Transkript
SCHWERPUNKT
Ein neues Paradigma für das Toxoplasmose-Screening
Neue Studiendaten sprechen für die Einstellung der Tests in der Schwangerschaft
Das Toxoplasmose-Screening und die mütterliche Behandlung bei akuter Toxoplasmose im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge werden gemäss neuen Studiendaten als nicht effektiv betrachtet: Weder die vertikale Übertragung noch die Morbidität und Mortalität des Kindes werden durch die Behandlung der Mutter wesentlich verringert. In einem interdisziplinären Konsensusfindungsprozess sprechen sich Schweizer Experten im Auftrag des BAG jetzt für die verstärkte Betonung der Primärprävention aus.
BÄRBEL HIRRLE, PATRICK HOHLFELD
Die Erkenntnis aus umfassenden Studienanalysen: Beim gegenwärtigen Vorgehen in der Prophylaxe der konnatalen Toxoplasmose (KT) durch Screening der Schwangeren und Behandlung bei primärer Infektion in der Gravidität besteht keine wissenschaftliche Evidenz. Dies ergab im Jahr 2004 eine Analyse mehrerer Tausend wissenschaftlicher Publikationen zur Toxoplasmose in Schwangerschaft und Kindheit. Die Gruppe «Eurotoxo», eine europäische Initiative, bestehend aus Infektiologen, Kinderärzten und Epidemiologen*, hatte das Risiko und das ärztliche Vorgehen in Europa bezüglich der primären Toxoplasmose in der Schwangerschaft anhand der vorliegenden Literatur analysiert. Zweifel am bisherigen Vorgehen in der Schwangerenvorsorge und bei der Behandlung schwangerer Frauen standen dabei im Zentrum.
Internationale und nationale Analysen
Mehrere Jahre bevor Eurotoxo die Analyse aufnahm, hatte in der Schweiz das BAG bereits eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe beauftragt, die Bedeutung der KT hierzulande zu prüfen. Die Gruppe kam zu einem ähnlichem Ergebnis wie Eurotoxo; darüber hinaus hatte sie den Auftrag, ein nationales KT-PräventionsProgramm für die Schweiz zu erstellen. Jüngst hat die nationale Expertenkommission (bestehend aus Gynäkologen/Geburtshelfern, Pädiatern, Infektiologen, Ophthalmologen, Labormedizinern und Gesundheitspolitikern)** eine Argumentation für einen
* Institute of Child Health, London, UK, the Staten Serum Institute, Copenhagen, Denmark, and the Institute of Public Health, Epidemiology and Development, Bordeaux, France. It is conducted with a European Union funding. ** Mitglieder der Schweizerischen Arbeitsgruppe für konnatale Toxoplasmose: C. Rudin, K. Boubaker, P.A. Raeber, B. Vaudaux, H.U. Bucher, J.G. Garweg, I. Hoesli, C. Kind, C.P. Hohlfeld Vgl. Information für Patientinnen, Seite 20
nationalen Konsensus veröffentlicht (1). Die Schweizerische Arbeitsgruppe für konnatale Toxoplasmose schlägt darin das künftige Vorgehen zur Toxoplasmose-Prophylaxe in der Schwangerenvorsorge vor.
Erkenntnisse der letzten Jahre
1995 hatte die Arbeitsgruppe ihre damalige Untersuchung zur KT in den Achtzigerjahren veröffentlicht: Für die Achtziger- bis Anfang Neunzigerjahre wurde eine Seroprävalenz für Toxoplasmose in der Bevölkerung von 46% ermittelt aufgrund einer Studie mit 9059 Frauen. Das Risiko einer Serokonversion während der neun Schwangerschaftsmonate wurde mit 1,21% beziffert, was einer geschätzten Zahl von 248 Neugeborenen mit KT jährlich in der Schweiz entspricht. Aufgrund der Schätzung, dass zwei Drittel der Kinder bei Geburt asymptomatisch sind, wurde davon ausgegangen, dass es median während der Kindheit bei 40 infizierten Kindern zu Chorioretinitis mit möglicher Sehstörung, bei 18 Kindern zu zerebralen Läsionen und bei 2,7 Kindern zu perinalen Todesfällen komme.
Schweiz: Toxoplasmose wird immer seltener Im Gegensatz zu diesen Vorhersagen zeigen neuere Schweizer Beobachtungsstudien wesentlich niedrigere Fallzahlen für die Schweiz. Eine Untersuchung in 38 Kinderkliniken der Schweiz zwischen1995 und 1998 («Swiss Pediatric Surveillance Unit network») fand nur 15 nachgewiesene Fälle symptomatischer KT (bzw. median 4 Fälle pro Jahr). In einer zweiten Erhebung aus Basel wurden mehr als 64 000 Nabelschnurblutproben (betrifft > 90% aller Neugeborenen) zwischen 1982 und 1999 analysiert. Dabei zeigte sich, dass trotz steigenden mütterlichen Alters bei den Kindsgeburten in den letzten Jahrzehnten die Seroprävalenz für Toxoplasmose konti-
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SCHWERPUNKT
Einzig sinnvolle Massnahme:
Primäre Prävention der konnatalen Toxoplasmose (KT):
Ausgehend von der Tatsache, dass eine primäre Toxoplasma-Infektion während der Schwangerschaft zur intrauterinen Übertragung auf den Fetus und zu einer konnatalen Infektion führen kann und weder Screening der Schwangeren noch die mütterliche Therapie eine KT evidenzbasiert verhindert, ist die primäre Prävention die einzige sichere Methode der Wahl.
Primäre Prävention: ■ Ziel: Vermeidung von Infektionen während der Schwangerschaft ■ Methode: Beratung der Frauen vor und während der Schwangerschaft (Empfehlung zum Verhalten
im Alltag)
Sekundäre Prävention (wird aufgegeben): ■ Ziel: Reduktion der Mutter-Kind-Übertragung und der kindlichen Erkrankungsrate bei nachgewie-
sener akuter Toxoplasmose der Schwangeren im Screening ■ Methode:
– Therapieeinleitung mit Spiramycin und Durchführung einer Amniozentese – bei bestätigter fetaler Infektion: Kombinationstherapie Pyrimethamin/Sulfonamid – (bei sonografisch erfassten Symptomen: Angebot des Schwangerschaftsabbruchs)
heutiges Vorgehen in Ländern mit hoher Toxoplasmose-Inzidenz (z.B. Österreich, Frankreich). ■ Eine Studie von Wallon und Mitarbeitern kam zu dem Schluss, dass keine ausreichende Evidenz
dafür besteht, dass bei nachgewiesener Serokonversion die Therapie der Mutter fetale Infektionen verhindern kann oder dass die Prognose der Kinder sich dadurch verbessert.
Tertiäre Prävention (bei betroffenen Kindern): ■ Ziel: frühzeitige Identifizierung und Behandlung infizierter Kinder nach der Geburt ■ Methode: sehr engmaschige Überwachung der Kinder im Rahmen von Studien, um die beste Thera-
pie zu finden. Zu beachten: Die meisten Kinder sind bei Geburt unauffällig und zeigen erst im Entwicklungsverlauf Symptome.
nuierlich abnimmt, und zwar von 53% (1982–85) auf 35% (1999). Während derselben Zeiträume sank die KT von 0,08% auf 0,012%. Zwischen 1982 und 1999 wurden 28 Kinder mit KT identifiziert, nur 4 hatten einen klinisch nachweisbaren Befund. Das Screeningprogramm fand 1 Kind mit KT unter 2300 lebend geborenen Kindern (entspricht median 1,5/Jahr), was wesentlich unter den Erwartungen liegt. Klinische Befunde wurden bei 1 von 16 250 Neugeborenen gefunden (entspricht median 1 pro 4,5 Jahren). Ein retrospektives Datenreview aus der Lausanner Region zwischen 1995 und 2006 identifizierte 37 serologisch bestätigte KT-Fälle, was 1 von 2270 lebend geborenen Kindern entspricht. Nur 1 von 14 000 Lebendgeborenen zeigte in dieser neusten Erhebung Symptome einer KT.
Die bisherigen Strategien 1995 ging man davon aus, dass die primäre und sekundäre Prävention der KT die vielversprechendste Strategie sei, um die Zahl der Kinder mit KT zu reduzieren. Primäre Prävention wird dabei verstanden
als die Verringerung des Risikos, während einer Schwangerschaft an Toxoplasmose zu erkranken. Sekundäre Prävention sieht die Behandlung bei akuter Toxoplasmose einer Schwangeren vor (Kasten). Ein generelles Toxoplasmose-Screening wurde wegen der insgesamt niedrigen Inzidenz der Infektion in der Schweiz bereits in den Neunzigerjahren als nicht kosteneffektiv angesehen. Unter Berücksichtigung der schon damals niedrigen Fallzahl der Kinder mit KT erschien die Antikörpertestung in der Schwangerschaft am kosteneffektivsten. Die Zahl der wiederholten Bluttests im individuellen Fall blieb den Gynäkologen/Geburtshelfern überlassen; im Durchschnitt wurde zweimal während einer Schwangerschaft getestet (Daten der Santésuisse).
Bewertungen durch Eurotoxo
Die Panels von Eurotoxo analysierten: ■ die Bedeutung der Toxoplasmose in
Europa, ■ die unterschiedlichen nationalen Prä-
ventionsstrategien,
■ die Risikofaktoren für eine akute Toxoplasmose in der Schwangerschaft,
■ die Wirksamkeit der primären, sekundären und tertiären Prophylaxe,
■ die verfügbaren antiparasitären Substanzen und Wirksamkeit der Therapie sowie
■ die Verlässlichkeit, Qualität und potenziellen Risiken der Untersuchungsmethoden.
Wichtige Ergebnisse: ■ Niedrige Seroprävalenz: Die Seroprävalenz für Toxoplasmose bei jungen Frauen und die Inzidenz der KT variiert in Europa sehr stark, wobei in Nordeuropa die Prävalenzen deutlich niedriger liegen als in den Mittelmeerländern und in Städten niedriger als in ländlichen Regionen sind. Immigranten aus Asien und Afrika haben ein höheres Risiko als Einheimische, da in diesen Regionen die Toxoplasmose-Prävalenz gering ist.
■ Oraler Infektionsweg Der Infektionsweg über den MagenDarm-Trakt wird als der bedeutendste angesehen, wobei regionale Ernährungsgewohnheiten und Hygienestandards eine grosse Rolle spielen: Das grösste Risiko geht in allen untersuchten Zentren von ungenügend gekochtem oder rohem Fleisch aus. Humus und die Haltung einer jungen Hauskatze hat für die Übertragung kaum Bedeutung (entgegen häufigen Vermutungen).
■ Therapienutzen in der Schwangerschaft ohne Evidenz
Keine der über 3300 zugrunde liegenden Therapiestudien erfüllte die Einschlusskriterien für eine randomisierte, kontrollierte Studie zur Evidenzbestimmung. Die Experten kamen zum Schluss, dass weiterhin kein Beweis dafür vorliegt, dass eine pränatale Therapie der Mütter mit möglicher akuter Toxoplasma-Infektion tatsächlich zu einer Reduktion der Mutter-Kind-Übertragung führen kann. Sie empfehlen deshalb den Ländern, die die Therapie nicht routinemässig anwenden, auf ein Screening zu verzichten.
■ Sehr unterschiedliche Präventionsstrategien in Europa
Die Präventionsstrategien in europäi-
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SCHWERPUNKT
Übertragungsrisiko und Erkrankungsrisiko des Ungeborenen bei akuter Toxoplasmose während der mütterlichen Schwangerschaft. Während das Übertragungsrisiko für Toxoplasmose auf den Fetus (gelbe Kurve) mit steigender Schwangerschaftswoche zunimmt, ist das Risiko für schwere Folgedefekte nur im ersten Trimenon sehr hoch und sinkt bis zur 21. Woche steil ab.
schen Ländern variieren sehr stark und reichen von obligatorischem pränatalem Screening mit monatlichen bis dreimonatlichen Tests (Frankreich/Italien bzw. Österreich/Litauen, Slowenien) bis zum ausdrücklichen Verzicht auf ein Screening (Grossbritannien, Dänemark). Die letztgenannten Länder begründen die Ablehnung mit Nachteilen des Screenings: oftmals unnötige Therapien und Schwangerschaftsabbrüche, Stress und Verunsicherung der Eltern durch wiederholte Bluttests sowie prä- und postnatale Abklärungen. In den anderen europäischen Ländern existieren entweder keine offiziellen Richtlinien oder die formelle Empfehlung, kein Screening durchzuführen.
■ Wenig zuverlässige Antikörpertests Sowohl die für das Screening als auch die für die Diagnostik verwendeten Antikörpertests besitzen eine ungenügende Aussagekraft, gleichzeitig ist die Zuverlässigkeit mangelhaft. Die bei Nachweis spezifischer IgM- und IgG-Antikörper folgende Amniozentese (Sekundärprophylaxe) ist mit der Gefahr des intrauterinen Fruchttodes verbunden. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der zusätzlichen Totgeburten als Folge der Amniozentese die Zahl der verhinderten Fälle von konnataler Toxoplasmose signifikant übersteigt.
■ Unsicherheiten bei pränatalem Screening, fetaler Diagnostik und Therapie
Zu beachten sind auch die psychologi-
schen Konsequenzen des pränatalen Screenings für die Eltern, die infolge der Unsicherheiten (gehäuft falschpositive Resultate bzw. Fehldiagnosen) mit Ängsten zu kämpfen haben. Die intrauterine fetale Diagnostik einer kindlichen Infektion wird als unsicher wie auch das Neugeborenen-Screening betrachtet. Am zuverlässigsten ist die Detektionsrate mittels IgM- und IgG-Nachweis in den ersten beiden Lebenswochen. Auch für die postpartale Behandlung der Kinder fehlen Wirksamkeitsnachweise.
Die neuen Schweizer Empfehlungen
Die Schweizerische Arbeitsgruppe für konnatale Toxoplasmose kommt (wie Eurotoxo) zu dem Schluss, dass die Risiken des Screenings, der allfälligen Diagnostik und mütterlichen Therapie akuter Toxoplasmose in der Schwangerschaft den Nutzen übersteigen und zudem keine Kosteneffizienz der Massnahmen besteht. Die fehlende Evidenz bedeutet aber andererseits nicht unbedingt, dass eine Intervention oder eine Behandlung überhaupt keinen Effekt hat. Dieser Umstand macht es nicht einfach, eine völlig neue Empfehlung zu formulieren. Fest steht, dass Zweifel am bisherigen «wilden Screening» so erdrückend sind, dass ein Paradigmenwechsel für die KT sinnvoll wird. Die neuen Empfehlungen sehen vor: 1. Verzicht auf die serologischen Toxo-
plasmosetests vor und während der
Schwangerschaft aufgrund der gerin-
gen Inzidenz und noch geringeren
Morbidität der KT sowie der Risiken
möglicher Interventionen während ei-
ner Schwangerschaft
2. Intensivierung der primären Präven-
tion (Information der Frauen über die
evidenzbasierten Erkenntnisse zur KT
mit Vorsichtsregeln vor und während
der Schwangerschaft).
3. Beibehaltung der in der Schweiz be-
reits installierten KT-Surveillance-Pro-
gramme (Basel/Lausanne), damit der
Einfluss auf das veränderte ärztliche
Vorgehen rechtzeitig erfasst werden
kann. Symptomatische Kinder mit
postnatal diagnostizierter KT müssen
auch weiterhin behandelt werden, sol-
len aber in internationalen Studien
eingeschlossen sein, damit die ver-
schiedenen Therapiekonzepte mitein-
ander verglichen werden können.
Selbstverständlich lässt sich die neue
Strategie nicht von heute auf morgen
umsetzen. Vor allem sollen Schwangere,
bei denen zu Beginn der Schwanger-
schaft eine negative Toxoplasma-Serolo-
gie festgestellt wurde und weitere Tests
vorgesehen sind, nicht zusätzlich verunsi-
chert werden. Die Schweizerische Arbeits-
gruppe für Toxoplasmose geht davon
aus, dass die flächendeckende Umset-
zung der neuen Strategie noch ein bis
zwei Jahre braucht.
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Bärbel Hirrle (Redaktion)
und
Prof. Dr. med. Patrick Hohlfeld (Korrespondenzadresse) Chef du Département de Gynécologie-Obstétrique-Génétique CHUV, 1011 Lausanne E-Mail: patrick.hohlfeld@chuv.ch
vgl. Information für Patientinnen, S. 20
Quellen: 1. Rudin, C., Boubaker, K. et al. (Swiss Working Group on congenital Toxoplasmosis): Toxoplasmosis during pregnancy and infancy. A new approach for Switzerland. Swiss Me. Wkly 2008: 138 (suppl. 168): 1–8. 2. Hohlfeld, Patrick: Stirbt 2009 das Toxoplasmose-Screening? Powerpoint-Dokumentation zur Fortbildung am USZ, 11. 2008.
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