Transkript
PRISMA
Frauen sind «anders krank» als Männer
Aktuelle Aspekte in der Gender Medicine
Frauen gehen häufiger zum Arzt, haben öfter Depressionen, öfter rheumatische Erkrankungen und vieles mehr, und sie reagieren auf viele Medikamente anders als Männer. Dass Frauen «anders krank» sind als Männer, wird in der Alltagspraxis noch immer zu wenig berücksichtigt.
CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Männer sind anders – Frauen auch. Der Bestsellertitel von John Gray könnte das Leitmotiv der GenderMedicine sein. Die geschlechtsspezifische Medizin fordert, dass Medizinforschung für beide Geschlechter getrennt erfolgt und die Auswirkungen auf Geschlechtsunterschiede präzise dokumentiert werden. Bei diesem Ansatz profitiert nicht nur das weibliche Geschlecht, sondern auch das männliche.
Oftmals ist der Herztod weiblich
«Eine Frau muss erst beweisen, so herzkrank zu sein wie ein Mann, um dieselbe Behandlung zu erhalten», stand es bereits 1991 im «New England Journal of Medicine» geschrieben. Nur langsam dringt in das Bewusstsein der Ärzte ein, wie wahr dieser Satz ist. Inzwischen erleiden Frauen häufiger einen Herztod als Männer. Am häufigsten trifft es sie im Alter zwischen 45 und 60 Jahren. Gemäss Statistik 2006 erreichte der Herztod bei Frauen 30%, bei Männern lediglich 26%. Hinzu kommen Kreislauftodesfälle – 20% bei Frauen, 12% bei Männern. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig. Im Allgemeinen treten Infarkte bei Männern in einem jüngeren Alter auf. Frauen zeigen oft andere Symptome als Männer. Als klassische Symptome gelten Atemnot, Brustschmerzen und Taubheitsgefühl im linken Arm. Frauen haben aber oft andere Beschwerden, nämlich Übelkeit, Druckgefühl im Oberbauch oder Schmerzen zwischen den Schulterblättern. «Ärzte rechnen zumeist nicht damit, dass eine Frau einen Herzinfarkt hat», erklärte Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek, die das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) in Berlin leitet. Diese Fehleinschätzung hat zur Folge, dass Frauen nach Beginn der ersten Symptome erst zweieinhalb Stunden später in ein Krankenhaus eingeliefert werden als Männer. Auch wenn die Risikofaktoren für eine koronare Herzerkrankung für beide Geschlechter die gleichen sind,
Frauen zeigen bei einem Herzinfarkt oft andere Symptome als Männer, zum Beispiel Übelkeit oder auch ein Druckgefühl im Oberbauch.
wiegen sie bei Frauen schwerer. Der weibliche Körper reagiert auf Rauchen, Hypercholesterinämie, Hypertonie, Adipositas oder Diabetes weitaus empfindlicher als der männliche. Während das Infarktrisiko bei Frauen durch Diabetes um das Fünffache steigt, erhöht es sich bei Männern «nur» um das Dreifache. Nach einem Infarkt überleben zudem weniger diabetische Patientinnen im Vergleich zu diabetischen Männern.
Biologische und soziale Faktoren
Gene, Hormone und ... Geschlechtsunterschiede zeigen sich auch bei zahlreichen anderen Erkrankungen. Ursachen sind zum einen Unterschiede bei biologischen, zum anderen Unterschiede bei sozialen Faktoren.
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Auf dem X-Chromosom liegen 1500 Gene, die wesentlich für Herz und Kreislauf, Hirnfunktion und Immunsystem sind. Dieses Chromosom besitzen Frauen bekannterweise doppelt. Auf dem Y-Chromosom befinden sich dagegen nur 78 Gene, die vor allem Aufgaben für die Sexualfunktion haben. Das gibt Frauen einen «biologischen Vorteil». Der zweite wichtige biologische Faktor für unterschiedliche physiologische und pathologische Reaktionen sind die Sexualhormone. Das Östrogen wirkt lange Zeit schützend auf das Herz. Es ist jedoch auch an der Blutstillung beteiligt und erhöht das Thromboserisiko. «Typisch weiblich» ist die Osteoporose nach den Wechseljahren. Oftmals wird jedoch von Ärzten verkannt, dass es eine Altersosteoporose gibt, die nach dem 70. Lebensjahr auftritt und von der auch Männer häufig betroffen sind. «Es fehlt eine wirklich gute Idee für hormonorientierte Behandlungen bei Männern mit Osteoporose», erklärt Regitz-Zagrosek. Zu den typischen Frauenleiden zählen ferner Autoimmunerkrankungen wie beispielsweise die Multiple Sklerose, die rheumatoide Arthritis oder die Hashimoto-Thyreoiditis. Verschiedene Forschungsergebnisse weisen daraufhin, dass bei Autoimmunerkrankungen Gene des zweiten X-Chromosoms nicht ausreichend supprimiert werden. Als Folge entstehen Genprodukte, die eine Autoimmunerkrankung auslösen können. Als typisch männlich gelten dagegen beispielsweise Lungenkrebs, Nierenerkrankungen, Schizophrenie, Alkoholismus oder eine chronische Hepatitis C.
... Belastungen und Erwartungen Auch soziale Faktoren spielen eine Rolle. Nach einer Erkrankung belasten sich Frauen früher wieder mit Hausarbeit und erholen sich dadurch langsamer. Bei Frauen besteht zudem ein enger Zusammenhang zwischen körperlichen Einschränkungen, Schmerzen und Depressivität, der möglicherweise vom sozialen Umfeld abhängig ist. Frauen haben ein doppelt so hohes Risiko, an Depression zu erkranken, und eine höhere Morbidität hinsichtlich Phobien oder Essstörungen.
In Studien immer noch unterrepräsentiert
Während in den USA bei Studien für Medikamente mittlerweile ein Frauenanteil von 40% vorgeschrieben ist, gibt es in der EU keine genauen Vorgaben. Seit 2004 schreibt ein Paragraf im deutschen Bundesarzneimittelgesetz vor, Studien geschlechtsspezifisch aufzubauen und auszuwerten. Trotzdem werden die meisten Tests für die Zulassung von Medikamenten überwiegend an jungen, männlichen Mäusen und später an Männern durchgeführt. Aktuelle Analysen zeigen aber, dass mit Anteilen
von 25 bis 35% in Phase-I-Studien respektive 35 bis 40% in Phase-II- und -III-Studien Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Die Gründe für den weiblichen Ausschluss sind vielfältig. So fürchtet man beispielsweise, dass eine Frau während der Studie schwanger werden könnte und das Risiko für das Ungeborene nur sehr schwer abschätzbar ist. Problematisch sind auch Wechselwirkungen mit oralen Kontrazeptiva.
Pharmakokinetik und -dynamik
Dabei hat die Frage nach möglichen geschlechtsspezifischen Unterschieden in Pharmakokinetik, Pharmakodynamik, Wirksamkeit und Verträglichkeit seit Beginn der Neunzigerjahre zunehmend das wissenschaftliche Interesse geweckt. Da Frauen durchschnittlich etwa 10 kg leichter sind als Männer, kann man davon ausgehen, dass sich die Plasmaspiegel von Arzneistoffen unterscheiden. Während weibliche Organismen einen deutlich höheren Fettanteil als männliche haben, besitzt der männliche Körper mehr Muskelgewebe und mehr Wasser. Dieser Unter-
Geschlechtsspezifische Enzymausstattung
Bei einer für den Abbau von Arzneistoffen sehr wichtigen Enzymfamilie, den Zytochrom-P450-Enzymen, zeigen sich deutliche Unterschiede bei Mann und Frau. Frauen verfügen über drei- bis viermal mehr PYP3A4 als Männer. Verschiedene Medikamente wie die Kalziumantagonisten Verapamil und Nifedipin oder das Glukokortikoid Methylprednisolon werden deshalb rascher abgebaut. Dagegen haben Männer mehr CYP2D6. Dies wirkt sich besonders auf den Blutspiegel von Betablockern aus. Bei gleicher Dosierung erreichen Frauen einen um 50% höheren Blutspiegel an Metoprolol als Männer. Dementsprechend sind blutdruck- und herzfrequenzsenkende Effekte bei Frauen deutlich ausgeprägter. Auch der Lipidsenker Simvastatin wirkt bei Frauen stärker und länger. Das Enzym CYP1A2, das unter anderem Theophyllin und Koffein verstoffwechselt, ist ebenfalls bei Frauen geringer aktiv. Dies führt zu höheren Plasmakonzentrationen des Antidepressivums Sertralin.
schied hat Auswirkungen auf die Pharmakokinetik: Lipophile Arzneistoffe verweilen bei Frauen länger im Fettgewebe als bei Männern. Wirkungen und Nebenwirkungen halten länger an. Bei hydrophilen Arzneistoffen ist dies genau umgekehrt. Auch bei Enzymen, die Medikamente abbauen, gibt es Unterschiede (Kasten).
Medikamentenwirkungen
Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden für viele Substanzen nachgewiesen. Acetylsalicylsäure (ASS) dient bekanntermassen der Prophylaxe von Herzinfarkt und Schlaganfall. Inzwischen wurde nachgewiesen, dass ASS unterschiedlich wirkt. Bei Frauen vermindert das Medikament zwar die Schlaganfallrate, jedoch nicht die Häufigkeit eines Herzinfarktes. Bei Männern sinkt zwar das Risiko für einen Herzinfarkt, jedoch steigt die Gefahr für einen Schlaganfall.
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Tabelle:
Medikamente, die eine Torsade de pointes auslösen können
Gruppe
Substanzen (Beispiele)
Antiarrhythmika
Chinidin, Procainamid, Disopyramid, Propafenon,
Sotalol, Ibutilid, Dofetilid
Kalziumantagonisten Isradipin, Bepridil
Neuroleptika
Thioridazin, Chlorpromazin, Haloperidol, Pimozid
Antidepressiva
Amitriptylin, Desipramin, Imipramin, Doxepin, Fluoxetin,
Paroxetin, Venlafaxin, Sertralin, Citalopram, Lithium
Dopaminerge und Domperidon, Dolasetron, Zolmitriptan, Sumatriptan,
serotoninerge
Naratriptan, Cisaprid
Wirkstoffe
Andere zentral
Budipin, Droperidol, Chloralhydrat, Felbamat,
wirksame Arzneimittel Fosphenytoin, Levomethadon
Antihistaminika
Terfenadin, evtl. auch Azelastin, Loratadin und Cetirizin,
Astemizol
Antiinfektiva
Makrolide: Azithromycin, Clarithromycin, Erythromycin,
Roxithromycin, Spiramycin
Gyrasehemmer: Sparfloxacin, Grepafloxacin, Moxiflo-
xacin, Gatifloxacin, Levofloxacin
Andere Antibiotika: Pentamidin, Clindamycin
Antimykotika: Fluconazol
Antimalariamittel: Halofantrin, Chinin, Chloroquin
Andere Arzneimittel Immunreaktionshemmer: Tacrolimus
Zytostatika: Arsentrioxid, Tamoxifen
Grosse geschlechtsspezifische Unterschiede wurden auch beim Opiatbedarf gefunden. So muss die Konzentration am Opiatrezeptor bei Männern um 40% höher sein als bei Frauen, um eine ausreichende Schmerzlinderung zu erreichen. Während Opiate bei Frauen also stärker wirken und niedriger dosiert werden müssen, sind andere, «mildere» Anästhetika weniger stark wirksam. Geschlechtsspezifische Dosierungen sind ferner bei Glukokortikoiden, Antiemetika und Benzodiazepinen beobachtet worden. Unerwünschte Nebenwirkungen können je nach Geschlecht mehr oder weniger stark auftreten und im Einzelfall sehr gefährlich werden. Dies ist bei Anti-
Praxistipps
■ Bei Nebenwirkungen unbedingt auf das Körpergewicht achten. Besonders bei Frauen, die nicht mehr als 50 kg wiegen, ist das Risiko für Nebenwirkungen erhöht.
■ Medikamente, die eine Torsade de pointes auslösen können, sollten Frauen möglichst nicht verschrieben werden.
■ Frauen nehmen häufig frei verkäufliche Präparate ein. Beachte: Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten müssen ausgeschlossen werden. Dies gilt besonders auch bei der Anwendung von Kontrazeptiva.
arrhythmika der Fall. So kommt es bei Frauen deutlich häufiger als bei Männern zu einer lebensgefährlichen ventrikulären Tachykardie mit passagerem Kammerflimmern, der Torsade de pointes. Auch andere Medikamente können diese Rhythmusstörung auslösen (vgl. Tabelle).
Frauen sind zirka 10 kg leichter als Männer, daher werden sich die Plasmaspiegel von Medikamenten unterscheiden.
Bei nahezu allen Thrombozytenaggregationshemmern und Antikoagulanzien wurde ein erhöhtes Blutungsrisiko für Frauen festgestellt. Die Einnahme von ACE-Hemmern senkte nur bei Männern die Sterblichkeit, nicht aber bei Frauen. Nebenwirkungen von ACE-Hemmern wie Reizhusten oder Hautausschlag traten bei Frauen deutlich häufiger auf als bei Männern.
Gender-Medicine
gehört in jede Praxis
Noch stehe die Erforschung geschlechtsspezifischer
Unterschiede bei Krankheiten und Medikamenten
am Anfang, betont Regitz-Zagrosek. «Der Gender-
aspekt muss bei der Arzneimittelforschung und -zu-
lassung gestärkt werden», betonte Regitz-Zagrosek.
Doch sie ist optimistisch und geht davon aus, dass es
in Zukunft auf fast allen Beipackzetteln für Medika-
mente getrennte Rubriken für Männer und Frauen
geben wird. Das Wissen um geschlechtsspezifische
Unterschiede wird zum geläufigen Repertoire eines
jeden praktizierenden Arztes werden.
■
Dr. med. Claudia Borchard-Tuch Forsthofweg 9 D-86441 Zusmarshausen E-Mail: claudia.borchard-tuch@a-city.de
Interessenkonflikte: keine deklariert
Erstpublikation in: Der Allgemeinarzt 2011; 9: 12–14 Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags Kirchheim, Mainz.
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