Transkript
Neue Therapien
34th Annual Meeting of the International Urogynecological Association (IUGA), Como/Italien, 16. bis 20. Juni 2009
Überaktive Blase (OAB)
Imperativer Harndrang: News in Diagnostik und Therapie
Neue Daten über Entstehungsfaktoren und zum praktischen Management der überaktiven Blase mit und ohne Inkontinenz diskutierten Urogynäkologen und Urologen während des IUGA-Jahreskongresses.
Zum Jahreskongress 2009 der IUGA waren Urogynäkologen, Urologen, Gynäkologen und weitere Spezialisten für weibliche Beckenbodenprobleme aus der ganzen Welt angereist. Neben Workshops, State-of-the-Art-Lectures und Symposien wurde den Posterdiskussionen ein breiter Raum eingeräumt. Nachfolgend sind urogynäkologische Highlights aus 200 präsentierten Postern ausgewählt.
Zahl der Geburten – Prädiktor für Drangbeschwerden?
Ausser Frage steht, dass die Zahl der Entbindungen mit dem späteren Auftreten einer Belastungsinkontinenz assoziiert ist. Als Erklärung wird eine Schädigung des Beckenbodens und des Nervus pudendus durch Überdehnung/Risse und Kompression angenommen. Ob aber auch der imperative Harndrang mit und ohne Dranginkontinenz durch solche Traumata begünstigt wird, untersuchten Hirsch et al. (1): Für den Bladder Health Survey (BHS) wurden über 15 000 Patientinnen aus Grundversorgerpraxen rekrutiert; 3599 beantworteten alle Fragen in der Studie. Es zeigte sich, dass Frauen mit Drangbeschwerden signifikant älter waren und häufiger an Adipositas und Diabetes litten als die Kontrollen.
Fazit: Drangbeschwerden mit und ohne Inkontinenz scheinen nicht mit der Zahl der Geburten zusammenzuhängen, solange keine Hinweise auf eine Belastungsinkontinenz bestehen.
Miktionstagebuch – unerlässlich für die Diagnostik
Wie ist die Miktionshäufigkeit nach suburethraler Schlingenoperation am besten zu bewerten? In einer retrospektiven Analyse der Daten von 1136 Frauen nach
Schlingenoperation werteten Stav et al. (2) die Miktionsprotokolle von 601 Patientinnen mit Inkontinenz aus und stellten diese den anamnestischen Angaben zur Miktionshäufigkeit gegenüber: 89% der Frauen hatten tagsüber zwischen 4 und 10 Miktionen notiert, und 87,6% mussten höchstens zweimal nachts die Toilette aufsuchen. Die Gegenüberstellung zeigte, dass nur bei 47% die anamnestische Miktionshäufigkeit am Tag mit den Protokollangaben übereinstimmte. Dagegen bestand nachts mit 93% eine sehr gute Übereinstimmung.
Fazit: Fast die Hälfte der Frauen überschätzt die Miktionshäufigkeit am Tag. Dabei ist die Fehlerrate bei mehr als 10 täglichen Miktionen am ausgeprägtesten. Das Miktionstagebuch ist deshalb für die Diagnosesicherung unverzichtbar.
Weniger Drangprobleme – geringere Beschwerdelast
Wie korreliert die Belastung infolge des imperativen Harndrangs bei OAB-Patientinnen mit dem Beschwerde-Score vor und nach erfolgreicher medikamentöser Therapie? Eine Post-hoc-Analyse der Daten der SUNRISE-Studie ergab, dass die Beschwerden unter Solifenacin (Vesicare®) deutlich abnahmen. Die Auswertung der Fragebogenuntersuchung Perception of Bladder Condition (PBC) von De Ridder et al. (3) bei 492 Patientinnen, die unter dem Medikament in flexibler Dosierung (5 mg/10 mg) respektive Plazebo (n = 208) behandelt worden waren, zeigte: Insgesamt 60,0% der Frauen erreichten unter Solifenacin eine niedrigere PBC-Beschwerdekategorie (vs. 41,8 % unter Plazebo) als vor der Therapie.
Fazit: Die Verbesserung des Blasenzustands unter Solifenacin geht mit einer substanziellen Verminderung des imperativen Harndrangs einher. Das unterstreicht erneut die Bedeutung der Kontrolle des Drangs im OAB-Management.
Entzündliche Urothelveränderungen – häufig beteiligt?
Werden vermeintliche OAB-Beschwerden häufiger als bisher angenommen durch eine Harnwegsinfektion mitverursacht? Khasriya et al. (4) führten histologische Untersuchungen (Biopsiematerial der Blase) bei 61 Patienten mit OABSymptomen (davon 11 mit Pyurie) und bei drei Kontrollpersonen durch: Bei 45 von 61 OAB-Patientinnen ohne Pyurie (90%) und 10 von 11 mit Pyurie (91%) bestanden Zeichen einer Zystitis – mit Ödem, entzündlichem Infiltrat und Urothelhyperplasie.
Fazit: Bei Patienten mit OAB-Symptomen sollte sorgfältig abgeklärt werden, ob entzündliche Urothelveränderungen vorliegen. Vor einer OAB-Diagnose muss eine Infektion sorgfältig ausgeschlossen (und grosszügig behandelt) werden.
Antimuskarinische Therapie mit Solifenacin
Betroffene mit überaktiver Blase und massiver Drangsymptomatik müssen zahlreiche Coping-Strategien entwickeln, um im Alltag mit ihrer belastenden Situation zurechtzukommen, dies berichtete Professor Dr. med. Heinz Koelbl, Mainz, während eines von der Firma Astellas unterstützten Satellitensymposiums. Über die Hälfte der Betroffenen kämpft gegen den Verlust des Selbstvertrauens an, gut ein Drittel zieht sich zunehmend zurück. Professor Dr. med. Karl Luber, San Diego/ USA, plädierte für eine multifaktorielle Therapie nach Stufenplan. Unverzichtbar
GYNÄKOLOGIE 5/2009
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34th Annual Meeting of the International Urogynecological Association (IUGA), Como/Italien, 16. bis 20. Juni 2009
sind für ihn Patientenaufklärung, Verhaltenstherapie und Blasentraining. Zur Rolle der antimuskarinischen Therapie zitierte er die plazebokontrollierte VIBRANT-Studie mit Solifenacin (5–7): Unter der Behandlung war es nach 12 Wochen zu einer signifikanten Abnahme der Drang- wie auch Inkontinenz-Episoden pro 24 Stunden gekommen, zudem war die Symptombelastung markant zurückgegangen. Während rund 4 von 5 Patienten der Solifenacin-Gruppe nach 12 Wochen bereit waren, mit der Therapie fortzufahren, waren es im Plazebokollektiv nur etwas mehr als die Hälfte.
Die Crux mit der Therapietreue
Eine grosse europäische Studie mit über 15 000 OAB-Patienten (8) sollte klären, wie es mit der Persistence (Therapietreue) unter antimuskarinischer Therapie im Alltag aussieht. Die Autoren beklagen, dass die Patienten es bereits nach 4 Wochen mit der Einnahme «nicht mehr so genau nehmen». Allerdings war die Persistence während der neunmonatigen Studienphase unter Solifenacin konsistent höher als unter Tolterodin, Oxybutynin oder Flavoxat. Nach drei Monaten befolgte noch knapp die Hälfte der mit Solifenacin behandelten Patienten die Einnahmevorschrift.
Fazit der Studie: Nach 90, 180 und 270 Tagen wies Solifenacin eine signifikant höhere Persistenz auf als die anderen verglichenen Antimuskarinika. Patienten sollten vorab wissen, dass sie durch die langfristige Einnahme weitere Verbesserungen erzielen können.
Standortbestimmung zur Botoxtherapie
Eine der therapeutischen Optionen für OAB-Patienten, die auf die antimuskarinische Therapie nicht ansprechen, ist die Injektion von Botulinumtoxin A. Betschart et al. untersuchten sowohl das Langzeitoutcome als auch Prädiktoren für das Versagen einer Botoxtherapie bei idiopathischer OAB mit oder ohne Inkontinenz (9): Die Wirkung von Botox trat innerhalb von 2 bis 3 Tagen ein. Nach 2 Wochen waren bei 53,8% die OAB-Beschwerden beseitigt; 36,4% der Patienten berichteten über eine Besserung, 8,8% sprachen nicht an. Von den Nonrespondern wiesen 4 psychiatrische Probleme auf, und bei 2 lag zusätzlich ein schlecht eingestellter Diabetes vor. Bei diesen Diabetikern kam es zum Harnverhalt, und sie benötigten einen Dauerkatheter.
Fazit: Bei einer re-injektionsfreien Periode von 25,5 ± 15,0 Monaten bietet Botox eine lang wirksame Therapie – ohne injektionsbedingte Komplikationen. Psychische Störungen erweisen sich als Prädiktor für ein Therapieversagen; schlecht eingestellter Diabetes ist mit dem Risiko einer Harnretention assoziiert.
Brubaker et al. untersuchten im Rahmen einer plazebokontrollierten Doppelblindstudie die Dosis-Wirkungs-Beziehung von Botoxinjektionen und die Auswirkungen auf die Lebensqualität (10). Bei den 313 Patienten mit idiopathischer OAB und Dranginkontinenz kam es unter Dosierungen von ≥ 100 U Botox zu einer anhaltenden Wirkung; eine Steigerung auf 150 U brachte dagegen keinen Zusatznutzen.
Fazit: Im Unterschied zu Plazebo lässt sich mit der Botoxtherapie eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität erreichen. Die Erwartungen (Zufriedenheit, Therapieziele) wurden erfüllt. ■
PD Dr. med. Daniele Perucchini (Korrespondenzadresse)
FMH Gynäkologie und Geburtshilfe Gottfried-Keller-Strasse 7 8001 Zürich E-Mail: perucchini@hin.ch
sowie Dr. Renate Weber
Lörrach
Referenzen: 1. Hirsch, A.G. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 102. 2. Stav, K. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 85. 3. De Ridder, D. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 145. 4. Khasriya, R.K. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 064. 5. Samuels, T.A. et al. Poster 190, EAU 2009, Stockholm. 6. Vardy, T.A. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 070. 7. Samuels, T.A. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 039. 8. Blok, B. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 141. 9. Betschart, C. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 073. 10. Brubaker, L. et al. Int Urogynecol J 2009; 20 (Suppl 2): Abstr. 140.
Der Kongressbericht wurde von Astellas Pharma AG finanziell unterstützt.
28 GYNÄKOLOGIE 5/2009