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SCHWERPUNKT
Urininkontinenz im hohen Alter
Welche Operation, welche Medikamente, in welcher Situation?
Urininkontinenz im hohen Alter muss kein Schicksal sein; konservative und operative Verfahren können unter besonderer Berücksichtigung der individuellen Situation angewendet werden. Minimalinvasive Verfahren wie Schlingentechniken und Injektionen können unter reiner Lokalanästhesie oder in Regionalanästhesie auch bei betagten Patientinnen empfohlen werden.
ANNETTE KUHN
Urininkontinenz ist eine Volkskrankheit. Weltweit über 200 Millionen Menschen jeden Alters leiden darunter, in der Schweiz sind schätzungsweise 400 000 Personen davon betroffen. Frauen trifft es ungefähr 3- bis 4-mal häufiger als Männer, Schweregrad und Häufigkeit nehmen mit dem Alter zu.
Schwere Aufgaben für den Beckenboden
Der Beckenboden ist eine wichtige Etage im Körper jeder Frau. Er besteht aus Muskeln, Bändern und Nerven und ist dafür verantwortlich, dass die Organe des Beckens – Blase, Gebärmutter, Darm und Scheide – innerhalb des Beckens bleiben und die Kontinenz für Urin und Stuhl erhalten bleibt. Der Beckenboden altert, und dies kann zu Inkontinenz und Senkungen führen. Der Beckenboden hat zwei schwierige Aufgaben: Einerseits muss er bei Geburten genug Platz bieten, um das Neugeborene auf die Welt kommen zu lassen, andererseits muss er aber auch Stabilität für die weiblichen Organe bieten und damit die Kontinenz gewährleisten. Diese Dualität – Stabilität auf der einen, Elastizität auf der anderen Seite – kann zu gesundheitlichen Problemen im Sinne von Senkungen und/oder Inkontinenz führen. Bei 10% aller Frauen über 40 Jahren kommt es zu Senkungen der Scheide und der benachbarten Organe, über 30% leiden an Inkontinenz für Urin. Um die Menopause oder danach treten Störungen am Beckenboden oft mehr in den Vordergrund, obwohl die Ursache oft schon viel früher stattgefunden hat: Neuere Studien haben gezeigt, dass ein erhöhtes mütterliches Alter bei der ersten Geburt (> 35 Jahre) für Funktionsstörungen des Beckenbodens ein Risikofaktor ist. Andere Risikofaktoren sind Übergewicht, Rauchen, Lungenkrankheiten und die Menopause. Durch das Abfallen der körpereigenen Hormone, besonders der Östrogene, kann es passieren, dass bei der Betroffenen Urin- oder Stuhlverlust oder Senkungsbeschwerden auftreten.
Problembereich Inkontinenz heute
Die Belastungsinkontinenz stellt bei der Frau ein weitverbreitetes Problem dar: Bis zu 57% der Frauen, die zu Hause leben und bis zu 91% aller in Heimen lebenden Frauen leiden unter diesem Problem. Die grosse Variationsbreite der epidemiologischen Daten ist auf eine in den Studien nicht einheitlich verwendete Definition zurückzuführen: Nur die wenigsten Studien verwenden die Definition der International Continence Society (ICS), die wie folgt lautet: «Als Inkontinenz wird jeder unwillkürliche Urinverlust, der zum sozialen oder hygienischen Problem wird, bezeichnet.» Inkontinenz ist altersabhängig, wenn auch keinesfalls eine Krankheit, die nur ältere Personen betrifft. Die Tabelle 1 zeigt auf, dass bereits 35- bis 44-Jährige nach eigenen Angaben nur unwesentlich weniger als betagte Menschen unter diesem Problem leiden.
Basismassnahmen: Trinken, Gewichtsreduktion, Physiotherapie
Verständlicherweise wird Inkontinenz als peinliches Problem empfunden. Soziale Aktivitäten, für die man in der Lebensmitte möglicherweise mehr Zeit findet, unterbleiben, weil «die Blase regiert», Einlagen gewechselt werden müssen oder weil man Angst vor Geruch oder Urinflecken auf der Kleidung oder Einrichtung hat. Das muss nicht so sein: Je nach Problemstellung kann hier mit Physiotherapie, Medikamenten und Operationen geholfen werden. Die Urinmenge und dementsprechend die Trinkmenge sollte pro Tag zwischen 1500 und 2000 ml liegen, um eine starke Konzentrierung des Urins zu vermeiden und Infekten vorzubeugen. Um den Beckenboden stark zu halten, helfen Pilates und physiotherapeutisch angeleitete Beckenbodengruppen. Für Frauen mit manifesten Problemen sind Einzelsitzungen vorteilhaft, die vom Arzt verschrieben werden können. Verstopfung und Übergewicht sollten vermieden werden. Preiselbeersaft hat eine nachgewiesene Wirkung zur Vorbeugung von Blasenentzündungen.
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SCHWERPUNKT
Tabelle 1:
Anteil der Inkontinenten in Bezug auf ihr Alter (Thomas, 1980)
Altersgruppe (Jahre) 15–24 35–44 55–64 > 85
Inkontinente 16% 30% 31% 33%
Die Therapie der Belastungsinkontinenz sollte initial konservativ mit Physiotherapie, Gewichtsreduktion und selten medikamentös sein, dies auch im Alter.
Operative Optionen bei Belastungsinkontinenz
Sollte nach einer adäquaten Therapiedauer, die zwischen 3 und 6 Monaten liegt, der Therapieerfolg nicht ausreichend sein, so sollte der Patientin eine Operation empfohlen werden.
TVT-Methoden Die häufigste Operation für die weibliche Belastungsinkontinenz ist die suburethrale Schlingeneinlage. Suburethrale Schlingen nach dem Vorbild des Tension Free Vaginal Tape (TVT) sind seit Mitte der Neunzigerjahre bekannt und haben die Inkontinenzchirurgie revolutioniert, weil bei dieser Methode die chirurgische Therapie mitturethral und nicht – wie vorher bei den Kolposuspensionen – bla-
Tabelle 2:
Resultate nach TVT
Autor Liapis 2002 Chung 2002 Niemczyk 2002 Olsson 1999
Anzahl Patientinnen 36 91 100 51
Tabelle 3:
Kontinenz nach Kollageninjektion
Autor Smith 1997 Khullar 1997 Swami 1997 Bent 2001
Anzahl der Patientinnen 94 48 107 58
senhalsnah ansetzt. Darüber hinaus können die suburethralen Schlingen unter Lokalanästhesie eingelegt werden und zählen damit zu den minimalinvasiven Verfahren, die in einigen Ländern ambulant eingesetzt werden. Suburethrale Schlingen können entweder ■ retropubisch oder ■ transobturatorisch eingelegt werden. Die Schlingen sollten spannungsfrei eingelegt werden (1, 2) und heben im Gegensatz zu den zuvor benutzten Eingriffen wie der Kolposuspension nichts an, weder die Harnröhre noch den Blasenhals. Die Kontinenz wird allein durch eine Stabilisierung der Urethra erreicht, die bei Belastungen wie Husten, Lachen oder beim Sport ein sogenanntes «Kinking», das heisst eine Knickung der Harnröhre, ausbildet, die den Urinverlust verhindert. Um dieses «Kinking» zu erreichen, ist eine Mobilität der vesikourethralen Einheit notwendig. Über 140 in Medline verfügbare Publikationen zu diesen Operationstechniken bei Belastungsinkontinenz, darunter mehrere prospektiv randomisierte Studien, und durchwegs gute mittelfristige Resultate mit zufriedenstellender Situation, selbst noch nach 8 Jahren, sprechen für sich. Eine Übersicht wichtiger Studien ist in Tabelle 2 aufgeführt. Die Resultate des 11-Jahres-Follow-up einer schwedischen Studie sind überzeugend und weisen auf die Effektivität und Sicherheit des klassischen TVT hin: Mit
kontinent (%) 84
100 88 90
Follow-up (Monate) 24 12
2 36
kontinent (%) 56 58 65 83
Follow-up (Monate) 14 21 24 12
Abbildung 1: Schematische Darstellung der Blasenhalsinjektionen
einer subjektiven Heilungsrate von 77%, einer 20%-igen Verbesserung der Symptomatik und bei nur 3% Therapieversagerinnen liegt dieses Verfahren weit vorne (3). Komplikationen sind selten und können Blutungen, eine de-novo hyperaktive Blase, Harnblasenentleerungsstörungen und Erosionen des Fremdmaterials beinhalten.
Blasenhalsinjektionen Blasenhalsinjektionen werden bei Patientinnen angewandt, die sehr betagt sind oder multiple Nebendiagnosen haben. Auch Patientinnen mit immobilem Blasenhals, meist nach mehrfachen Inkontinenzeingriffen, können von den Injektionen profitieren. Die Injektionen können unter alleiniger Lokalanästhesie appliziert werden. Die Wirkung wird durch eine Koaptation des Blasenhalses erzielt. Abbildung 1 skizziert die Technik. Die am besten dokumentierte Substanz als Implantat ist das Kollagen. Die Kontinenzraten in wichtigen Studien zeigt die Tabelle 3. Zu beachten: Die Kollagenwirkung nimmt nach 18 Monaten markant ab, weil das Kollagen durch körpereigene Kollagenasen abgebaut wird. Kollagen ist bovinen Ursprungs und wirkt bei 3% der Patientinnen allergen, weshalb mindestens 4 Wochen vor Injektion ein intrakutaner Allergietest durchgeführt werden muss. Der Abbau der Substanz, der tierische Ursprung und die eingeschränkte Wirksamkeit haben dazu geführt, dass immer wieder alternative Substanzen zur Blasenhalsinjektion geprüft werden. Hyaluronsäure, Carbonpartikel und Silikon sind alternative Substanzen zum Kollagen. Teflon wird wegen seiner Migrationsten-
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SCHWERPUNKT
denz nicht mehr verwendet. Eigenfettinjektionen haben Embolien verursacht und werden deswegen nicht mehr empfohlen. Der positive Effekt auf die Kontinenz nach Blasenhalsinjektion ist auch bei gemischter Inkontinenz belegt (7). Die mit den Injektionen erreichten Kontinenzraten sind denen nach suburethralen Schlingentechniken deutlich unterlegen. Es ist eine noch weniger invasive Technik, die bei ausgewähltem, besonders älteren, multimorbiden Patientinnenkollektiv eine gute Alternative darstellt. Eine neuere, künstliche Substanz ohne tierische Partikel ist das Bulkamid®, welches aus Polyacrylamid-Hydrogel besteht und ebenfalls problemlos unter Lokalanästhesie gespritzt werden kann. Die Handhabung ist sehr elegant und ein-
Tabelle 4:
Übersicht über medikamentöse Optionen bei hyperaktiver Blase
Substanzklasse Anticholinergika
Wirkstoff Tolterodin Darifenacin Solifenacin Oxybutynin
Fesoterodin Trospiumchlorid
Spasmolytikum Trizyklische Antidepressiva
Flavoxat Imipramin
Handelsname Detrusitol SR® Emselex® Vesicare®
Ditropan® Lyrinel Oros® Kentera Pflaster®
Toviaz® Spasmo-Urgenin Neo®
Toviaz® Spasmo-Urgenin Neo®
Urispas® Tofranil®
SCHWERPUNKT
fach, die bisherigen Resultate sind vielversprechend (8): Lose fand in einer eher schwierigen Patientinnengruppe mit Belastungsinkontinenz und gemischter Inkontinenz eine Heilungsrate von 38% und eine deutliche Verbesserung in 43% – Daten, die für eine Injektionssubstanz ausgezeichnet sind. Bulkamid® besitzt keine allergene Potenz, was ein Vorteil gegenüber dem Kollagen ist. Alle Inkontinenzeingriffe haben aber weniger gute Erfolgsaussichten, wenn die Patientin eine hypotone Urethra mit maximalem urethralem Verschlussdruck < 20 cm H2O hat (8). Therapie der hyperaktiven Blase Für die hyperaktive Blase stehen mehrere Substanzen zur Verfügung, die gemeinsam mit dem Blasentraining angewendet werden sollten. Tabelle 4 gibt einen Überblick über die verschiedenen Substanzen. Bei sehr betagten Patientinnen muss auf eine Summation anticholinerger Effekte durch Polymedikation geachtet werden: Verwirrtheit und eine Einschränkung der Merkfähigkeit können die Folge dieser medikamentösen Therapie sein. Für Darifenacin, Solifenacin und Trospiumchlorid existieren Daten, die die zerebrale Sicherheit in der Anwendung bei älteren Menschen belegen. Zusätzlich kann bei allen Anticholinergika Verstopfung als Nebenwirkung auftreten, die sich auf die Inkontinenz negativ auswirken kann und die gegebenenfalls behandelt werden muss. In hartnäckigen Fällen kann Obstipation zum Absetzen des Medikamentes führen. Tabelle 5 fasst die Vor- und Nachteile der Medikamente gemäss Workshop 2008 der International Continence Society (ICS) zusammen. Die Kombination von Anticholinergika und Azetylcholinesterase-Inhibitoren («Anti-Alzheimer Medikamente») ist derzeit noch nicht untersucht; gross an- Tabelle 5: Vor- und Nachteile der Medikation bei hyperaktiver Blase (gemäss ICS-Workshop 2008, Kairo, Therapie der überaktiven Blase) Medikament Tolterodine Detrusitol® Solifenacin Vesicare® Oxybutinin Ditropan® Lyrinel® Oxybutinin TD Kentera® Darifenacin Emselex® Toviaz® Vorteil Einmaldosis gute Datenlage Dosistitration sehr gutes Wirkungs-/ Nebenwirkungs-Profil kostengünstig Daten in Schwangerschaft und bei Laktation vorhanden konstante Plasmawerte kein Einfluss auf die kognitive Funktion Metabolismus über ubiquitäre Esterasen Nachteil keine Dosistitration trockener Mund bei 10 mg möglich trockener Mund kognitive Einschränkung möglich Hautirritation möglich gelegentlich Obstipation anticholinerge NW möglich gelegte Studien in England laufen. Zu be- achten: Azetylcholinesterase-Inhibitoren können bis zu 30% der Patientinnen auf der Basis eines Azetylcholinüberschusses in der Blase inkontinent machen! Bei Patientinnen mit mehreren Medika- menten ist ebenfalls der Metabolismus zu beachten: Viele Anticholinergika belasten das Zytochrom-P-450-System (darunter Grapefruitsaft und die weitver- breiteten Johanniskrautextrakte!) und können dadurch zu sehr variablen Plas- maspiegeln führen. ■ Dr. med. Annette Kuhn Leiterin Zentrum für Urogynäkologie Universitätsklinik für Frauenheilkunde Inselspital Effingerstrasse 102, 3010 Bern E-Mail: annette.kuhn@insel.ch Literatur bei der Verfasserin. merkpunkte ■ Die suburethralen Proleneschlingen gelten als Standard der operativen Inkontinenztherapie; sie können retropubisch oder transobturatorisch eingelegt werden. ■ Blasenhalsinjektionen haben deutlich schlechtere Langzeitresultate. Bei geriatrischen Patientinnen (u.a.) haben sie ihren Platz in der Kontinenzchirurgie. ■ Beckenbodengymnastik kann auch von betagten Patientinnen durchgeführt werden: Die Motivation der Patientin ist wichtiger als das Alter! ■ Anticholinergikaverordnung bei älteren Frauen: – Vorsicht bei Polymedikation bzw. Summierung anticholinerger Effekte! – Substanzwahl: Vor- und Nachteile für den Individualfall beachten! 16 GYNÄKOLOGIE 3/2009