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Schwangerschaft und Geburt bei Jugendlichen in der Schweiz
Teil 2: Das Lausanner Modell – Konzeption und Organisation
Eine Schwangerschaft während der Adoleszenz stellt für die werdende Mutter, den Kindsvater sowie für die weitere Familie und die Betreuer eine grosse Herausforderung dar. Im Folgenden wird das multidisziplinäre Modell der Schwangerenbetreuung bei minderjährigen Frauen vorgestellt, welches am CHUV in Lausanne seit zehn Jahren praktiziert wird.
SAIRA-CHRISTINE RENTERIA
Ende der Neunzigerjahre wurde im Departement für Geburtshilfe und Gynäkologie am CHUV in Lausanne die multidisziplinäre Schwangerschaftsbetreuung Unité multidisciplinaire de santé des adolescents (UMSA) eingeführt. Der Kern des Netzverbundes besteht aus Jugendgynäkologinnen, Sozialarbeiterinnen und Hebammen, die eng mit öffentlichen Instanzen und anderen Partnern des Netzverbundes zusammenarbeiten (Abbildung 1 und 2).
Grundprinzipien des Lausanner Modells
Die Betreuung der jugendlichen Schwangeren basiert auf folgenden Grundprinzipien: Jeder Patientin soll die Möglichkeit gegeben werden, sich so gut wie möglich, sowohl physisch als auch emotionell, auf die bevorstehende Geburt, das Geburtsgeschehen und das Mutterwerden vorzubereiten. Das Vorgehen muss dabei auf ihre individuellen Bedürfnisse, Vorkenntnisse und auf die bestehende oder auch fehlende Beziehung zum Kindsvater abgestimmt werden. Oft geht es – gerade auch bei Migrantinnen – darum, grosse Kenntnislücken im Bezug auf Sexualerziehung und reproduktive Gesundheit zu schliessen. Eines der wichtigsten und unbestrittenen Ziele der Geburtsvorbereitung ist die Stimulierung der Mutter-Kind-Beziehung. Dabei soll der Adoleszenten Hilfe angeboten werden, wenn wie in den meisten Fällen ambivalente Gefühle bestehen.
oder beschleunigen. Es erscheint deshalb oft sinnvoll, bereits während der Gravidität oder spätestens im Postpartum eine pädopsychiatrische Begleitung anzubieten. Jugendliche, die bisher eine indizierte Psychotherapie immer wieder zurückgewiesen haben, stehen erfahrungsgemäss einem Angebot positiv gegenüber, wenn es auf das werdende Kind bezogen ist. Aus der Sicht der «perinatalen Psychiatrie» ergibt sich dabei die Gelegenheit, alte Eltern-KindKonflikte zu besprechen und Wiederholungsschemata vorzubeugen. Dies gilt besonders auch für Opfer von Kindsmisshandlung und sexuellen Übergriffen. Sofern dies dem Wunsch der Adoleszenten entspricht, wird die frühzeitige Vorbereitung einer bestmöglichen Mutter-Kind-Beziehung, am besten unter Einbezug des Kindsvaters, angestrebt. Sollte ein Zusammenleben von Kind und Mutter ohne spezielle Vorkehrungen vorerst nicht möglich sein, ist es unter gewissen Bedingungen trotzdem möglich, diese Beziehung in einem geschützten Rahmen zu fördern. Nicht zu sehr belastete, motivierte Jugendliche mit wenigstens minimaler Fähigkeit zur Autonomie und selbstständiger Betreuung ihres Kindes können mit dem Neugeborenen Aufnahme in einem Wohnheim mit erzieherischer Betreuung finden. In schwereren Fällen (Drogenabhängigkeit, Verhaltenstörungen der Mutter oder psychiatrische Erkrankung) ist die Variante der spitalinternen Mutter-Neugeborenen-Betreuung zu erwägen.
Psychotherapeutische Begleitung bei hoher Konfliktbelastung Die Schwangerschaft kann einerseits – besonders bei jungen Mädchen mit bestehenden Beziehungsstörungen oder konfliktbelasteten familiären Beziehungen –, eine Annäherungsperiode zur Herkunftsfamilie einleiten, andererseits kann die Schwangerschaft aber auch den Ablösungsprozess verstärken
Einschaltung der Vormundschaftsbehörde Nur in den seltensten Fällen oder wenn die junge Mutter es wünscht wird das Kind frühzeitig der mütterlichen Obhut entzogen. Damit die Vormundschaftsbehörde sich nicht gezwungen fühlt, in letzter Instanz zu solchen Sicherheitsmassnahmen zu greifen, ist es unabdingbar, sie so früh wie möglich zu informieren. Somit kann die Zeit vor der Geburt für eine
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ressourcenorientierte Evaluation genutzt werden, während der auch das Betreuerteam die Gelegenheit hat, psychosoziale und klinisch-therapeutische Überlegungen in den Entscheidungsprozess einfliessen zu lassen. Infolge der vermehrten gesellschaftlichen Akzeptanz der Adoleszentenschwangerschaften wählen Jugendliche inzwischen selten die Freigabe ihres Kindes zur Adoption. Bei entsprechenden Überlegungen werden sie auch in diesen Fällen psychotherapeutisch begleitet.
Sozialpädagogische Aufgaben Ein weiteres wichtiges Ziel der psychosozialen Betreuung der schwangeren Jugendlichen ist ihr Schulabschluss und das Anstreben einer beruflichen Ausbildung. In einigen Fällen wird es auch darum gehen, ein über mehrere Generationen festgefahrenes Wiederholungsschema zu vermeiden, sodass die junge Mutter, ihr Kind und der eventuelle Partner von affektiven oder finanziellen Notständen und Bildungsdefiziten der mütterlichen (elterlichen) Herkunftsfamilie befreit werden. Schliesslich sollte der sehr jungen Mutter ein Freiraum durch teilzeitige Kinderbetreuung (Bezugspersonen oder Kinderkrippe) gelassen werden, damit sie Aktivitäten sorgloser Adoleszenter nachgehen kann. Die werdenden Grosseltern sollten so früh wie möglich mit einbezogen werden. Wichtig ist, dass jede Generation die Möglichkeit hat, ihre spezifische Rolle zu erfüllen. Grosseltern müssen angehalten werden, ihre minderjährigen Kinder nicht aus ihrer neu zu erlernenden Elternrolle zu verdrängen. Diese nicht seltene Tendenz muss frühzeitig erkannt und angesprochen werden.
Die Organisation der Schwangerenbetreuung bei Adoleszenten
Die ersten Phasen der Betreuung der adoleszenten Schwangeren hängen vom Zeitpunkt des Erstkontakts ab. Grenzsituationen sind solche, bei denen eine Jugendliche bereits vor der Konzeption ihren Kinderwunsch (oder nur Schwangerschaftswunsch?) klar formuliert hat und solche, bei denen eine Jugendliche notfallmässig mit dem – oft unter aben-
Organisation des Betreuungsprozesses bei jugendlichen Schwangeren am CHUV Lausanne (Dép. de Gynécologie et Obstétrique)
Familie der Patientin/des Partners Ressourcen, Begleitung
Jugendgynäkologische Sprechstunde der Universitätsfrauenklinik: geburtshilfliche Betreuung bis zur Geburt
Adoleszenten
Hebamme
SS-Vorsorge
Frei praktizierende Hebammen Säuglingsschwester
Kindsvater
Hausarzt
Multidisziplinäre Jugendsprechstunde:
mögliche Begleitung/ Betreuung des Partners/Kindsvaters
Jugendamt
Spitalinterner Sozialdienst Vormundschaftsbehörde Anerkennung der Vaterschaft Mütterheim finanzielle Hilfe/Babyausstattung
Pädopsychiater
Team für psychosoziale Prävention im Bereich Geburtshilfe und Pädiatrie
Abbildung 1: Vor der Entbindung
Familie der Patientin/des Partners Ressourcen, Begleitung
Jugendgynäkologische Sprechstunde der Universitätsfrauenklinik:
nachgeburtliche Betreuung
Adoleszenten Kindsvater
Hausarzt
Multidisziplinäre Jugendsprechstunde:
mögliche Begleitung/ Betreuung des Partners/Kindsvaters
Jugendamt
Netzverbund der niedergelassenen Hebammen Säuglingsschwester
Pädiater
Pädopsychiater
Vormundschaftsbehörde Anerkennung der Vaterschaft Mütterheim Erziehungs-, finanzielle Hilfe
Jugendgynäkologische Sprechstunde: (Beraterin für reproduktive Gesundheit und Sexualität)
Leben zu dritt (Sexualität), Coping mit Schule, Beruf
Abbildung 2: Nach der Entbindung
teuerlichen Bedingungen – gerade geborenen Kind ins Spital eingeliefert wird. Nach dem (erfolgten oder in die Wege geleiteten) ersten geburtshilflichen Vorsorgetermin einschliesslich Beratungsgespräch wird mit der werdenden Mutter abgeklärt, in welcher Form die Familie oder der Vormund informiert und im Weiteren einbezogen werden kann. Die oft noch fehlende gefühlsmässige Autonomie der Jugendlichen ist mit Ambivalenzen und späteren Meinungswechseln verbunden. Dabei ist, besonders bei sehr
jungen Mädchen, ein frühzeitiger Kontakt zur Familie respektive zum Vormund sinnvoll, um schmerzhaften Situationen vorzubeugen.
Multidisziplinäre Aufgabenteilungen In allen Fällen (selbst in der «Präkonzeption»!) wird die Adoleszente prioritär mit einer Sozialarbeiterin der Maternité in Kontakt gebracht. Ihr Beratungsauftrag ist es, mit der Jugendlichen die reelle Situation mit allen Optionen zu klären und sowohl die Brücke zum Jugendamt als
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auch zum Vormundsamt zu finden. Bei Ambivalenz oder bei auch komplexen Paarbeziehungen wird die Familienplanungsberaterin der multidiszipinären Adoleszentensprechstunde bis zum Anfang des zweiten Schwangerschaftstrimenons mit einbezogen. Ab der 20. Schwangerschaftswoche wird die Begleitung durch die spitalinterne beratende Hebamme iniziert. Ihre Aufgabe ist es, die Mutter-Kind-Beziehung zu fördern, spezifische familiäre und persönliche Risikokonstellationen anzusprechen und die eigentliche Geburtsvorbereitung (in der Gruppe, als Paar oder individuell) zu organisieren. Der Einbezug einer frei praktizierenden Hebamme hat den Vorteil, dass diese auch vor Ort, zum Beispiel in der Familie, sowohl in Krisensituationen als auch präventiv präsent sein kann und ihr damit eine für den therapeutischen Netzverbund sehr wertvolle Dimension zukommt. Das involvierte Betreuerteam (der spitalinterne und spitalexterne Netzverbund) findet sich in regelmässigen Abständen zusammen, um die grossen Betreuungslinien zu definieren und an der Entscheidungsfindung teilzuhaben. Dabei wird die Situation der jungen Frau mit den psychosozialen Risiken im dritten Schwangerschaftstrimenon im Rahmen der interdisziplinären Gruppe für psychosoziale Prävention im Mutter-Kind-Bereich vorgestellt und protokolliert (Fallvorstellung und -diskussion). In dieser Gruppe finden sich auch Vertreter der geburtshilflichen, pädiatrischen (der Neonatologie und Kinderschutzgruppe), psychiatrischen und kinderpsychiatrischen Abteilungen (inklusive der Sprechstunde für Substanzenmissbrauch) (Abbildung 1 und 2). Dieses Vorgehen erlaubt eine lückenlose Zusammenarbeit zwischen allen Berufsgruppen, denn es geht darum, so weit wie möglich zu vermeiden, dass die Jugendliche durch widersprüchliche Entscheide verunsichert wird. Die für ihren Teil verantwortlichen Betreuer können somit sichergehen, dass alle Entscheide nach bestem Wissen und in Zusammenarbeit mit der Adoleszenten und ihrem Beziehungsumfeld getroffen werden. Bei Spitalaustritt stösst zusätzlich eine Kinderpflegerin zum Team. Ihre Tätigkeit wird bis Ende des zweiten Lebensjahrs des Kindes fortgesetzt. Sie wird zusam-
men mit dem Pädiater, dem Vertreter der Vormundschaftsbehörde und eventuell dem Vertreter des Jugendamts zum Garant der Betreuungsstrategie (oder falls nötig deren Anpassung). In der Verantwortung des Vormunds liegen Wohnort und Betreuungsform des Kindes sowie (falls nötig und möglich) die Abklärung der Vaterschaft. Die geburtshilfliche sowie die postpartale Betreuung wird durch die jugendgynäkologische Sprechstunde in der multidisziplinären Adoleszentensprechstunde oder in der Maternité sichergestellt. Themen wie Kontrazeption, Sexualität nach der Geburt und Prävention im weitesten Sinne werden von der Familienplanungsberaterin oder auch von Beraterin für sexuelle und reproduktive Gesundheit aufgenommen.
Schlussbemerkungen
In der Begleitung schwangerer Adoleszenten ist neben der altersangepassten geburtshilflichen Betreuung eine psychosoziale Beratung erforderlich, die speziell ausgebildete Fachpersonen verlangt. Die Beratung sollte so früh wie möglich auch zusammen mit der Vormundschaftsbehörde erfolgen, sodass wichtige Entscheide wie die Wahl des Vormundes für das Kind gemeinsam getroffen werden können. Der Vormund ist von Gesetzes wegen bei minderjährigen Müttern und Vätern oder alleinstehenden minderjährigen Müttern erforderlich. In gewissen Fällen kann sich die Vormundschaftsbehörde gezwungen sehen, solche Entscheide auch gegen den Willen der jungen Mutter zu treffen, falls diese die Grundbedürfnisse ihres Kindes wie Ernährung, Betreuung, Erziehung, affektive Stabilität und Schutz nicht unmittelbar zu befriedigen vermag. Oft werden auch Kompetenzen im Bereich der Mediation gefordert. Besonders bei Gewalt und Unverständnis im familiären Umfeld oder in der Partnerschaft liegt es in der Verantwortung der medizinischen oder paramedizinischen Betreuer, die Jugendliche zu beschützen und ihre Interessen und die ihres Kindes wahrzunehmen. Die Begleitung der Adoleszenten kann sich aufgrund der starken durch die Schwangerschaft aufkommenden Spannungen und der Diskrepanz zwi-
schen Wunschdenken und Realität zeit-
weise als schwierig erweisen. Sie erfolgt
deshalb am besten im Team, da nur so
eine breit gefächerte Evaluation und
auch die Unterstützung der beteiligten
Fachleute sichergestellt ist.
Mit diesem Vorgehen ist die beste Ga-
rantie gegeben, dass jede Situation indi-
viduell objektiv reflektiert wird, und dass
wichtige Entscheidungen vom Team mit-
getragen werden.
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Dr. med. Saira-Christine Renteria Leitende Ärztin Unité de Gynécologie Psycho-Sociale Consultation de gynécologie pédiatrique et de l’adolescence Dép. de Gynécologie et Obstétrique Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) 1011 Lausanne E-Mail: saira-christine.renteria@chuv.ch
Literatur bei der Autorin.
Vgl. Schwangerschaft und Geburt bei Jugendlichen in der Schweiz, Teil 1: Besonderheiten im Beratungs- und Betreuungsprozess, in: Gynäkologie 2008; 6: 10–12.
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