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SCHWERPUNKT /INTERVIEW
Beratung bei erhöhtem Brust- und Eierstockkrebsrisiko
«Risikoreduktionsmassnahmen sind effektiv»
PD Dr. med. Gabriella Pichert, Spezialärztin für Onkologie und Hämatologie, ist in der Risikoeinschätzung, Beratung und Betreuung von Familien tätig, bei denen Hinweise auf eine vererbte Tumorprädisposition vorliegen. Vergleichbar häufig ist die familiäre Belastung für Brust- und Eierstockkrebs. Die Onkologin mit Praxis in der Klinik Engeried, Bern, erklärt gegenwärtige Strategien bei der Risikoeinschätzung und Beratung, damit für Früherkennung und Risikoreduktion frühzeitig Weichen gestellt werden können.
GYNÄKOLOGIE: Frau Dr. Pichert, welche Frauen und Männer lassen sich von Ihnen überwiegend beraten? PD Dr. med. Gabriella Pichert: Die meisten Ratsuchenden, die meine Praxis aufsuchen, werden durch ihren Onkologen, Gynäkologen, manchmal auch ihren Hausarzt auf die Möglichkeit einer genetischen Beratung aufmerksam gemacht – oder sie haben ihren Arzt um eine Überweisung gebeten. Es gibt aber auch gesunde Frauen und Männer aus Familien mit Krebserkrankungen, die sich selbst zu einer Beratung anmelden.
Was ist unter einem «erhöhten Risiko» für Brust- und Eierstockkrebs zu verstehen? Pichert: Etwa 5% dieser Tumoren sind auf ein verändertes, vererbbares Gen zurückzuführen, das das Risiko für Brust- und/oder Eierstockkrebs erhöht. Wei-
“ 20 bis 25% der Brust- und Ovarialtumoren werden durch ein Zusammenspiel verschiedener Gene und
Lebensstilfaktoren verursacht, die das Krebsrisiko leicht bis mittelgradig
”erhöhen.
tere 20 bis 25% der Tumoren werden durch ein Zusammenspiel verschiedener Gene und Lebensstilfaktoren verursacht, die das Krebsrisiko leicht bis mittelgradig über das Bevölkerungsrisiko erhöhen.
Im Fall der jungen, gesunden Frau, bei der die Gynäkologin/der Gynäkologe aufgrund der Familienanamnese vermutet, dass ein erhöhtes Brustkrebs- und eventuell auch Eierstockkrebsrisiko besteht: Wie gehen Sie jeweils als Erstes vor? Pichert: Bei diesen Frauen wird, wie bei allen anderen Ratsuchenden auch, zuerst eine persönliche und
dann die familiäre Anamnese bezüglich Tumorerkrankungen über drei Generationen auf väterlicher und mütterlicher Seite erhoben. Falls von der persönlichen oder der familiären Anamnese her der Verdacht auf ein stark erhöhtes Krebsrisiko besteht, wird die Möglichkeit einer Bluttestung auf die für Brust- und/oder Eierstockkrebs prädisponierenden Gene besprochen. Ferner wird besprochen, dass eine Risikoeinschätzung – basierend auf der persönlichen und der Familiengeschichte bezüg-
Es wird ferner besprochen, dass eine Risikoeinschätzung auch ohne
“genetische Testung möglich ist. ”lich Krebserkrankungen – auch ohne genetische Tes-
tung möglich ist. In jedem Fall wird die Besprechung der Massnahmen zur Überwachung und Risikoreduktion angeboten, welche der speziellen Situation angepasst sind.
Welche Risikogruppen ersehen Sie aus der Familienund Patientinnenanamnese, und was folgt für die Betreuungssituation? Pichert: Ein leicht erhöhtes Brustkrebsrisiko verglichen mit dem Bevölkerungsrisiko besteht beispielsweise bei einer gesunden Frau mit einer erst- oder zweitgradigen Verwandten, die im Alter über 40 Jahren an Brustkrebs erkrankt ist. Gesunde Frauen mit diesem Profil können von ihrem Hausarzt oder Gynäkologen beraten und betreut werden. Ein mässig erhöhtes Brustkrebsrisiko besteht beispielsweise bei einer gesunden Frau, bei der zwei erst- und/oder zweitgradige Verwandte die Brustkrebsdiagnose im Lebensalter über 50 (als Durchschnittsalter) erhielten. Die Frauen können ebenfalls von ihrem Gynäkologen beraten und betreut werden. Ein stark erhöhtes Brust- und/oder Eierstockkrebsrisiko besteht beispielsweise bei einer gesunden Frau,
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welche drei erst- oder zweitgradige Verwandte hat, die im Durchschnitt vor dem 60. Lebensjahr an Brustkrebs erkrankt sind. Gleichermassen betroffen sind diejenigen gesunden Frauen mit zwei erst/zweitgradigen Verwandten mit epithelialem Eierstockkrebs. Diesen Frauen sollte eine genetische Beratung angeboten werden. In diesen Familienkonstellationen können aber auch Männer ein stark erhöhtes Brustkrebsrisiko haben.
Welche Konsequenzen für Prävention und Früherkennung ergeben sich für gesunde Frauen, bei denen laut der Analyse ein leicht und ein mittelgradig erhöhtes Risiko besteht? Wie können diese Frauen jeweils zur eigenen Gesunderhaltung beitragen? Pichert: Gesunde Frauen mit leicht erhöhtem Brustkrebsrisiko sollten ihre Brust aufmerksam beobachten und jede neue Veränderung ohne Verzug abklären lassen. Wichtig ist ferner, ab dem Alter von 50 Jahren regelmässig zur Mammografie zu gehen. Gesunde Frauen mit mässig erhöhtem Brustkrebsrisiko sollten zusätzlich jährliche Mammografien im Alter zwischen 40 und 50 Jahren angeboten bekommen. Dieses Vorgehen empfiehlt beispielsweise das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) in England; in der Schweiz gibt es noch keine solchen Richtlinien. Bevor eine Entscheidung für oder gegen eine mammografische Überwachung getroffen wird, sollten die betroffenen Frauen darüber informiert werden, dass die Sensitivität der Mammografie durch die höhere Brustdichte bei jungen Frauen möglicherweise verringert ist. Ferner ist auf Vor- und Nachteile, das heisst auf mögliches Strahlenrisiko, falschpositive und falschnegative Befunde sowie eventuell damit verbundenen Stress hinzuweisen. Die Mammografie sollte digital sein und, falls möglich, auditiert und an einem Zentrum durchgeführt werden, welches Erfahrung mit mammografischem Screening hat. Weiterhin ist es wichtig, den Frauen zu erklären, dass sie möglichst nicht rauchen, möglichst wenig Alkohol trinken, sich regelmässig bewegen und täglich fünf Portionen Früchte und Gemüse essen sollten. Dann sollten sie vor allem
nach der Menopause Übergewicht vermeiden.
Welche Schritte sind bei Frauen angezeigt, bei denen sich der Verdacht auf hohes Brust- und Ovarialkrebsrisiko verdichtet? Pichert: International besteht Konsensus, dass bei Verdacht auf ein stark erhöhtes Brust- und/oder Eierstockkrebsri-
“International besteht
Konsens, dass bei Verdacht auf ein stark erhöhtes Brust-
und/oder Eierstockkrebsrisiko eine genetische Beratung ange-
”boten werden sollte.
siko eine genetische Beratung angeboten werden sollte. Diese Beratung hat das Ziel, die/den Ratsuchenden umfassend und verständlich über das individuelle und familiäre Krebsrisiko zu informieren und ebenso über die Optionen, dieses Risiko zu managen. Dabei muss es der Frau (oder auch dem Mann!) möglich werden, das Vorgehen zu finden, das der individuellen Situation am besten angepasst ist. Wenn es von der persönlichen oder familiären Geschichte her sinnvoll ist, wird die Bluttestung auf zu Brustkrebs prädisponierende Genveränderungen besprochen. In diesem Zusammenhang wird
“Krebsprädisponierende
Genveränderungen bringen zwar ein höheres, individuell aber nicht genau bestimmbares
”Krebsrisiko mit sich.
erklärt, dass krebsprädisponierende Genveränderungen zwar ein höheres, individuell aber nicht genau bestimmbares Risiko an Krebs zu erkranken, mit sich bringen. Weiterhin wird diskutiert, dass ein genetischer Test das Vorhandensein eines veränderten Gens zeigen kann, aber nichts darüber aussagen kann, wann und welche Art von Krebs daraus entstehen könnte. Dann wird erklärt, dass der Gentest nicht alle Veränderungen feststellen kann, die in Genen auftreten können. Bei negati-
vem Gentest besteht deshalb die Möglichkeit, dass Veränderungen in anderen, bis anhin unbekannten Genen verantwortlich für die vererbte Krebsprädisposition in der Familie sind. Schliesslich wird besprochen, dass das Testresultat die Krebsrisikoeinschätzung auch für Familienangehörige verändern kann, die keinen Test verlangt haben, dass also das Testresultat Auswirkungen für Familienmitglieder haben kann. In einem weiteren Schritt erfahren die Ratsuchenden, dass eine individuelle Krebsrisikoeinschätzung und Inanspruchnahme der angepassten Überwachungs- und Risikoreduktionsmassnahmen auch ohne genetischen Test möglich ist. Die Frauen (bzw. Männer) erhalten nach der Beratung eine schriftliche Zusammenfassung aller Punkte, die besprochen wurden.
Welche Präventions- und Früherkennungsmöglichkeiten stehen nach dem neuesten Forschungsstand für die Hochrisikogruppe zur Verfügung, und wie beurteilen Sie diese für die Praxis? Pichert: Die zurzeit verfügbaren Überwachungsmassnahmen für Frauen mit stark erhöhtem Brustkrebsrisiko sind die Mammografie und die MRI der Brust. Verschiedene prospektive Kohortenstudien haben die Sensitivität und Spezifität der MRI der Brust versus Mammografie und versus Brustsonografie bei Frauen mit stark erhöhtem Brustkrebsrisiko verglichen. NICE hat die publizierten Studien in Bezug auf den Nutzen der BrustMRI bei vererbtem Risiko für Brustkrebs überprüft, ferner eine Kosten-NutzenAnalyse durchgeführt und im Oktober 2006 folgende Empfehlungen ausgesprochen: Im Alter zwischen 30 und 50 Jahren sollten folgende Gruppen jährlich eine digitale Mammografie (falls von der Brustgewebedichte her durchführbar) und Brust-MRI angeboten bekommen: ■ 30- bis 39-Jährige mit einem 10-Jah-
res-Brustkrebsrisiko von über 8% ■ 40- bis 49-Jährige mit einem 10-Jah-
res-Brustkrebsrisiko von > 20% sowie ■ TrägerInnen von BRCA1/2- oder p53-
Mutationen sowie deren erstgradige Verwandte. Die European Society of Breast Cancer Specialists (EUSOMA) empfiehlt 2010 in
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einem Positionspapier, dass Frauen mit hohem Brustkrebsrisiko, die sich nach einer Diskussion über Vor- und Nachteile von Mammografie, Brust-MRI und Risikoreduktionsmassnahmen für eine Brustüberwachung entscheiden, jährliche
“ Die verfügbaren Über-
wachungsmassnahmen für Frauen mit stark erhöhtem Brustkrebsrisiko sind die Mammografie und die MRI der Brust.
”MRI, beginnend ab dem 30. Lebensjahr,
angeboten bekommen sollten. Mammografien sollten diesen Frauen erst ab 35 Jahren angeboten werden, und zwar wegen fehlender Evidenz, dass vor dem 35. Lebensjahr die Vorteile die Risiken dieser Massnahme überwiegen. Die Brustüberwachung sollte nur an einem national oder regional akkreditierten und auditierten Zentrum angeboten werden.
Gibt es eine Früherkennung für Ovarialkarzinome? Pichert: Leider gibt es hierzu zurzeit keine Überwachungsmassnahme, deren Wirksamkeit erwiesen ist. Die UK Familial Ovarian Cancer Screening Study und die amerikanische Studie Screening for Ovarian Cancer in Participants With a Genetic Risk for Developing Ovarian Cancer untersuchen den Nutzen eines transvaginalen Ultraschalls und/oder regelmässiger Messungen von CA125 im Blut. Die britische Studie wird ihre Resultate nächstes Jahr kommunizieren.
Wie beurteilen Sie die prophylaktische Mastektomie und Entfernung der Ovarien? Pichert: Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die risikoreduzierende bilaterale Mastektomie das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um mehr als 90%
senken kann. Dies ist jedoch eine grosse Operation mit einem erheblichen Risiko für chirurgische Komplikationen. Deshalb sollten Frauen, die eine prophylaktische Mastektomie in Betracht ziehen, eine genetische und präoperative psychologische Beratung erhalten. Ferner muss die Möglichkeit bestehen, mit dem chirurgischen Team, das einen onkoplastischen Chirurgen einschliesst, die Operation inklusive der verschiedenen rekonstruktiven Optionen zu besprechen. Die prophylaktische Salpingoophorektomie ist zurzeit die effektivste Massnahme, um nicht nur das Ovarialkrebsrisiko um bis zu 95%, sondern bei prämenopausalen Frauen BRCA1/2-Mutationen auch das Brustkrebsrisiko um bis zu 50% zu senken. Neueste Daten einer grossen Multizenterstudie zeigen, dass eine prophylaktische Salpingoophorektomie nicht nur die brust- und eierstockkrebsspezifische Mortalität, sondern auch die Gesamtmortalität bei Frauen mit einer BRCA1/2-Mutation senkt. Allerdings ist es wichtig, dass diese risikoreduzierende Operation gemäss den neuesten Erkenntnissen ausgeführt wird, dass also die Eileiter
“Die prophylaktische Salpingoophorektomie ist
zurzeit die effektivste Mass-
nahme, um bei BRCA1/2-Muta-
tionsträgerinnen das Ovarial-
krebsrisiko und bei prä-
menopausalen Frauen auch das
Brustkrebsrisiko zu senken
”(bis zu 95 bzw. 50%).
ebenfalls entfernt und die entfernten Organe mittels serieller Zweimillimeterschnitte untersucht werden, da bei Frauen mit BRCA1/2-Mutationen 2,5% der okkulten Ovarialkarzinome in den Tuben auftreten können.
Die Effektivität der Chemoprävention schliesslich wird gegenwärtig in Europa in klinischen Studien untersucht, zum Beispiel in der IBIS-II-Studie, die den Nutzen des Aromatasehemmers Anastrazol zur Brustkrebsprävention bei postmenopausalen Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko eruiert.
Welche Botschaften aus der neueren Tumorpräventionsforschung möchten Sie den Gynäkologinnen und Gynäkologen in den Praxen, welche täglich in der Krebsvorsorge bei Frauen tätig sind, im Besonderen noch mitgeben? Pichert: Wie erwähnt gibt es neue Studien mit grossen Patientenzahlen, die zeigen, dass risikoreduzierende Massnahmen wie die beidseitige Mastektomie und die bilaterale Salpingoophorektomie das Gesamt- und krebsspezifische Überleben bei Frauen mit BRCA1/2-Mutationen verlängern können. Studien hierzu sind dieses Jahr publiziert worden (s.u.). Deshalb sollte bei jeder Patientin neben der persönlichen auch die Familiengeschichte bezüglich Krebserkrankungen erhoben werden. Frauen mit Verdacht auf eine familiäre Prädisposition für Brust- und/oder Eierstockkrebs sollte eine genetische Beratung angeboten werden.
Frau Dr. Pichert, herzlichen Dank für das Interview!
Das Interview führte Bärbel Hirrle.
Literaturhinweise zu neuen Publikationen: Evans G, Baildam A, Brain A, et al.: Risk reducing mastectomy: outcomes in 10 European Centres. J Med Genet. 2009; 46(4): 254–8. Kurian A, Sigal B, Plevritis S: Survival Analysis of Cancer Risk Reduction Strategies for BRCA1/2 Mutation Carriers. J Clin Oncol. 2010; 28: 222–31. Domchek SM, Friebel TM, Singer CF, Evans DG, Lynch HT, Isaacs C, Garber JE, Neuhausen SL, Matloff E, Eeles R, Pichert G, et al.: Association of Risk-Reducing Surgery in BRCA1 or BRCA2 Mutation Carriers With Cancer Risk and Mortality. JAMA 2010; 304(9): 967–75.
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