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GYNÄKOLOGIE – IM KONTEXT DER MIGRATION
Junge Migrantinnen mit Genitalbeschneidung
Ihre Situation in der Schweiz: Suche nach Antworten
In der Schweiz leben heute schätzungsweise 6000 bis 7000 Migrantinnen – Mädchen und Frauen – mit Genitalbeschneidungen. Ärzte und weitere Angehörige der Gesundheitsberufe müssen daher auf diesbezügliche Fragen und Betreuungsbedürfnisse vorbereitet sein. Der Informationsmangel der Familienmitglieder, das traumatische Ereignis selbst, die Konfrontation mit dem neuen soziokulturellen Umfeld und der eigene Selbstfindungsprozess stellen für die betroffenen Jugendlichen eine besonders schwierige Situation dar.
SAIRA-CHRISTINE RENTERIA, BÄRBEL HIRRLE (REVIEW)
Angesicht der relativ grossen Zahl der betroffenen Migrantinnen in der Schweiz sind Information und Sensibilisierung der Gynäkologen und Hausärzte wesentlich, damit eine adäquate Begleitung der jungen Patientinnen gelingen kann. Die unerwartete Konfrontation mit dem Thema der erfolgten Genitalbeschneidung kann betroffenen Adoleszentinnen, aber auch wenig informierten medizinischen Betreuern in der Schweiz, grosse Schwierigkeiten bereiten.
Weltweite Überwindung der Mädchenbeschneidung – in 20 Jahren?
Mädchenbeschneidung ist eine soziale Norm, deren Überwindung innerhalb einer Generation möglich werden soll. Dies ist das Ergebnis der zweitägigen Fachtagung unter Experten, Regierungen und weiteren Organisationen, die Unicef Schweiz am 2./3. Juli 2009 organisiert hat.
Hauptanliegen der Tagung war, neue Überwindungsstrategien zu erörtern
und sicherzustellen, dass die Programme zur Bannung der Mädchen-
beschneidung in die UN-Agenda aufgenommen werden. Elsbeth Müller,
Geschäftsleiterin Unicef Schweiz, erklärt: «Verstümmelung der weiblichen
Genitalien ist eine Praxis, die als soziale Norm funktioniert. Familien und
Einzelpersonen führen die Praxis fort, weil sie glauben, dass Mädchenbe-
schneidung von der Gesellschaft verlangt werde.»
Mädchenbeschneidung ist heute noch in 28 Ländern Afrikas verbreitet. In-
folge von Migration betrifft sie jedoch auch Europa und andere Teile der
Welt. Jedes Jahr werden schätzungsweise drei Millionen (!) Mädchen –
viele von ihnen im frühen Kindesalter – beschnitten. Als Folge des brutalen
Eingriffs stirbt eine beträchtliche (unbekannte) Zahl, die Überlebenden lei-
den lebenslang unter den Folgen.
hir
Quelle: Medienmitteilung Unicef-Media, 3. Juli 2009
Junge Migrantin – GynäkologIn – schwieriges Verhältnis?
Eine Schweizer Doktorarbeit aus dem Jahr 2005 hatte aufgezeigt, dass die Angebote in der Gynäkologie und Geburtshilfe nur ungenügend den Bedürfnissen der betroffenen Frauen mit Genitalbeschneidung entsprechen. Daraufhin hat die gynécologie suisse, SGGG, Informationen und Empfehlungen für Ärzte herausgegeben, die klare medizinische Handlungsdirektiven geben. Die betroffenen jungen Mädchen selbst scheuen sich sehr oft, eine gynäkologische Konsultation oder eine Familienplanungsstelle aufzusuchen, da eigene Unsicherheiten und Tabuisierungen in der Herkunftsfamilie bestehen. Frauenärztinnen und -ärzte sind aus deren Sicht erst im Fall einer Schwangerschaft vorgesehen. Einfacher scheint gemäss der Schweizer Doktorarbeit der Kontakt zu Kinder- und Allgemeinärzten, Schulschwestern und Sozialarbeiterinnen zu entstehen.
Verletzungen, Herkunftsländer, Problematik
Mädchenbeschneidung (Verstümmelung der weiblichen Genitalien; engl.: female genital mutilation) wird noch heute «routinemässig» in meist dörflichen Gemeinschaften in vielen afrikanischen Ländern südlich der Sahara und in Ägypten sowie in einigen asiatischen Ländern (z.B. im irakischen Kurdistan) praktiziert. Die Uno unterscheidet vier Beschneidungsformen, die partielle bis totale Entfernung der Klitoris, Exzision der kleinen Schamlippen und sogar Infibulation (Verschliessung der Vulva). Die Infibulation, das Vernähen der fast gesamten Vaginalöffnung, wird vor allem in Somalia, Djibouti, Äthiopien, Ägypten und
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© UNICEF/NYHQ1992-0099/Pirozzi
Mädchen aus Nigeria mit traditionellen Gesichtsnarben zur Markierung seiner Stammeszugehörigkeit in Kreis der älteren Schwestern. Immer häufiger kommt es zu einer Emigration: Wie wird die junge Frau mit ihren Verletzungen fertig, wenn sie sich in Europa assimilieren will/muss?
Fallbeispiel 1: A., 15 Jahre, im Gespräch mit der Klassenkameradin Im Gespräch mit ihrer besten Freundin in der Schulklasse erfährt A. mit grossem Erstaunen, dass diese nicht «beschnitten» ist. A. fühlt sich «andersartig», traurig und wütend und stellt sich eine Menge Fragen, wagt aber nicht, darüber zu sprechen.
im nördlichen Sudan praktiziert – dies primär mit dem Ziel, den Koitus vor der Eheschliessung zu verhindern und das Mädchen «rein» (und ohne sexuelle Versuchung) im Sinne der praktizierenden Gemeinschaft zu halten. Traditionelle, unreflektierte Überlieferungen – aber nicht religiöse Dogmen – sind verantwortlich für die bis heute vorgenommenen brutalen Beschneidungen, die ohne Narkose und mit unsterilen (oft rostigen Werkzeugen) meist im frühen Kindesalter vorgenommen werden. Zu den frühe Komplikationen dieser Beschneidung der Schamlippen gehören Blutungen, Miktionsschwierigkeiten und oft schwere somatische Begleitverletzungen, die nicht selten tödlich en-
den. Den überlebenden Mädchen und Frauen bleibt das traumatische, zugleich tabuisierte Erlebnis meist lebenslang in Erinnerung, auch wenn es oft verdrängt wird.
Schmerzhafter Bewusstseinsprozess in der Adoleszenz
Die in der Schweiz lebenden Jugendlichen, die in ihrem Herkunftsland die Beschneidung überlebt haben, leiden sehr oft unter Langzeitschäden wie Dysmenorrhö, Narbenproblemen (z.B. Zysten), psychischen Störungen sowie organischen und nicht organischen Problemen beim Geschlechtsverkehr. Schliesslich sind Komplikationen in Schwangerschaft und Geburt vorgezeichnet. Problematisch wirkt sich für die Betroffenen zudem aus, dass – anders als in den Herkunftsländern – in westlichen Ländern wie der Schweiz eine längere Adoleszenz erlebt wird, während der leicht Informationen zur Sexualität in unserem Kulturkreis zugänglich sind, und damit ein neues Bewusstsein über das eigene Körperbild entsteht. Die Mädchen, die von ihrer Familie diesbezüglich keinen Rückhalt bekommen, fühlen sich alleingelassen und empfinden die Situation als sehr schmerzhaft.
Die ärztliche Haltung in der Konsultation
Wie sollte sich die Ärztin respektive der Arzt während einer Konsultation betroffenen Mädchen und Frauen gegenüber verhalten? Einer der grössten Fehler ist es laut Untersuchungen, sich von eigenen Emotionen und dem Bedürfnis, zu handeln, überwältigen zu lassen. Die Jugendlichen sehen sich nicht in jedem Fall als Opfer oder als verstümmelt. Oft wollen sie kein Mitleid, selbst wenn die Erfahrung des mütterlichen Verlassenseins noch gegenwärtig ist. Stattdessen kann die Einschaltung einer Mediatorin, welche mit den soziokulturellen Hintergründen der Beschneidung im Herkunftsland vertraut ist, hilfreich sein. Dies gilt vor allem, wenn das Bedürfnis der Aussöhnung mit der Familie respektive den Praktiken im Herkunftsland im Vordergrund steht.
Medizinische Interventionen: wann welche? Welche medizinischen Eingriffe unternommen werden, sollte in diesem Zusammenhang gemeinsam besprochen werden. Serologische HIV- und Hepatitistests sind oft sinnvoll, und zwar auch bei noch nicht sexuell aktiven jungen Mädchen und Frauen, denn der Anteil
Fallbeispiel 2: F., 14 Jahre, möchte erst Jahre später eine gynäkologische Untersuchung F. ist kürzlich aus Somalia in die Schweiz gekommen. Die betreuende Lehrerin, die erfahren hat, dass F. wahrscheinlich «beschnitten» wurde, organisiert Konsultationen beim Gynäkologen und beim Psychiater, ohne F. gefragt zu haben. F. lehnt die Gespräche ab und möchte erst vier Jahre später eine Untersuchung, als ihr Wunsch nach Information stärker geworden ist als die Angst vor der Realität, von der sie noch nichts weiss.
der Infektionen, die nach der Exzision vorkommen, ist recht hoch. Der Wunsch einer Behandlung der Patientin – sei es wegen Dsymenorrhö, schwieriger Miktion, Narbenproblemen, schwieriger oder unmöglicher sexueller Beziehungen oder spätestens im Falle der Schwangerschaft und Geburt – ist die beste Indikation für eine zu besprechende chirurgische Deinfibulation. Meist steht der Wunsch nach kompletten Se-
Fallbeispiel 3: S., 17 Jahre, aus Somalia, ist verliebt S. ist in einen jungen Landsmann verliebt, der aber seit der Geburt in der Schweiz lebt. Beide möchten sexuellen Kontakt, sie hat aber Angst, weil sie weiss, dass Schweizerinnen nicht «beschnitten» sind, und fühlt sich daher minderwertig.
xualkontakten im Vordergrund, insbesondere bei einer Beziehung mit einem Partner aus einem anderen Kulturkreis. Ein chirurgischer Eingriff vor Sexualkontakten kann schmerzhafte Koitusversuche und erneut negative Erlebnisse vermeiden helfen. Zu beachten ist immer, dass junge Mädchen häufig in einem
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kulturellen Konflikt stehen; für sie ist die Bestätigung, dass die Deinfibulation aus somatischen Gründen indiziert ist, oft wesentlich. Therapiebegleitend sollten immer das neue Körperbild und natürliche Folgen wie spürbarer Vaginalausfluss erklärt werden. Im Fall einer Schwangerschaft ist die Frage des Vorgehens unter der Geburt so früh wie möglich anzusprechen. Die sexuelle Zufriedenheit vor allem auch im Anschluss an die Behandlung scheint, laut Untersuchungen, sehr stark von den frühen Erfahrungen nach der Beschneidung abzuhängen, aber auch von der Möglichkeit, sich mit den Erlebnissen zu versöhnen. Selbstverständlich spielen auch der Lebenspartner und eventuelle Erfahrungen mit anderen Gewaltanwendungen eine grosse Rolle. Heute besteht die Möglichkeit der «Klitorisrekonstruktion». Diese sollte jedoch nur nach einer genauen Sexualanamnese und individuellen Bedürfnisabklärung in Betracht gezogen werden. Keinesfalls sollten Bedürfnisse von noch so gut meinenden Aussenstehenden geweckt werden. Frauen mit FMG können ein durchaus erfülltes Sexualleben mit Orgasmusfähigkeit haben. Die beste Voraussetzung dafür, dass die in die Intervention gesetzte Hoffnung nach körperlicher Integrität und intensiverer sexueller Empfindung erfüllt wird, scheint die Bewusstwerdung der eigenen Sexualität beziehungsweise bereits erfolgte sexuelle Exploration zu sein.
merksätze
Zur ärztlichen Betreuung von Mädchen und Frauen mit Genitalbeschneidung gehört es: ■ die verschiedenen Arten der Genitalbeschneidungen und deren Komplikationen zu kennen ■ die Problematik der Fragestellung zu kennen (Gesprächsführung mit Jugendlichen) ■ die Thematik bei Migrantinnen aus Ländern mit hoher Prävalenz adäquat anschneiden zu können
– unter Einbezug der persönlichen, familiären und kulturellen Hintergründe der Frau ■ die Patientin auf deren Wunsch über die Deinfibulation informieren und begleiten zu können ■ den juristischen Rahmen in der Schweiz zu kennen.
Folgerung
Bei der Beschneidung der weiblichen Genitalien handelt es sich um ein medizinisches und psychosoziales Problem mit ethischen und juristischen Dimensionen. Die ärztliche Beratung der Patientin setzt interkulturelles Verständnis (Herkunftsland – westliche Länder) voraus. Kenntnisse in der Arzt-Patientin-Kommunikation sowie gynäkologisch-geburtshilflich-chirurgisches Wissen sind unabdingbar. Die Kluft zwischen den Erwartungen der Herkunftsfamilie und den Erfahrungen im Aufnahmeland (hier der Schweiz) kann für die Jugendliche eine schwere Bürde darstellen. Zu beachten ist immer auch, dass weibliche Genitalbeschneidungen auch mit weiteren Gewaltanwendungen gegenüber Mädchen und Frauen verbunden sein können (Zwangsverheiratungen, Gewaltanwendungen in der Ehe u.a.). Für die Prävention bei Adoleszentinnen ist es wesentlich, dass dem hier aufwachsenden Mädchen Antworten und Empfehlungen gegeben sowie Therapien an-
geboten werden. Wenn möglich sollten
aber auch ihre hier lebenden Mütter, wel-
che oft in den überholten Traditionen
stecken geblieben sind, einbezogen
werden.
Schliesslich muss allen Beteiligten, medi-
zinischen Betreuern und Betroffenen, der
juristische Rahmen in der Schweiz be-
kannt sein und besprochen werden: In
der Schweiz und den Nachbarländern
steht die Genitalbeschneidung bei
Mädchen und Frauen unter Strafe und
gilt als Körperverletzung.
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Dr. med. Saira-Christine Renteria (Korrespondenzadresse) Consultation de gynécologie pédiatrique et de l’adolescence Dép. de Gynécologie et Obstétrique, CHUV 1011 Lausanne E-Mail: Saira-Christine.Renteria@chuv.ch
Quelle:
Renteria, S.-C.: Mutilisations génitales féminines – l’adolescente en quête de réponses. RevMed Suisse 2008; 4: 1445–50.
Der Originalartikel mit Quellenangaben kann eingesehen werden unter http://www.chuv.ch/dgo/dgo_home/dgo_liens.htm; Link: Adolescence
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