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Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie
Gynäkologische Fragestellungen beim neugeborenen Mädchen
Prä- und postnatale Befunde
Gynäkologische Fragen können sich bereits vor Geburt des Mädchens stellen. Die Anatomie der Neugeborenen ist auch durch den Einfluss mütterlicher Hormone geprägt. Bei der Neugeborenenuntersuchung und der ersten Vorsorgeuntersuchung nach vier Wochen sollte man den anwesenden Eltern die weibliche Anatomie und auch Hygienemassnahmen erklären.
RENATE HÜRLIMANN
Pränatale Befunde
Gemäss einer Studie (1) werden bei 10 von 9200 Mädchen pränatal Ovarialzysten im 2. oder 3. Trimester der Schwangerschaft festgestellt. Ursache sind mütterliche Faktoren wie Diabetes mellitus, Präeklampsie und Rhesusinkompatibilität, einhergehend mit erhöhtem, plazentärem Choriogonadotropin, welches zur ovariellen Stimulation führt. Aber auch fetale Faktoren wie Hypothyreose und das adrenogenitale Syndrom (21-Hydroxylasemangel) können funktionelle Ovarialzysten induzieren. Durch den postnatalen Abfall des plazentären BetaHCG und des Östrogens kommt es zur spontanen Regression. Die Zysten können sich aber auch postnatal aufgrund des kindlichen passageren LH/FSHAnstiegs (sogenannte «Minipubertät») bis zum 3. Lebensmonat noch vergrössern. Bei 30 bis 60 Prozent aller neugeborenen Mädchen finden sich reife Follikel; Ovarialzysten haben definitionsgemäss mehr als 2 cm Durchmessser. Unterschieden werden die pathologischen Zysten in einfache und komplexe (Septum, solide Anteile, Einblutung oder Débris). Differenzialdiagnostisch ist an andere abdominelle Zysten zu denken, zum Beispiel ausgehend von Nieren und ableitenden Harnwegen, oder an Mesenteriumzysten, anteriore Meningozele oder Hydrometrokolpos. Maligne Ovarialzysten sind bei Neugeborenen sehr selten; falls sie auftreten, handelt es sich meist um zystische Teratome. Torsionsgefahr droht Zysten ab einem Durchmesser von 4 bis 5 cm. Dabei spielen neben der Grösse das Gewicht des Ovars, erhöht bei eingebluteter Zyste oder Tumor, und die Länge der Adnexe als Drehmoment eine entscheidende Rolle. In einer Studie (2) kam es bei 5 von 14 Mädchen zu einer Einblutung und zu einer Torsion. Darum muss an eine Torsion ge-
dacht werden, wenn das Ovar grösser respektive die Zyste komplex wird. Letzteres ereignet sich meist pränatal oder unter der Geburt. So fordern Bagolan et al. (3) eine pränatale Zystenaspiration bei einem Zystendurchmesser ab 4 cm. Ebenfalls eine postnatale Zystenaspiration wird postuliert ab einem Zystendurchmesser von 4 bis 5 cm zur Diagnosesicherung und Verhinderung einer Torsion. Komplexe Zysten werden eher laparaskopisch angegangen. Eine Richtlinie oder einen publizierten Konsensus gibt es hierzu jedoch nicht.
Eltern über Anatomie aufklären
Dem weibliche Genitale wird anlässlich der Neugeborenenuntersuchung, aber auch bei der ersten Vorsorgeuntersuchung im Alter von 4 Wochen im Gegensatz zum männlichen Genitale wenig Beachtung geschenkt. Bei diesen beiden ersten Vorsorgeuntersuchungen bietet sich die beste Möglichkeit, den anwesenden Eltern die weibliche Anatomie und auch Hygienemassnahmen zu erklären. Häufig findet sich bei der 1-Monats-Vorsorgeuntersuchung viel mit Stuhl vermischtes Smegma zwischen den Labien. Die Mütter trauen sich nicht, dieses wegzuwischen, um das Jungfernhäutchen nicht zu verletzen. Hier kann mit der einfachen Traktionsmethode die Anatomie erklärt werden (Abbildung 1). Da das Genitale noch östrogenisiert ist, lässt sich das wulstige Hymen mit dem Introitus sehr gut zeigen. Bei Erklärung der Anatomie sind die Eltern immer wieder erstaunt: Viele vermuten das Hymen nicht am Vaginaleingang, sondern weiter oben im Bereich der Zervix. Manche glauben sogar, es bestehe noch gar keine Öffnung, und diese entstehe erst beim ersten Geschlechtsverkehr. Östrogenabbruchblutungen erscheinen in den ers-
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inspektion mit Erklären der Anatomie zeigt den Eltern unter anderem auf, dass der Kinderärztin Veränderungen am Genitale nicht verborgen bleiben werden.
Abbildung 1: Traktion bei neugeborenem Mädchen mit Darstellung des Hymens.
Fluor
Der Fluor soll insgesamt als positiv bewertet werden: Dieses Sekret aus der Vagina beweist eine offene Verbindung zum Uterus, von dessen Zervixdrüsenfeld der Fluor stammt. Entzündlicher Fluor ist in diesem Alter sehr selten, es handelt sich dann meist um perinatal übertragene Trichomonaden.
Abbildung 2: Mukokolpos (Foto: F. Navratil).
Abbildung 3: Neugeborenes Mädchen mit OHVIRA (Obstructed Hemi Vagina with Ipsilateral Renal Anomaly; [a] ipsilaterale Niere fehlt; [b] Uterus didelphys mit obstruierter Hemivagina). Das semilunäre Hymen ist gut sichtbar. Bei der den Introitus ausfüllenden Vorwölbung handelt es sich um die mit Sekret gefüllte prolabierende rechte Hemivagina.
ten 10 Lebenstagen bei 1 bis 2 Prozent der Mädchen. Aufgrund der Östrogenisierung sind Hymenalanhängsel beim neugeborenen Mädchen besonders gut sichtbar.
Mädchenbeschneidung ansprechen!
Bei Eltern aus Herkunftsländern mit genitaler Mädchenbeschneidung sollte dieses Thema sorgfältig angesprochen und über die Gesetzgebung in der Schweiz informiert werden. Die in der Schweiz und auch im Ausland veranlasste Beschneidung wird als schwere Körperverletzung geahndet. Die Genital-
Hymenalatresie
Fehlender Fluor ist der Hinweis für eine Anlageanomalie: Die häufigste ist die Hymenalatresie (1:1000), danach folgen die Aplasie von Vagina und Uterus (Maier-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom, Vorkommen 1:5000) oder eine sonstige Abflussstörung, wie das viel seltenere transverse Vaginalseptum. Die Hymenalatresie zeigt sich meist mit einem Hydrooder Mukokolpos (Abbildung 2), es kann aber auch eine dickere Hymenalplatte ohne Vorwölbung vorliegen. Manchmal wird der Hydro-/Mukokolpos erst beim Schreien mit der weisslich-gelben Vorwölbung sichtbar. Mit Abfall der Östrogenisierung wird das Muko-/Hydrokolpos resorbiert, und die Vorwölbung verschwindet. Bei sehr dünnem Gewebe kommt es nicht selten zur Spontanperforation. Nicht selten täuscht ein hoch ansetzendes Hymen (Hymen altus) eine Hymenalatresie vor. Andere Vorwölbungen im Introitus sind zum Beispiel die obstruierende Hemivagina (OHVIRA; Abbildung 3), Gartner-Gang-Zysten, Paraurethralzysten oder eine durch die Urethra prolabierende Ureterozele bei Doppelmissbildung des reno-ureteralen Systems. Eine Sonografie ist in solchen Situationen obligat: In den ersten Lebenswochen ist der Uterus mit einer Länge von 3 bis 5 cm gut identifizierbar, die Zervix dabei deutlich länger und breiter als der Corpus. Das Endometrium ist als hyperechogene Linie im Corpus darstellbar. Unbedingt muss auch die Sonografie der Nieren und der ableitenden Harnwege verlangt werden: Bei OHVIRA und beim MRKH-Syndrom liegt fast obligat eine Nierenmissbildung vor. Die Exzision der Hymenalatresie mit Adaption der Wundnähte sollte während der Östrogensierung, vorzugsweise in der Pubertät vor der Menarche, erfolgen, damit es dann nicht zur Stenosierung kommt. Eine Punktion mit Aspiration postpartal ist kontraindiziert, da das Mukokolpos nachfüllt und zudem die Gefahr einer Keimaszension besteht. Nur eine postpartal symptomatische Hymenalatresie (Beispiel Urethrakompression) muss fachgerecht inzidiert werden. Wegen der rasch abfallenden Östrogenisierung kommt es nicht selten zu einer Stenosierung des Introitus, was einen zweiten Eingriff in der Pubertät erfordert.
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Abbildung 5: Virilisiertes Genitale bei Mädchen mit adrenogenitalem Syndrom (46XX-DSD).
Abbildung 4: Ausgeprägter «perineal groove» oder «perineal midline fusion defect» bei neugeborenem Mädchen.
Fehlende Dammfusion
Der «perineal groove» oder «perineal midline fusion defect» ist eine embryonale Missbildung, bei welcher die Raphe perinei nicht verschlossen wird (Abbildung 4). Man nimmt an, dass es sich um das Überbleibsel des urorektalen Septums handelt. Es imponiert ein geröteter, nicht epithelialisierter Sulcus, der von der Fossa navicularis bis zum Anus reicht. Es fehlt somit auch die hintere Kommissur, welche das Vestibulum vom Perineum abgrenzt. Die Breite des Sulcus ist unterschiedlich, in der Neugeborenenperiode schon vorhanden, jedoch unterdiagnostiziert. Die Häufigkeit ist unklar, wahrscheinlich werden viele als Analfissuren oder Windeldermatitis gedeutet und behandelt. Aus Erfahrung epithelialisiert der «perineal midline fusion defect» mit den Jahren. Komplikationen sind nicht zu erwarten, auch Superinfektionen mit enteralen Keimen sind selten. Grössere Defekte mit rezidivierenden Infekten können exzidiert und chirurgisch verschlossen werden. Nicht selten treten aber Nahtdehiszenzen aufgrund bakterieller Kontamination (Stuhl und Urin) auf.
Ist es ein Mädchen?
Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD: disorder of sex development) und somit die Beantwortung der oft ersten Frage nach der Geburt: «Ist es ein Mädchen oder ein Junge?», sind eine besondere Herausforderung an die Hebamme, den Geburtshelfer und den Pädiater im Gebärsaal. Bei 90 Prozent der Neugeborenen mit einem intersexuellen Genitale handelt es sich um Mädchen mit einem adrenogenitalen Syndrom (46XX-DSD; Abbildung 5). Die intrauterine Androgenerhöhung führt zur Virilisierung mit Klitorishypertrophie und Sinus urogenitalis. Die restlichen 10 Prozent sind 46XY-DSD (Beispiel Androgenresistenz) oder gemischte Gonadendysgenesien (z.B. 45%/46XY-DSD).
In jedem Fall sind eine sofortige Beurteilung aus dem Fachbereich der pädiatrischen Endokrinologie einzuholen und die entsprechenden Abklärungen in die Wege zu leiten. Die meist jahrelange Begleitung und Beratung der Eltern und des Kindes soll dann möglichst durch ein multidisziplinäres Team (Endokrinologie, Urologie, Kinder- und Jugendgynäkologie, Psychologie, Ethik) erfolgen.
Geschwollene Brustdrüsen
Zwei Drittel der am Termin geborenen Mädchen ha-
ben eine mehr oder weniger ausgepägte Schwellung
der Brustdrüsen. Unter dem mütterlichen Östrogen,
Progesteron und Prolaktin kommt es zur Drüsenpro-
liferation und eventuell zur Kolostrumbildung (He-
xenmilch).
Das Maximum der Schwellung ist am 10. Lebenstag,
die Schwellung kann bis zum 10. Lebensmonat be-
obachtet werden. Um eine Mastitis neonatorum zu
vermeiden, darf an der Brustdrüse nicht manipuliert
werden, und es ist ausserdem bei der Pflege auf eine
gute Händehygiene zu achten. Erreger der Mastitis
neonatorum sind primär Staphylokokken und E. coli.
Akzessorische Brustdrüsen oder Polythelie sind bei
3 Prozent der Neugeborenen in der embryonalen
Milchleiste vorhanden und primär gutartig.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Renate Hürlimann Co-Präsidentin Gynea FMH Kinder- und Jugendmedizin Leiterin Kinder- und Jugendgynäkologie Universitäts-Kinderklinik Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich
Referenzen:
1. Sánchez P, Gámez F, de León-Luis J, Antonio Carrillo J, Martínez R. Fetal ovarian cyst: prenatal diagnosis, perinatal outcome and treatment. Case series and literature review. Ginecol Obstet Mex 2012; 80(2): 84–90.
2. Akin MA et al.: Fetal-Neonatal Ovarian Cysts-Their Monitoring and Management: Retrospective Evaluation of 20 Cases and Review of the Literature. J Clin Res Pediatr Endocrinol 2010; doi: 10.4274/jcrpe.v2i1.28
3. Conforti A, Giorlandino C, Bagolan P. Fetal ovarian cysts management and ovarian prognosis: a report of 82 cases. J Pediatr Surg 2009; 44(4): 868.
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