeder vierten Frau im Laufe ihres Lebens Gewalt wie Respektlosigkeit, Demütigung oder gar körperliche oder sexuelle Gewalt widerfährt. Da dies so häufig vorkommt, stelle ich allen Frauen die Frage, ob auch sie davon betroffen sind.» «Bei diesem Symptom/dieser Beobachtung/solchen Beschwerden müssen wir als Ärzte an alle möglichen Ursachen denken. Dazu gehört auch körperliche/sexuelle Gewalt. Könnte das bei Ihnen der Fall sein?» Spricht eine Frau über die Situation, in der sie Gewalt erfahren hat, ist die ärztliche Reaktion von besonderer Bedeutung. Die Art und Weise dieses Kontakts stellt die Weichen für die weitere Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen und kann dafür wegweisend sein, inwieweit sie weitere Hilfsangebote in Anspruch nehmen kann. Vermeiden müssen wir: ■ die Patientin, die nicht allein ist, auf
das Thema anzusprechen ■ Kontakt mit dem Partner aufzuneh-
men ■ Kontakt mit der Behörde/Polizei ohne
explizites Einverständnis der Patientin aufzunehmen (Ausnahme: akute lebensbedrohende Gefährdung).
Schwangere Patientinnen Bei Anamneseerhebung zu Beginn der Schwangerschaft sollte immer die Frage
Kasten 2:
Was sind mögliche Hinweise auf erfahrene Gewalt?
■ Auffällige Reaktionen vor und bei der gynäkologischen Untersuchung
■ Verletzungszeichen: Rhagaden, Hämatome an Vulva, Introitus, Vagina oder Rektum
■ Chronische Schmerzzustände ohne Korrelat an Vulva, Vagina, Urethra, Blase, Unterbauch (ggf. weitere)
■ Auffälligkeiten in der Sexualanamnese: Aversion, Ekel, Abscheu gegen Geschlechtsverkehr, sekundär aufgetretener Libidoverlust, Entfremdungsgefühle während des Geschlechtsverkehrs, «high-risk sexual behavior»
nach Gewalterfahrungen im sexuellen Bereich gestellt werden. Dies sollte immer in Abwesenheit weiterer Personen erfolgen. Da die Frauen selten von sich aus über diese Problematik reden, muss sie vom Arzt aktiv angesprochen werden. Es bleibt der Patientin überlassen, ob sie dieses Gesprächsangebot annimmt. Nach Gewalterfahrung werden durch konkrete Absprachen bei der Geburt Hilfestellungen geschaffen, die verhindern, dass vergangene Gefühle ausgelöst und intensiviert werden.
Spezielle Situation von Migrantinnen
Migrantinnen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, haben es besonders schwer, eine Misshandlungsbeziehung anzusprechen, zu verändern oder sich daraus zu lösen. Migrantinnen kennen ihre Rechte in der Schweiz und Hilfsangebote des Gesundheitswesens oft nicht. Meist sprechen sie die Landessprache nicht und sind von Kontakten mit Frauen, die in der Schweiz integriert sind, isoliert. Tradition und Religion spielen eine wichtige Rolle, da sie für die eigene Identität in der Fremde zentral werden, was ein Ausbrechen aus der Familie schwierig macht. Je bildungsferner, je sozial schlechter gestellt und durch sprachliche Barrieren behinderter eine Migrantin ist, desto grösser sind ihre Schwierigkeiten.
Ist die Aufenthaltsbewilligung an den Verbleib beim Ehemann gekoppelt, riskieren diese Frauen zudem den Verlust des Aufenthaltsrechtes, wenn sie sich vom Ehemann trennen. Zu beachten ist häufig auch: Nicht die Migration fördert Gewaltbereitschaft, sondern die Begleitumstände der Migration.
Kein Aktionismus!
Patientinnen nach sexueller Gewalt in
der gynäkologischen Praxis – ein wichti-
ges Thema, und dennoch: Wir sollten
uns nicht zu einem Aktivismus verleiten
lassen, der letztlich in unserer Überforde-
rung endet. Grenzen wahrzunehmen und
bewusst zu setzen, ist wichtig. Unter
Berücksichtigung der genannten
Aspekte zeichnet sich eine professio-
nelle ärztliche Betreuung durch eine Hal-
tung aus, die offen, unterstützend und
respektvoll ist.
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Dr. med. Elke Krause Universitätsfrauenklinik Inselspital 3010 Bern E-Mail: elke.krause@insel.ch
Quellen:
1. Sigusch, Volkmar: Neosexualitäten – Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt/Main, Campus-Verlag, 2005.
2. UNFEM (UN Secretary-General Ban Ki-moon): Facts and figures on violence against women. 8 March 2007. http://www. unifem.org.
3. Schmid, C. (UBS Optimus Foundation als Hrsg.): Sexuelle Übergriffe an Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Formen, Verbreitung, Tatumstände. (OptimusStudy Schweiz). Zürich 2011.
4. Jundt K et al.: Pregnant women after physical and sexual abuse in Germany, Gynecol Obstet Invest. 2009; 68(2): 82–87.
5. Ludermir AB et al.: Violence against women by their intimate partner during pregnancy and postnatal depression: a prospective cohort study. Lancet 2010; 11; 376(9744): 903–10.
6. Peschers UM et al.: Prevalence of sexual abuse among women seeking gynecologic care in Germany. Obstet Gynecol. 2003; 101(1): 103–8.
7. Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (gynécologie suisse) (Hrsg.): Leitfaden Häusliche Gewalt. Bern 2009.
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