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EDITORIAL
D ie Schweiz weist einen hohen Anteil von Einwohnern und Einwohnerinnen mit ausländischer Staatsangehörigkeit auf. Nach Angaben des Bundesamtes für Statistik betrug im Jahr 2008 dieser Anteil 20,1%, aufgrund der Zuwanderung ist die Tendenz steigend. Der grösste Teil ist aus europäischen Ländern zugewandert, ein Teil jedoch stammt aus nichteuropäischen Kulturen und ist aufgrund von Vertreibung, Krieg und Gewalt im eigenen Land weggezogen. Die Hälfte dieser Migranten sind Frauen, die nun vorübergehend, für kürzere oder längere Zeit oder auch für immer in der Schweiz leben.
Charakteristische Krankheiten Bekannt ist, dass die belastenden Begleitumstände der Migration (und nicht diese selber) die Gesundheit beeinträchtigen können. Dementsprechend werden
Gynäkologie im Kontext der Migration
niedergelassene Ärztinnen und Ärzte wie auch Spitäler mit sehr verschiedenen gesundheitlichen Problemen von MigrantInnen konfrontiert. Im frauenärztlichen Bereich begegnet man Krankheitsbildern und Befunden, wie sie früher auch in Europa gesehen wurden, die heute aber sehr selten geworden sind, beispielsweise Genitaltuberkulose.
Andersartige Erwartungen und Bedürfnisse Welche Erwartungen haben diese Menschen an unser Schweizer Gesundheitswesen? Sind sie vertraut mit den Angeboten? Welche speziellen Bedürfnisse haben Migrantinnen in Bezug auf die frauenärztliche Versorgung? Können sie ihre Wünsche ausdrücken? Wie kann ein Gespräch bei sprachlichen Barrieren ausreichend fundiert und für beide Seiten zufriedenstellend geführt werden? Je nach den Herkunftsländern sind die Erwartungen an und die Hoffnungen auf die medizinischen Möglichkeiten sehr verschieden. Zum Teil wird an die westliche Medizin, die «alles kann», wie an etwas Wunderbares geglaubt: Da gibt es zum Beispiel die nicht mehr junge Frau aus Schwarzafrika mit riesigen Uterusmyomen, die sich ein Kind wünscht – leider vergeblich, trotz der hoch entwickelten westlichen Medizin. Andererseits lösen die vielfältigen, auch technischen Möglichkeiten manchmal Ängste und Ratlosigkeit aus, wie bei der Migrantin, die eine Ultraschalluntersuchung
verweigert mit der Begründung, sie wolle nicht, dass man in sie hineinschaue, sie wolle einfach ein Medikament. Immer wieder tauchen Frauen auf, die eine Operation ablehnen mit der Begründung, dass «jede Operation das Leben um ein Jahr verkürzt».
Ärztliches Verhalten bei Genitalbeschneidung Ein kleiner Teil der Migrantinnen in der Schweiz stammt aus Ländern, in denen die rituelle Genitalbeschneidung bei Frauen traditionell praktiziert wird. Suchen diese Frauen wegen gynäkologischer Probleme medizinische Hilfe, ist es – für Ärzte und das weitere Praxis- und Klinikpersonal – wichtig, nicht auf die Beschneidung zu fokussieren. Dies kommt bei uns erfahrungsgemäss oft vor und kann für die Patientin, für die die Beschneidung (leider!) «normal» ist, eine weitere Belastung darstellen. Im Auge zu behalten ist, dass die betroffenen Frauen in die Praxis kommen, weil sie gynäkologische Probleme haben (wie andere Patientinnen, wenn auch teilweise unterschiedliche). Zusätzlich zu ihrem gynäkologischen Problem liegt bei ihnen ein Zustand nach Beschneidung vor. Ärztlicherseits müssen für die medizinische Betreuung dieser Frauen Kenntnisse bezüglich «female genital mutilation» vorhanden sein. Allerdings würde man diesen Migrantinnen nicht gerecht, wenn man sie einzig unter diesem Etikett sähe. Diese Form von «neuer» Stigmatisierung muss aus ärztlicher Sicht unbedingt vermieden werden – eben, um die Patientin nicht noch zusätzlich zu belasten.
Dr. med. Judit Pok Lundquist Leitende Ärztin
Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich
GYNÄKOLOGIE 5/2009
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