Transkript
EXPERTENBRIEF NR. 39 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 39
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. Daniel Surbek
Nicht medizinisch indizierte vulvovaginale Eingriffe
Immer häufiger werden Frauenärztinnen und Frauenärzte wegen einer Korrektur des weiblichen Genitales konsultiert, weil das Erscheinungsbild nach Ansicht der Patientin nicht der Norm oder dem Schönheitsideal entspricht. Die SGGG zeigt Hintergründe und gibt Empfehlungen, wie sich Kollegen bei diesen Konstellationen verhalten sollten.
Pius Wyss, Judit Pok, Diego P. Hagmann, Felix Haberthür, Sibil Tschudin, Saira-Christine Renteria, Patrick Hohlfeld
Zeit stellt die Pornografie eine der wichtigsten Referenzen dar, sie zeigt vorwiegend rasierte, kindlich erscheinende Genitalorgane bei der Frau.
Ausgangslage
Weibliches Genitale: Entwicklung und Variabilität Das weibliche Genitale weist eine grosse interindividuelle Variabilität auf. Während sich das unbehaarte, kindliche Genitale bei kleinen Mädchen, bei denen fast nur die Labia majora sichtbar sind, ziemlich einheitlich darstellt, ändert sich die Situation mit Eintritt in die Geschlechtsreife grundlegend. Unter dem Einfluss der Sexualhormone kommen die typische Behaarung des äusseren Genitales, die Entwicklung und Ausbildung der Labia minora, der Klitoris mit Präputium und die dunkle Pigmentierung zustande. Diese Entwicklung verläuft individuell sehr unterschiedlich; es resultiert eine grosse individuelle Vielfalt der Erscheinung des äusseren Genitales ohne Korrelation zu Alter, Parität, Ethnie oder sexueller Aktivität. Am Ende der Adoleszenz ist das Genitale in der Regel für seine Funktionen in Sexualität und Fortpflanzung ausgebildet. Auch das Hymen zeichnet sich durch eine überaus grosse Variabilität und Elastizität aus, sodass ein erheblicher Teil der Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr weder Schmerzen empfindet noch blutet und ein Geschlechtsverkehr nicht zwingend Spuren am Hymen hinterlässt.
Soziokulturelle Aspekte Der Trend, die Schambehaarung zu rasieren, hat, zusammen mit der immer knapper werdenden Bade- und Dessousmode, in den letzten 20 Jahren die Aufmerksamkeit auf die «Ästhetik des äusseren Genitales» gelenkt. Durch die genannten Trends und den vermehrten Zugang zu bildlichen Darstellungen wurden für viele Frauen die individuellen Unterschiede des äusseren Genitales erst sichtbar und bewusst. Das Erkennen der Abweichung des Erscheinungsbildes des eigenen Genitales von einer vermeintlichen Norm kann bei der einzelnen Frau zur Verunsicherung führen. Gesellschaftskritisch muss man hier die Frage stellen, ob es für das Erscheinungsbild des Genitales «Standards» geben soll und wenn ja, welche (1). Bereits vor Jahrhunderten wurde in Malerei und plastischer Kunst überwiegend das jugendliche Genitale abgebildet. In der heutigen
(Kosmetische) Vulvovaginale Eingriffe
Die komplexe Entstehung der Genitalorgane aus den embryonalen Strukturen kann, nebst anderen Faktoren, zu Fehlbildungen führen, die zum Teil erst in der Pubertät manifest werden. Die Behandlung dieser genitalen Malformationen, wie auch Eingriffe zur Korrektur sekundär erworbener Veränderungen im Genitalbereich, zum Beispiel nach Unfällen, haben als medizinische Aufgabe immer schon in die Domäne des operativ tätigen Gynäkologen respektive Kinderchirurgen gehört. Diese Operationen haben zum Ziel, die Anatomie dahingehend zu verändern und/oder zu rekonstruieren, dass eine soweit möglich ungestörte Funktion der Geschlechtsorgane daraus resultiert. Ebenso haben seit jeher Veränderungen in der weiblichen Anatomie durch Geburten in den Aufgabenbereich des/der operativ tätigen Frauenarztes/-ärztin gehört. Die Operationen bei Deszensus- und Prolapsproblematik mit oder ohne Inkontinenz stellen ein zentrales Betätigungsfeld der Gynäkologen dar. Seit Langem ist dabei aber bekannt, dass die anatomischen Veränderungen bei Senkungserscheinungen die Frauen nicht zwingend stören und sich auch in der Sexualität nicht negativ auswirken müssen. Bei der Deszensusthematik zeigt sich deutlich, dass Anatomie, subjektives Empfinden, eventuelle Beschwerden und die Funktion des Genitales sich nicht unbedingt kongruent verhalten müssen, sondern durchaus divergieren können. Dies veranschaulicht, dass sich aus anatomischen Gegebenheiten keine Rückschlüsse auf die sexuelle Funktion und das subjektive Empfinden ziehen lassen.
«Vaginal Rejuvenation» und «Sexual Enhancement» Grundsätzlich anders ist die Problematik bei kosmetischen vulvovaginalen Eingriffen, wie rein ästhetisch motivierte Labienkorrekturen, «vaginal rejuvenation» und «sexual enhancement» genannt. Hier zeigt sich bereits an dem Begriff «vaginal rejuvenation», dass es sich nicht um ein medizinisches, sondern um ein ästhetisches Problem im Sinne des aktuell geltenden Schönheitsideals, der Jugendlichkeit, handelt.
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Die Literatur zeigt, dass fast doppelt so viele Frauen sich eine Labienresektion aus dem Gefühl heraus wünschen, dadurch normaler, selbstsicherer und schöner zu sein, als diejenigen, die medizinische Gründe angeben (2). Ein weiteres Thema der ästhetischen vulvovaginalen Chirurgie sind operative Vorgehen zur Verbesserung der «sexuellen Performance». In der Regel wird bei diesen Eingriffen der Zugang zur Klitoris durch Resektion des Präputium clitoridis erleichtert, oder sie zielen auf die Vergrösserung des G-Punktes ab. Diese Art von Interventionen zielt nicht auf die Kosmetik, sondern beabsichtigt eine Verbesserung der Funktion in der Sexualität mit mehr Lustgewinn und grösserer sexueller Zufriedenheit. Somit handelt es sich eindeutig um Eingriffe im Bereich der Enhancement-Medizin.
Empfehlung ■ Operationen zur kosmetischen Veränderung, zur «vagi-
nal rejuvenation» und zum «sexual enhancement» gehören in den Bereich der ästhetisch-plastischen und der Enhancement-Medizin. Sie sind nicht Teil des üblichen frauenärztlichen Aufgabenspektrums, können aber unter gewissen Umständen doch Teil frauenärztlicher Handlungen und Tätigkeiten sein. Gerade Frauenärztinnen und -ärzte sind aufgerufen, aufgrund ihrer umfassenden Kenntnisse rund um die Vielfalt des genitalen Erscheinungsbildes Frauen mit Wunsch nach Korrektureingriffen aufzuklären und vor unnötigen Operationen zu bewahren. Insbesondere sollten sie sorgfältig darüber aufklären, dass sich aus anatomischen Gegebenheiten keine Rückschlüsse auf die sexuelle Funktion und das subjektive Empfinden ziehen lassen. Besondere Vorsicht ist bei Wunsch nach «Better-SexOperationen» geboten, da gerade in diesem Bereich häufig nicht anatomische, sondern funktionelle und/oder psychische Probleme vorliegen. ■ Bei Patientinnen, deren Körperformen für den Arzt/die Ärztin eigentlich physiologisch erscheinen und die dennoch eine kosmetische Vulvakorrektur wünschen, muss an die Möglichkeit einer dahinterliegenden seelischen Störung gedacht werden. Solche Patientinnen sind erfahrungsgemäss mit dem postoperativen Resultat seltener zufrieden und stellen so für den Arzt eventuell auch ein erhöhtes juristisches Risiko dar. Eine Operation kann bei diesen Patientinnen die mögliche seelische Störung noch verstärken. ■ Dennoch ist es in gewissen Situationen verständlich und gerechtfertigt, als Arzt/Ärztin nach eingehender Aufklärung dem Wunsch einer Frau nach kosmetischem Eingriff im Vulvabereich zu entsprechen. Aus juristischen Gründen sollte eine besonders gute Dokumentation der Vulvabefunde und des Anliegens der Frau vorgenommen und das Aufklärungsgespräch ausführlich festgehalten werden. Insbesondere sind die möglichen Komplikationen und Spätfolgen zu nennen, um sich vor späteren Vorwürfen zu schützen.
■ Die Kosten des voraussichtlichen Eingriffes sind festzulegen, zumal die Frau selber dafür aufkommen muss. Gewarnt wird davor, eine medizinische Indikation für einen aus eigener Sicht rein kosmetischen Eingriff zu konstruieren. Dies würde streng genommen einem Versicherungsbetrug entsprechen.
Hymenrekonstruktion
Jungfräulichkeit kann aus den dargelegten anatomischen Gegebenheiten nicht an einer organischen Struktur, wie dem Hymen, festgemacht werden. Dennoch geraten immer wieder junge Frauen in Bedrängnis, und sie treten mit dem Wunsch nach einer Hymenrekonstruktion an Ärztinnen/Ärzte heran.
Empfehlung ■ Diese Medikalisierung eines gesellschaftlichen respektive
kulturellen Problems sollte abgelehnt werden. Die «Wiederherstellung der Jungfräulichkeit» gehört in unserer Gesellschaft nicht zu den Aufgaben der Medizin. Entsprechend kann die Hymenrekonstruktion nicht Teil des üblichen ärztlichen Aufgabenspektrums sein. Zudem kann man sich die Frage stellen, ob nicht durch Hymenrekonstruktionen frauenfeindliche Praktiken und Traditionen perpetuiert werden. Die SGGG empfiehlt ihren Mitgliedern, sich davon zu distanzieren. ■ Dennoch ist es in ausgewählten Einzelfällen verständlich, dass aufgrund der Notsituation einer Frau ein Arzt/eine Ärztin sich entschliesst, im Sinne einer Hilfeleistung eine Hymenrekonstruktion vorzunehmen. Dies soll dem Arzt/der Ärztin unbenommen sein – und diese individuelle ärztliche Entscheidung ist zu respektieren.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Daniel Surbek Universitäts-Frauenklinik Inselspital Bern E-Mail: qsk-sggg@insel.ch
Datum: 9. Mai 2011
Literatur: 1. Lloyed, J. et al.: Female genitale appaearance: Normality unfolds. BJOG 2005; 112(5): 643–46. 2. Goodman, M. et al.: A large multicenter outcome study of female genital plastic surgery. J Sex Med. 2010; 7(4 Pt 1): 1565–77.
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