Transkript
SERIE UROGYNÄKOLOGIE
Nr. 2:
Die Behandlung bei Genitaldeszensus
Genitaldeszensus in der zweiten Lebenshälfte ist sehr häufig und
kann mit Fremdkörper- oder Senkungsgefühl, Miktions- und Defäkati-
In einer mehrteiligen Serie stellt das
onsstörungen oder sogar mit Ulzerationen einhergehen. Wenn die
Team
konservative Behandlung mit Physiotherapie und Pessartherapie ausgeschöpft ist, hat die klassische Deszensuschirurgie ihren Platz.
Dr. med. Cornelia Betschart, Dr. med. David Scheiner und PD Dr. med. Daniele Perucchini,
Oberärzte am UniversitätsSpital
Zürich, wertvolle Hinweise zu
Beim Genitaldeszensus handelt es sich (Abbildung 1). Die Lebensqualität bei um eine Senkung der vorderen oder hin- Genitaldeszensus ist reduziert (1).
urogynäkologischen Themen in der Praxis zusammen.
teren Vaginalwand mit Tiefertreten von
Blase oder Rektum (Zysto- oder Rekto- Prävalenz und Operationsrisiken
zele) oder des Apex (Deszensus uteri Die Einteilung des Ausmasses eines oder Inkontinenz operiert zu werden (9).
bzw. Vaginalstumpfdeszensus nach Hys- Genitaldeszensus erfolgt heute nach Die häufig zitierte Reoperationsrate von
terektomie).
dem Pelvic-Organ-Prolapse-Quantification- 29% wegen Rezidiven dagegen ist ge-
System (POP-Q) der International Conti- rade im Hinblick auf die aktuelle Diskus-
Symptome und klinische Befunde nence Society, welches die Stadienein- sion über den Einsatz von alloplastischen
Typische Symptome sind vaginales Druck- teilung nach dem Baden-Walker-Half- Netzen in der Beckenbodenchirurgie
oder Fremdkörpergefühl, aber auch Un- way-Scoring-System weitgehend ersetzt und der 2011 herausgegebenen War-
terbauchbeschwerden, die tagsüber zu- hat (Tabelle) (2, 3).
nung der FDA kritisch zu betrachten (10).
nehmen und im Liegen bessern.
Die Prävalenz von Senkungsbeschwer- Die hohe Rezidivrate erklärt sich durch
Vaginale Ulzerationen durch Scheuern an den variiert je nach Studie zwischen 2,9% den Einbezug von Inkontinenzoperatio-
der Unterwäsche können blutigen Fluor und 31% (4–7). In der Routinesprech- nen, welche 1997 noch mittels Kolposus-
verursachen.
stunde zeigen 24% keinen Deszensus, pension durchgeführt wurden. Zudem ist
Die Zystozele kann zu Blasenentlee- 38% Grad I, 35% Grad II und 2% Grad III die Rezidivrate in Studien verschieden
rungsstörungen mit Restharnbildung nach POP-Q (8).
definiert: Reoperation wegen Rezidivs
führen und auch Drangsymptomatik ver- Olsen fand ein Risiko von 11%, bis zum und Reoperation wegen Deszensus in ei-
ursachen. Eine Urininkontinenz kann zu- Alter von 80 Jahren wegen Deszensus nem unberührten Kompartiment werden
sätzlich bestehen, wobei kein ursächlicher
Zusammenhang mit der Blasensenkung
besteht. Rektozelen wiederum begünsti-
gen Defäkationsbeschwerden und Obsti-
pation (stool outlet obstruction), rektale
Schmerzen oder Druckgefühl.
Bei der Zystozele unterscheiden wir zwi-
schen der zentralen Pulsationszystozele
(oder Pulsionszystozele) bei zentralem
Defekt der endopelvinen Faszie mit ver-
strichenen Rugae vaginales und erhalte-
nen lateralen Vaginalsulci und der latera-
len Traktionszystozele bei lateralem
Defekt am Arcus tendineus mit erhalte-
nen Rugae und verstrichenen Sulci.
Risikofaktoren für einen Genitaldeszen-
sus sind vaginale Geburten, Schwangerschaft, Alter, Östrogenmangel und chronische Belastung wie chronischer Husten, Adipositas oder chronische Obstipation
Abbildung 1: Geburt als akutes Trauma (32–34): Mit der ersten vaginalen Geburt verdoppelt sich das Risiko, im Lauf des Lebens eine Belastungs- oder Stuhlinkontinenz zu entwickeln. Weitere Vaginalgeburten erhöhen das Risiko nicht mehr. Dagegen ist das Risiko, einen Genitaldeszensus zu entwickeln, mit der ersten vaginalen Geburt vervierfacht und steigt mit jeder weiteren vaginalen Geburt an.
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teilweise beide als Rezidiveingriff zusammengefasst (11). Die Folgeanalyse der Verlaufsdaten von Olsen nach 5 und 10 Jahren ergab dann eine Rezidivrate von nur noch 13% und 17%, für Zystozelen allein sogar von nur 4,6 % (12–14). In einer anderen Studie lag die Reoperationsrate für Rezidive nach klassischer Diaphragmaplastik nach über vier Jahren bei nur 3,4%, wogegen 12% bereits nach drei Monaten ein anatomisches Rezidiv hatten (15). Auch die Genfer Kollegen fanden nach klassischer Deszensuschirurgie eine Inzidenz von nur 5,1 Reoperationen auf 1000 Frauenjahre und eine kumulative Inzidenz von 5,6% (16).
Konservative Therapiemassnahmen
Ein symptomatischer Deszensus, der die Patientin in ihrer Lebensqualität stört, sollte behandelt werden. Ob ein Senkungsbefund subjektiv als störend empfunden wird, ist sehr unterschiedlich. Adipösen Patientinnen sei die Gewichtsreduktion empfohlen (17). Beckenbodentraining, ballaststoffreiche Ernährung und Stuhlregulation zur Vermeidung der Bauchpresse bei chronischer Obstipation können bei leichtem Prolaps ein Fortschreiten der Symptome verringern, wobei es keine Evidenz für Regredienz von Senkungsbefunden nach Beckenbodentraining gibt. Physiotherapie erhöht aber den Tonus der Beckenbodenmuskulatur, welche die Organe des kleinen Beckens trägt und stützt. Weitere allfällige Risikofaktoren wie körperliche (Fehl-)Belastung oder chronische Bronchitis sollen reduziert oder behoben werden.
Pessare Moderne Pessare bestehen aus dem «weichen», gut verträglichen Silikon (18). Indem sie den Levatorenschenkeln aufsitzen, beheben sie den Genitaldeszensus. Die Indikation zur Pessartherapie umfasst die konservative Therapie und erstreckt sich von der nicht operablen Patientin mit schwerer Komorbidität über Rezidivdeszensus, positiven Kinderwunsch oder Schwangerschaft bis zur Patientin mit Wunsch nach nicht operativer Therapie.
Tabelle:
Einteilung des Genitaldeszensus für Zysto- und Rektozele oder Deszensus uteri respektive Vaginalstumpfdeszensus
Vergleich des Halfway-Scoring-Systems von Baden-Walker mit dem Pelvic-Organ-ProlapseQuantification-System (POP-Q) nach Bump. Das Halfway-System erlaubt die einfache und rasche visuelle Einteilung, wurde jedoch 1997 durch das POP-Q-System abgelöst. Das POP-QSystem wartet mit einer zentimetergenauen Quantifikation zum objektivierbaren Vergleich auf. Ein Tiefertreten über den Hymenalsaum hinaus wird im deutschsprachigen Raum als Prolaps bezeichnet.
Grad 0 1 2 3
4
Baden-Walker Halfway-Scoring-System
Kein Deszensus Deszensus bis zur Scheidenmitte
Deszensus bis zum Hymen
Prolaps der halben Vaginallänge über das Hymen hinaus
Maximaler Prolaps = Totalprolaps, die ganze Vaginallänge deszendiert
Pelvic-Organ-Prolapse-QuantificationSystem (POP-Q) Kein Deszensus Maximaler Deszensus bis > 1 cm oberhalb des Hymens Deszensus 1 cm kranial bis 1 cm kaudal des Hymens (≤ 1 cm kranial bis 1 cm kaudal) Deszensus > 1 cm kaudal des Hymens des Introitus, aber höchstens Vaginallänge minus 2 cm Totalprolaps von mindestens Vaginallänge minus 2 cm über das Hymen hinaus
Der Pessareinsatz kann die Zeit bis zur Operation überbrücken. Pessare können diagnostisch im Sinne eines Repositionsversuchs aufzeigen, ob eine larvierte Belastungsinkontinenz besteht, indem durch Aufheben der Harnröhrenabknickung eine Urethrasphinkterinsuffizienz in Erscheinung treten kann. Andererseits kann das Pessar durch dessen externe Obstruktion der Harnröhre eine Inkontinenz verbessern. Der Outcome der Pessaranwendung kann im einzelnen Fall nicht vorausgesagt werden und ist entscheidend für die Patientinnencompliance. Die Pessartherapie soll möglichst mit einer lokalen Östrogenisierung (z.B. Östriolcreme) kombiniert werden. Damit wird auch eine postmenopausale Genitalatrophie behandelt. Prinzipiell stehen drei Typen zur Verfügung: Würfel-, Schalen- und Ringpessare (Abbildung 2). Während Würfelpessare häufig nur tagsüber getragen und von der Patientin selbstständig angewendet werden, können Ring- oder Siebschalenpessare bis zu 6 Wochen belassen werden und eignen sich gerade für betagte Patientinnen. Störender, durch Anaerobier verursachter Geruch wird mit einer Clindamycin-
haltigen Creme angegangen. Die Akzeptanzrate für die Pessartherapie ist mit 73% gut (19). Eine kurze Scheide (< 6 cm) und ein weiter, für vier oder mehr Querfinger durchgängiger Introitus sind Risikofaktoren für den Misserfolg. Auch bei isolierter Rektozele scheinen Pessare durch die auseinandergewichenen Levatorenschenkel nicht ausreichendend zu halten. Regelmässige Spekulumeinstellungen und Pessarwechsel sind
Abbildung 2: Pessare: Die heute gebräuchlichen Pessare bestehen in der Regel aus Silikon. Pessare unterscheiden sich in Form und Einsatz. So dienen Würfelpessare, die tagsüber von der Patientin selbstständig eingeführt und vor dem Schlafengehen wieder entfernt werden, der Reposition des Genitaldeszensus. Urethralschalenpessare mit Olive mit ihrer Verstärkung an suburethraler Position können bei gleichzeitig bestehender Belastungsinkontinenz eingesetzt werden.
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notwendig, erstmalig nach 3 bis 4 Wochen und im Verlauf alle 6 Wochen. Zeigen sich Druckstellen oder Ulzerationen, sollen die Pessartherapie für einige Tage ausgesetzt und solange Tupferpessare (z.B. Retovaginaltampon) mit grosszügiger Anwendung von Östriolcreme verwendet werden. Ob Pessar oder Operation angewendet werden, obliegt letztlich der Patientin. Mit den besseren chirurgischen Resultaten und Anästhesieverfahren bei älteren Patientinnen hat die Indikation für ein Pessar als definitive Therapie abgenommen.
Operative Therapie: Deszensuschirurgie
Zur präoperativen Abklärung verweisen wir auf den ersten Artikel unserer Serie (GYNÄKOLOGIE 2012; 2: 34–38). Bei Defäkationsbeschwerden ist die proktologische Abklärung mit Analmanometrie oder Defäkografie zu diskutieren. Die Deszensuschirurgie bezweckt die Rekonstruktion von Topografie und Funktion der Organe des kleinen Beckens durch Wiederherstellung der Faszienstrukturen des Halteapparates von Blase, Genitalorganen und Rektum. In den letzten Jahren hat die Interposition von alloplastischen Netzen (Mesh) Verbreitung gefunden, wird aber derzeit kontrovers diskutiert. Prinzipiell erfolgt die Deszensuschirurgie (20) entweder von vaginal oder von abdominal (bzw. laparoskopisch). Der vaginale Zugang ist naheliegend für Eingriffe an Vulva, Perineum oder Anus, Beckenund Blasenboden, während der abdominale Zugang bei apikalem Deszensus von Uterus oder Scheidenstumpf für dessen Fixierung in der physiologischen Achse ideal ist. Die bei entsprechender Senkung häufig in gleicher Sitzung durchgeführte Hysterektomie kann über alle drei erwähnten Zugangswege erfolgen. Die Konkretisierung der Operation hängt im Einzelfall von den subjektiven Beschwerden und den objektivierbaren Defekten respektive der Intaktheit der einzelnen Kompartimente ab. So wird ein Uterustotalprolaps mit Zysto- und Rektozele mittels vaginaler Hysterekto-
Abbildung 3: Gegenüberstellung von anatomischem Defekt und Chirurgie: Wir führen als Primäreingriff in der Regel die klassische traditionelle «Nadelchirurgie», also ohne Interposition von Fremdmaterial (Gewebeersatz wie Polypropylennetze etc.), durch. Bei Belastungsinkontinenz dagegen hat sich die Einlage eines Bandes (Polypropylen-Mesh) als Goldstandard durchgesetzt. In der Rezidivsituation oder bei jungen, sexuell aktiven Patientinnen führen wir den Deszensuseingriff mit vaginaler Interposition eines Netzes oder als abdominale Sakrokolpopexie durch.
mie, Diaphragma- und Kolpoperineoplastik sowie sakrospinaler Fixation behandelt, wogegen eine isolierte Zystozele allein mittels Diaphragmaplastik korrigiert werden kann.
Netze als Gewebeersatz in der Diskussion Derzeit heftig diskutiert wird der Einsatz von allo- und xenogenen Biomaterialien oder alloplastischen resorbierbaren oder nicht resorbierbaren Netzen als Gewebeersatz in der Korrektur des Genitaldeszensus. Die Rationale dahinter liegt in der Vermeidung der postulierten hohen Rezidivrate nach klassischer Deszensuschirurgie und im Konzept, dass alloplastische, grossporige, monofilamentäre, nicht resorbierbare Polypropylennetze (Amid-Klasse I) einerseits defektes Gewebe analog der Hernienchirurgie überbrücken und andererseits die anatomischen Verhältnisse physiologisch und nachhaltig wiederherstellen. Demgegenüber sollten sich im Verlauf der Jahre Netzerosionen, Shrinking (narbiges Zu-
sammenziehen), Dyspareunie und Folgeoperationen als Schattenseite der Meshchirurgie erweisen, was in der Warnung der FDA an Ärzteschaft und Patientinnen kulminierte (10). Eine prospektiv randomisierte Doppelblindstudie hinterfragt den Nutzen der Netze. Beim Vergleich eines Meshkits (Prolift) mit traditioneller vaginaler Kolpopexie hinsichtlich objektiver Heilung musste die Studie nach 65 Patientinnen wegen vaginaler Netzerosionen in 16% der Meshgruppe bei einem Follow-up von 9,7 Monaten (2,4–26,7) abgebrochen werden. Rezidivrate (POP-Q > Grad I: Mesh 59%, klassisch 70%; p = 0,28), subjektive Heilung (93% und 100%) und Lebensqualität waren vergleichbar (21). Es stellt sich übrigens die Frage, inwieweit Patientinnen den durch Netze gewonnenen Benefit im Alltag überhaupt bemerken (22).
Operationstechniken Wir versorgen den Genitaldeszensus im Primärfall mittels Adaptation der kör-
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pereigenen Faszien- und Bandstrukturen (klassische Deszensuschirurgie) (Abbildung 3). Erst beim Rezidiv oder wenn körpereigene Strukturen zur Rekonstruktion zu schwach sind, setzen wir Netze ein. Die zentrale Zystozele wird klassisch mittels quergestellter Fasziennähte (Diaphragmaplastik) mit 78% Erfolg korrigiert (23). Beim Rezidiv kann die transvaginale Interposition eines Netzes diskutiert werden. Dieses wird über eine kleine mediane Kolpotomie spannungsfrei zwischen endopelviner Faszie und Vaginalwand eingelegt und an den sakrospinalen Ligamenten und den Foramina obturatoria fixiert (24). Ein neues System kommt ohne Verankerung aus, indem das Mesh nach transvaginaler Einlage mittels eines Pessars über 4 Wochen ans Gewebe angedrückt wird, bis es durch eingewachsenes Bindegewebe fixiert ist (25). Doch auch hier finden sich nach 2 Jahren in 9,1% Erosionen. Eine randomisierte, kontrollierte Vergleichsstudie zeigte in der Behandlung der Zystozele nach 12 Monaten zwar für Meshkits mit transobturatorischer Fixation (Prolift) eine im Vergleich zur klassischen Technik deutliche höhere anatomische Heilung (POP-Q max. Grad 1: 60,8% bzw. 34,5%), aber auch mehr intraoperative Komplikationen und eine Erosionsrate von 3,2 % (26). Analog zur Zystozele erfolgt die Korrektur der Rektozele mittels Faszienrekonstruktion mit mehreren quergestellten Nähten (Erfolg 71–86%). Bei Damminsuffizienz oder klaffendem Introitus erfolgt die Korrektur als Kolpoperineoplastik mit Dammrekonstruktion. Der Descensus uteri kann nach abgeschlossener Familienplanung mittels vaginaler Hysterektomie unter Fixation seines Halteapparates am Scheidenstumpf, die Ligg. sacrouterina und rotunda, und hohem Peritonealverschluss angegangen werden. Beim Prolaps führen wir zusätzlich die sakrospinale Fixation nach Richter zur Fixation des Scheidenendes durch. Bei Wunsch nach Uteruserhalt kann die abdominale oder laparoskopische Hysterosakropexie mit Netzinterponat diskutiert werden. Beim Vaginalstumpfdeszensus führen wir die sakrospinale Fixation nach Am-
reich-Richter einseitig (rechts) mit 92% Erfolg durch (23, 27). Der Scheidenstumpf wird ans Ligamentum sacrospinale mit zwei bis drei langsam resorbierenden Fäden fixiert. Durch die leichte Achsenabweichung der Scheide nach dorsal und lateral wird das vordere Kompartiment mehr belastet, wodurch sich eine leichte Zystozele ausbilden kann. Beim Enterozelen-Repair wird der peritoneale Bruchsack eröffnet, reseziert und die Enterozele durch hohe Peritonealisierung mittels Tabaksbeutelnaht verschlossen. Technisch und bezüglich Rekonvaleszenz deutlich aufwendiger, aber mit sehr guter Erfolgsrate bei geringer Rezidiv- (2%), Dyspareunie- (1%) und Netzerosionsrate (1%), ist die abdominale oder laparoskopische Sakrokolpopexie, weshalb sie als Goldstandard bezeichnet wird (23, 27–29). Hierbei wird der Scheidenstumpf spannungsfrei mithilfe eines Polypropylennetzes ans Os sacrum verbunden. Wir indizieren die abdominale oder laparoskopische (roboterassistierte) Sakrokolpopexie in der Rezidivsituation oder bei jungen, sexuell aktiven Frauen in der Primärsituation. Intraoperative Komplikationen bei der Deszensuschirurgie sind selten. Relevante Blutungen treten in etwa 1% auf. Die seltenen Darm- oder Blasenverletzungen müssen in gleicher Sitzung mittels Naht versorgt werden. Auf den Ureter und dessen Verlauf ist stets zu achten. Postoperative Hämatome werden meist konservativ angegangen. Das Infektrisiko liegt – auch nach vaginaler Netzeinlage – bei etwa 1% (30). Darmentleerungsstörungen nach Sakrokolpopexie hängen vor allem von der Tiefe der Präparation ab, treten in den ersten Monaten in 17% auf und gehen im Verlauf auf 1% hinunter (29). Auch nach hinterer Netzeinlage bei Rektozele sind in 1,2% Defäkationsprobleme beschrieben. Hier können Laxanzien verschrieben werden. Problematischer sind Defektheilungen oder Erosionen nach Netzeinlage in bis zu 11% (31). Hier ist die intensive lokale Östrogenisierung zur Förderung der Epithelialisierung essenziell, wobei letztlich die von Vaginalhaut unbedeckten erodierten Netzstellen, die mit stören-
dem Fluor vaginalis oder bei sexuell aktiven Patientinnen mittels Hispareunie (Dyspareunie des Partners) einhergehen können, in einem neuen Eingriff mit Vaginalhaut überdeckt oder abgetragen werden müssen. De-novo-Dyspareunien werden in 4% bis 13% angegeben: Wir beobachten erfreulicherweise Dyspareunien selten (31). Bei Persistenz ist die Spaltung des Netzes oder dessen Fixationsärmchen zu diskutieren. Rekto- oder vesikovaginale Fisteln sind sehr selten. Bei Operationsende legen wir einen transurethralen Dauerkatheter sowie eine Vaginaltamponade für 1 bis 2 Tage ein. Anschliessend wird der Restharn überwacht. Im seltenen Fall einer persistierenden Blasenentleerungsstörung diskutieren wir den Selbstkatheterismus oder die suprapubische Harnableitung. Postoperativ empfehlen wir ein Hebeverbot und eine Arbeitsunfähigkeit von 4 bis 6 Wochen je nach Tätigkeit.
Zusammenfassung ■ Die Prävalenz des Genitaldeszen-
sus ist mit 3% bis 30% häufig. Jede zehnte Frau wird deswegen oder wegen Harninkontinenz operiert. Ein störender Genitaldeszensus mit Fremdkörper- oder Senkungsgefühl, Miktions- oder Defäkationsstörungen, oder – bedingt durch mechanische Reizung der prolabierten Vaginalwand – mit Ulzerationen sollte unabhängig vom Schweregrad zunächst konservativ mit Physiotherapie und/oder Pessartherapie mit lokaler Östrogenisierung (Östriolcreme) angegangen werden. ■ Erst wenn die konservativen Massnahmen ausgeschöpft sind oder von der Patientin nicht akzeptiert oder toleriert werden, ein entsprechender Leidensdruck und zwischen Genitaldeszensus und den Beschwerden ein Zusammenhang besteht, soll die operative Sanierung indiziert werden. ■ In der Primärsituation bevorzugen wir das vaginale «klassische» Vorgehen ohne Einsatz alloplastischer Netze. Die Reoperationsrate nach klassischer Chirurgie ist relativ gering, die Komplikationsrate auch. Zudem
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sind wir aufgrund der Komplikationen
wie Netzerosion, Schmerzen und Dys-
pareunie nach transvaginaler Netzein-
lage – und nicht erst seit der FDA-
Warnung – mit der Netzeinlage
zurückhaltend und indizieren diese
nach eingehender Diskussion mit der
Patientin meist nur beim Rezidiv oder
bei schlechten Faszienverhältnissen.
■ Bei jungen, sexuell aktiven Patien-
tinnen oder in der Rezidivsituation,
insbesondere beim apikalen Defekt,
diskutieren wir die abdominale oder
laparoskopische (roboterassistierte)
Sakrokolpopexie.
■
Dr. med. David Scheiner (Korrespondenzadresse) Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich 8091 Zürich E-Mail: david.scheiner@usz.ch
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