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Wirkung von medial aufbereiteter Sexualität
Antworten auf Fragen von Jugendlichen
Gespräche über Sexualität zu führen, insbesondere über die in der Vergangenheit tabuisierten Themen, stellt hohe Anforderungen an die beratende Person. Wie können wir reflektierte Fragestellungen entwickeln, eine wertneutrale Kommunikation aufbauen, in einer empathischen Art und Weise mit den Jugendlichen sprechen und dabei die eigenen Grenzen beachten?
MARINA COSTA, LUKAS GEISER
Sexualitätsbezogene Fragen von Jugendlichen bilden sich aufgrund sehr unterschiedlicher Einflüsse. In sozialen Systemen wie Familie, Gruppen Gleichaltriger (Peergroup), Schule sowie in den neuen Medien werden Jugendliche angeregt, über Sexualität nachzudenken. Das eigene sexuelle Erleben vermischt sich mit den Einflüssen innerhalb der sozialen Systeme und generiert sowohl Informationen, Irritationen als auch Unsicherheiten, welche zu ausgesprochenen oder unausgesprochenen sowie verschlüsselten Fragen führen. Dabei ist zu überlegen, wie wir als erwachsene Berater das Vertrauen der Jugendlichen gewinnen können, sodass sie insbesondere zu den nicht ausgesprochenen Themen Fragen stellen und verschlüsselte Fragen klarer formulieren können.
Beratungszugänge
Damit Jugendliche ihre Anliegen und Fragen einbringen können, muss ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Durch Kollateralfragen können wir erreichen, dass die Jugendlichen sich nicht allzu sehr überfahren fühlen: Nicht die direkten Fragen zu ihrem Sexualverhalten, sondern das Interesse an ihrer Lebenswelt sowie an ihrem allgemeinen Wohlbefinden oder auch Fragen zu Vertrauenspersonen geben den Jugendlichen Sicherheit. Sie fühlen sich mit dieser sehr persönlichen Begegnung als Personen ernst genommen. In sexualpädagogischen Settings erleben wir immer wieder, dass Jugendliche uns erst kennenlernen möchten bevor sie Fragen stellen. Manchmal dauert es eine ganze Weile bis sie spontane Fragen einbringen. Wenn Jugendliche merken, dass ihre Anliegen wertneutral und mit Respekt entgegengenommen werden, entstehen oft spannende Gespräche. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies: 3 Jungen sind bei einer Vorsorgeuntersuchung bei mir in der Praxis. Nach den von mir gestellten Kollateralfragen entsteht folgendes Gespräch: «Stimmt es, dass Mädchen auch abspritzen können?»
«Spannend, ich höre immer wieder, dass Jungs so etwas gesehen haben und es erzählen.» «... Kicher, kicher ...» «Woher weisst du das?» «Ein Kollege hat es mir erklärt. Aber das gibt es doch gar nicht, oder?» «Doch, aber vielleicht nicht so, wie es erzählt oder es in Pornos gezeigt wird.» «... Kicher, kicher, ja, in Pornos hab ich es gesehen.» «Ok! Kommt, wir schauen das Phänomen einmal miteinander an.» Meine wertneutrale Reaktion führte dazu, dass die Jungen selbstverständlicher als zuvor über ihren Konsum von sexualisierten und auch pornografischen Inhalten sprechen durften. Heikle Fragen und tabuisierte Themen werden dadurch weniger brisant.
Medial aufbereitete Sexualität? Was bewirken Medien?
An diesem Beispiel wird sichtbar, dass die neuen Medien beim Thema Sexualität eine immer grössere Rolle spielen. Durch die medial aufbereitete Sexualität öffnet sich für Kinder und Jugendliche ein unendlich vielfältiges Spektrum an Möglichkeiten. Laut der JIM-Studie (1) aus Deutschland verfügen Haushalte, in denen Jugendliche leben, über eine sehr hohe Medienausstattung. Vollversorgung besteht bei Mobiltelefonen, Computern (bzw. Laptops) und Fernsehgeräten. 96% aller Haushalte haben einen Internetzugang, ähnlich hoch ist die Ausstattungsrate bei CD- und MP3-Playern sowie Digitalkameras (92%). In den letzten Jahren entstand ein Konvergenzphänomen (2), das heisst, Musik kann auch über das Mobiltelefon gehört und eine TV-Sendung kann am PC angeschaut werden. Der PC wird zum Fernseher und das Mobiltelefon unter anderem auch zum Lexikon, welches einen immer begleitet. Sexuelles beispielsweise wird dadurch an verschiedenen Orten in unter-
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schiedlicher Form sichtbar. Zudem eröffnen sich Wissenszugänge, die in dieser Form neuartig sind. Ein Diskurs über Lösungsansätze in der Beratung und in der Sprechstunde verlangt eine differenzierte Klärung der Dimensionen sowie eine Auseinandersetzung mit Themenfeldern im Kontext der medial aufbereiteten Sexualität. Zu den verschiedenen Dimensionen der Nutzung neuer Medien gehören (3): ■ zufälliges Treffen auf unerwünschte In-
halte ■ Abruf und Betrachtung von Erotika
und Pornografie ■ sexueller Selbstausdruck durch die ei-
gene Publikation von entsprechendem Material ■ Nutzung von Kontaktbörsen ■ Meinungs- und Erfahrungsaustausch ■ Rezeption von Aufklärungs- und Informationsseiten ■ Inanspruchnahme professioneller (Online-)Beratung zu sexuellen Fragen. Durch die Auseinandersetzung mit diesen Dimensionen wird sichtbar, dass ein komplexes Konstrukt zum Vorschein kommt: Einerseits erhalten Jugendliche wertvolle Informationen über Sexualität (Verhütung, Sexualpraktiken, HIV, Schwangerschaft usw.), andererseits werden sie mit Realitäten konfrontiert, die zu Unsicherheiten, Fehlinterpretationen und risikoreichem Verhalten führen können.
Wirkung von sexualitätsbezogenen Inhalten Eine abschliessende Beurteilung der Wirkung von sexualitätsbezogenen Inhalten ist nicht möglich. Jeder Mensch hat eine bestimmte Vorstellung, wie Sexualität ausgestaltet sein soll, und hat auch eine gewisse Sehnsucht nach diesem Ideal. Zu diesem sehr persönlichen Zugang kommt eine moralische Einstellung, die in jedem Fall auch politisch und religiös beziehungsweise kulturell geprägt ist (4). Es gibt jedoch einen allgemeingültigen Konsens, welche Inhalte als problematisch gelten und strafrechtlich relevant sind. Zu diesen gehören insbesondere das Veröffentlichen, Herstellen und Betrachten von Inhalten zu Pädophilie, Zoophilie, Nekrophilie sowie Darstellungen, in denen sexuelle Gewalt und Sex mit Fäkalien gezeigt werden. Wie und von wel-
Gespräche über gesehene Medieninhalte zu Sexualität mit Kontaktpersonen
Abbildung: Mit wem haben die Befragten über Inhalte der Kategorie «Soft» gesprochen?
chen Faktoren sich die Wirkung von sexualitätsbezogenen Inhalten auf das Individuum auswirkt, beschreibt Daniel Süss im Bericht der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen: «Ob sich der Konsum von sexuellen Medieninhalten in der einen oder anderen Weise auf ein Individuum auswirkt, hängt stark von dessen sozialer Verankerung in den Vorbildern im privaten Umfeld ab» (5). Entscheidend ist folglich, ob Jugendliche das Gesehene reflektieren und falsche Informationen zu korrigieren vermögen. Eine deutsche Studie der Organisation Pro Familia (6) aus dem Jahr 2006 zeigt auf, dass rund die Hälfte der befragten Jugendlichen über das, was sie gesehen haben, mit Freunden sprechen. Die Zahl derjenigen, die über gesehene Inhalte weder mit jemandem sprechen wollten, dies nicht fertig gebracht haben oder keine Gesprächspartner gefunden haben, ist, wie die Abbildung aus der Studie zeigt, dagegen vergleichsweise gering. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Jugendliche sich untereinander sehr wohl austauschen. Der Austausch mit Menschen, die problematische Vorstellungen von Sexualität korrigieren und ihnen konstruktive Zugänge schaffen können, ist jedoch zu gering.
Fragen von Jugendlichen – Antworten von Beratenden
Die aus sexuellen Inhalten resultierenden Fragen sind für uns Erwachsene oft irritierend und schwer einzuordnen. Bringen wir diese Fragen in den medial be-
einflussten Kontext, können Antworten besser herauskristallisiert werden. Zudem beeinflusst die eigene, persönliche Haltung gegenüber den fremden, oft schlecht nachvollziehbaren Vorstellungen von Sexualität, die sich in den Fragen der Jugendlichen widerspiegeln, unsere Antwort. Deshalb erscheinen uns die folgenden Punkte für eine gelungene Beratung in der Sprechstunde bedeutsam:
■ Analyse der Fragestellung von Jugendlichen
Hinter sexualitätsbezogenen Fragestellungen verbergen sich oftmals unterschiedliche Anliegen. Es kann hilfreich sein herauszufinden, welche Herkunft eine Fragestellung hat. Nicht jedes Anliegen ist direkt medial, sonder oft indirekt beeinflusst, wie folgendes Beispiel zeigt: In der Sprechstunde fragte eine Jugendliche, wie sie ihre Schamhaare am besten rasieren solle. Das machten doch alle, sagte sie. Beim Nachfragen stellte sich heraus, dass ihr Freund sie motivierte. Er sagte ihr, dass alle jungen Frauen in «Bravo» und auch in Pornos ganz rasiert seien. Er möchte dies auch. Dieses Beispiel zeigt, dass Medien Bilder vermitteln, die für Jugendliche allgemeingültige Normen darstellen. Diese Normgebung wirkt auch in Themen zu Geschlechterrollen, sexueller Orientierung und Praktiken. In der beschriebenen Situation kommt nicht zum Ausdruck, was das Mädchen möchte. Auch die Berater können in die Falle tappen, die
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eigene Meinung als allgemeingültige Norm zu deklarieren oder dies zum Ausdruck zu geben (z.B.: Mädchen müssen sich nicht rasieren, wenn dies der Freund wünscht). Vielmehr geht es darum, zu analysieren, aus welchem Motiv das Mädchen etwas tun möchte. Dabei könnte die Perspektive auch sein, dass das Mädchen ihre Haare rasiert, weil sie merkt, dass der Freund es schön findet und sie selbst dadurch Lust, Bestätigung und Freude erfährt. Eine Anschlussfrage könnte beispielsweise sein: «Bevor ich dir ein paar Tipps geben möchte: Hast du Lust und würde es dir Lust bereiten, deine Haare zu rasieren, oder findest du das eklig oder zu intim?» Durch diese Art der Fragestellung kann versucht werden, die kodierte Form der Frage zu entschlüsseln. Dies ist jedoch nicht immer so einfach, da die beratende Person auch eigene Werte mitbringt.
■ Einordnen der Fragestellung in das eigene Wertesystem
Wie erwähnt können sexualitätsbezogene Fragen von Jugendlichen uns Erwachsene irritieren. Die eigene Wertvorstellung erlaubt es uns nicht, das Erzählte wertfrei zu interpretieren. Es entsteht eine Spannung zwischen den eigenen Wertmassstäben und den Geschichten, die uns Jugendliche auftischen. Das Reflektieren über diese Spannung ist für Beratende von zentraler Bedeutung. Welche Gefühle lösen diese Fragen bei mir aus? Ist die Frage oder Geschichte mit meiner eigenen Geschichte verbunden? Solche Fragen helfen, die eigene Wertvorstellung mit derjenigen des oder der Jugendlichen auseinanderzuhalten. Es können Antworten entwickelt werden, die nicht das eigene Wertesystem über ein anderes stellen. Dazu kommt, dass Fragestellungen der Jugendlichen, in denen sich auch Behauptungen widerspiegeln, nicht explizit ihre persönliche Werthaltung zeigen. In der Adoleszenz befinden sich Jugendliche in einem Findungsprozess, zu dem auch die Bildung des eigenen Werteund Normsystems gehört. Dabei geht es darum, Jugendliche zu unterstützen, damit sie ein für sie lebbares Werte- und Normsystem entwickeln können.
■ Der eigene mediale Zugang zu sexualisierten Inhalten
Der technische Wissensvorsprung der Jugendlichen verunsichert die Erwachsenenwelt zunehmend. Medienforschungsinstitute haben festgestellt, dass rund drei Viertel der befragten Eltern sich im Bereich der neuen Medien wenig bis gar nicht informiert fühlen (7). (Beispiele: Die 13-jährige Tochter erklärt gerne dem Vater, wie Filme von YouTube auf den iPod geladen werden können. Schüler zeigen die pikantesten Adressen von Pornowebseiten auf.) Für das Verstehen der Jugendlichen ist es unumgänglich, sich ein minimales Wissen über die neuen Medien anzueignen. Jedoch gehört das Respektieren der eigenen Grenzen dazu. Um mit Jugendlichen über sexualitätsbezogene und insbesondere pornografische Inhalte sprechen zu können, muss man diese nicht gesehen haben. Wenn Beratende mit Jugendlichen arbeiten, ist es legitim, pornografischen Inhalten im Internet aus dem Weg zu gehen und keine Dinge anzuschauen, die man nicht betrachten möchte. Jugendlichen mitzuteilen, dass man selbst solche Inhalte nicht konsumiert, weil man keine Lust dazu hat und sie einem nicht gut tun, gibt den Jugendlichen den Hinweis, dass sie sich auch nicht alles ansehen müssen.
Das Finden von dienlichen Antworten
Gespräche über Sexualität und insbesondere über die in der Vergangenheit tabuisierten Themen zu führen, stellt hohe Anforderungen an die beratende Person. Zusammenfassend geht es darum, sich über neue Medien zu informieren, reflektierte Fragestellungen zu entwickeln, eine wertneutrale Kommunikation zu führen und in einer empathischen Art und Weise mit den Jugendlichen zu sprechen sowie dabei die eigenen Grenzen zu beachten. Die Antworten sollten sich an folgenden Inhalten orientieren: ■ Sprechen darüber, dass in Massenme-
dien und insbesondere im Internet sexualisierte Bilder gezeigt und von Jugendlichen konsumiert werden
■ Vermitteln und Korrigieren von medi-
zinischem Wissen sowie Darlegen der
Vielfalt sexuellen Verhaltens
■ Angeben von Weblinks, die differen-
zierte und nützliche Informationen
verbreiten (lustundfrust, bravo, lilli,
feelok etc.)
■ kein Verbot oder Verteufelung von se-
xualisierten Websites (Jugendliche
beschaffen sich solche sowieso)
■ Diskussionen führen über positive
und negative Seiten (Was ist o.k.? Was
ist nicht o.k.?), sowie über Begriffe,
die Jugendliche nutzen, um ein diffe-
renziertes Bild der sexuellen Wirklich-
keit zu erhalten (Pornografie, Erotik,
Liebe etc.) (8)
■ Grenzen setzen, wenn die Integrität
anderer Menschen bedroht ist. ■
Dr. med. Marina Costa Fachärztin für Kinder und Jugendliche/Schulärztin Ko-Leiterin der Fachstelle für Sexualpädagogik «Lust und Frust», Zürich E-Mail: marina.costa@zuerich.ch
Lukas Geiser Fachmann für sexuelle und reproduktive Gesundheit PLANeS Erwachsenenbildner HF, Sexualpädagoge, Fachmitarbeiter Fachstelle für Sexualpädagogik «Lust und Frust», Zürich E-Mail: lukas.geiser@lustundfrust.ch
Quellen:
1. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM-Studie 2008: Jugend – Information – (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. S. 8.
2. Seikovski K.: Sexualität und neue Medien. Papst Science Publishers. 2005: 16.
3. Eichenberger Ch.: Sexualbezogene Internetnutzung: Chancen und Probleme. Script Referat zum 25-jährigen Jubiläum der Pro Familia Trier. 2004.
4. Weidinger B. et al.: Sexualität im Beratungsgespräch mit Jugendlichen. 2006: 19.
5. Süss D.: Jugendsexualität im Wandel der Zeit: Veränderungen, Einflüsse, Perspektiven. Bericht der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) 2009: 52.
6. Altstötter-Gleich C.: Pornographie und neue Medien. Eine Studie zum Umgang Jugendlicher mit sexuellen Inhalten im Internet. Pro Familia Deutschland (Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.). 2006. www.profamilia.de/getpic/5648.pdf
7. Richard R., Kraft-Schöning B.: Nur ein Mausklick bis zum Grauen ... Jugend und Medien. 2007: 17.
8. Geiser L.: Erotik und Sexualität im Internetzeitalter. Umgang mit Bildern und Körpern – Herausforderung oder Überforderung für Jugendliche? Reader AGAVA-Tagung, 2005: 22.
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