Transkript
SCHWERPUNKT
Über 35 Jahre und Kinderwunsch
Problematik und Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft
Kinderwunsch bei Frauen nach dem 35. Lebensjahr ist ein häufiges Thema in der Praxis. Da die Fertilität mit zunehmendem Alter überproportional stark abnimmt, ist es sinnvoll, die erwünschte Schwangerschaft vor dem 35., sicher aber deutlich vor dem 40. Lebensjahr anzustreben. In der Beratung der Frauen ist darauf hinzuweisen, dass die Chancen auf eine Schwangerschaft auch mit modernen reproduktionsmedizinschen Techniken nach diesem Alter deutlich stärker sinken, stärker als vielfach angenommen.
JEAN-CLAUDE SPIRA
In der Schweiz gebären mehr als ein Viertel der Frauen nach dem 35. Geburtstag. Es gibt aus medizinischer Sicht im Allgemeinen keinen Grund, vom Wunschkind nach dem 35. Altersjahr abzuraten. Zu beachten ist aber die seit Jahrzehnten markante Verschiebung des Kinderwunsches in immer spätere Lebensjahre und die deshalb resultierende stark abnehmende Fertilität. Häufig wird diese Tatsache von den Frauen (bzw. Paaren) heute übersehen.
Schwangere sind im Schnitt 31 Jahre alt
Das Durchschnittsalter der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes stieg in den letzten 30 Jahren in der Schweiz kontinuierlich an: War die Mutter 1977 im Schnitt 27,7 Jahre, so war sie 2007 bei der ersten Geburt 30,8 Jahre alt. Das Bundesamt für Statistik berechnete für das Jahr 2007, dass Schweizerinnen aktuell 1,33 Kinder in ihrem Leben gebären. Zum Ver-
Abbildung 1: Wie schön: Das Baby ist da und gesund! Jean-Claude Spira weist seine Patientinnen von Zeit zu Zeit darauf hin, dass später Kinderwunsch (bei Frauen um die 36) nicht selten unerfüllbar ist, auf natürlichem Wege, aber auch über reproduktionsmedizinische Techniken. Sehr häufig unterschätzen die Frauen dieses Risiko, so seine Erfahrung.
gleich: 1950 bis 1971 hatten Frauen in der Schweiz im Schnitt 2 bis 2,7 Kinder, seither sind es weniger als 2 Kinder. Für einen Generationenerhalt sind 2,1 Kinder pro Frau nötig. Bei gleichbleibender Entwicklung wie heute – bezogen auf Schweizerinnen, nicht auf Migrantinnen – würde sich die Schweizer Bevölkerung in den nächsten 200 Jahren auf zirka 2% der aktuellen Wohnbevölkerung vermindern, so die Berechnungen. Unberücksichtigt ist hier die Migration. Bei über 18 000 der 74 500 Geburten in der Schweiz im Jahr 2007 war die Mutter zwischen 35 und 39 Jahre alt. Bei über 6000 Geburten war die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt 40 bis 44 Jahre. Das Durchschnittsalter der Mütter bei der ersten Geburt stieg von 2001 bis 2007 weiter an, und zwar von 30 auf 30,8 Jahre. Bei Frauen ab 35 Jahren ist seit 2001 die Zahl der Geburten um 31% angestiegen.
Ursachen: veränderte Gesellschaft Die Gründe für den späten Kinderwunsch sind vielfältig: Frauen heiraten in der Schweiz heute mit durchschnittlich 30 Jahren, im Jahr 1970 waren sie im Schnitt 25 Jahre alt. Viele Paare verschieben den Zeitpunkt einer Wunschschwangerschaft auf einen späteren Zeitpunkt, um dem Nachwuchs mehr finanzielle Sicherheit bieten zu können. Die Scheidungsrate ist hoch und häufig besteht auch in einer zweiten Ehe noch der Wunsch nach einem Kind. Oft wird der Wunschpartner erst in einem «reiferen Alter» kennengelernt. Obwohl allgemein bekannt ist, dass mit zunehmendem Alter die Fertilität abnimmt, werden das Ausmass und das Alter des Auftretens der Fertilitätsminderung weithin unterschätzt. Presseberichte von Stars, die in hohem Alter Mutter werden, hinterlassen den Eindruck altersunabhängiger Fertilität. Dabei ist oft für den Laien nicht erkennbar, dass es sich um Eizellspendezyklen handelt. (Beispiel: der kürzlich erschienene Zeitungsbericht einer 70-jährigen indischen Gebärenden!)
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SCHWERPUNKT
Beratungsaufgabe in der Praxis
In der Beratung der jungen Frauen ist Folgendes zu berücksichtigen: Ist eine Frau 20 Jahre alt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Monats schwanger zu werden, 20%. Bei der 40-jährigen Frau sinkt die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Schwangerschaft auf weniger als 5% pro Monat. Nach dem 44. Altersjahr werden nur sehr wenige Frauen schwanger: Die Wahrscheinlichkeit für einen positiven Schwangerschaftstest liegt deutlich unter 1% pro Monat. Mit anderen Worten: Bereits mit 35 Jahren ist eine Frau nur noch halb so fruchtbar, wie mit 25 Jahren. Mit 40 Jahren halbiert sich die Chance für den Eintritt einer Schwangerschaft noch einmal um die Hälfte. Wegen der Abnahme der weiblichen Fruchtbarkeit nach dem 35. Lebensjahr sollen Sterilitätsabklärungen bei Frauen ab diesem Alter bereits nach einem Jahr ungeschützten Geschlechtsverkehrs erfolgen. Während einer gynäkologischen Beratung bei über 30-jährigen kinderlosen Frauen ist es sinnvoll, den Kinderwunsch aktiv zu erfragen, um die Patientin darauf hinzuweisen, dass die Fertilität mit zunehmendem Alter stark abfällt. Auch moderne reproduktionsmedizinische Techniken können insbesondere bei Frauen ab 40 Jahren sehr oft keine Schwangerschaft mehr erreichen, sodass viele dieser «älteren» Paare kinderlos bleiben werden. Zwei Drittel der 40- bis 44-jährigen verheirateten Frauen und 30% der 35- bis 39-jährigen Frauen, die sich Kinder wünschen, werden kinderlos bleiben. Die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft sowie die Wahrscheinlichkeit, unfruchtbar zu bleiben, sind in Abbildung 2 dargestellt.
Abbildung 2: Wahrscheinlichkeitsberechnungen für das Eintreten einer Schwangerschaft innerhalb von 2 Jahren respektive der Unfruchtbarkeit bei Frauen zwischen 20 und 50 Jahren: Um das 40. Lebensjahr liegt die Chance pro Monat für das Eintreten einer Schwangerschaft unter 5%, nach dem 44. Altersjahr deutlich unter 1% pro Monat
(adaptiert nach Helen A.Carcio).
Wahrscheinlichkeit auf eine Schwangerschaft Wahrscheinlichkeit auf Infertilität
mit zunehmendem Alter weniger funktionstüchtig sind. Eine andere Theorie postuliert, dass mit jeder Zellteilung das Risiko einer Chromosomenfehlverteilung zunimmt. Da Eizellen, die im fortgeschrittenen Alter heranwachsen, mehr Zellteilungen durchlaufen haben, treten die nummerischen Chromosomenstörungen mit zunehmendem Alter der Frau gehäuft auf. Die Chromosomendefekte der Eizelle haben folgende Konsequenzen (vgl. Tabelle/Abbildung 3) : ■ das Risiko von Trisomie 21 steigt über-
proportional nach dem 35. Altersjahr der Mutter ■ das Risiko von Spontanaborten steigt nach dem 35. Altersjahr der Mutter ■ die Wahrscheinlichkeit der Befruchtung sinkt mit zunehmendem Alter der Frau.
Eizellquantität In der 20. Schwangerschaftswoche hat ein weiblicher Embryo etwa 7 Millionen
Eizellen. Zum Zeitpunkt der Geburt (20 Wochen später) sind noch 1 bis 2 Millionen Eizellen vorhanden. Bei der Menarche hat ein Mädchen etwa 300 000 Oozyten. Während des ganzen Lebens der Frau ovulieren insgesamt etwa 400 Eizellen. Die übrigen Eizellen degenerieren oder atresieren. Von der Geburt bis zur Menopause verliert eine Frau somit kontinuierlich Hundertausende von Oozyten. Der Verlust von Oozyten ist hormonunabhängig und wird weder durch eine Schwangerschaft, durch die Stillzeit noch durch die Einnahme von Ovulationshemmern beeinflusst. Der Eizellverlust ist nicht aufhaltbar. Neben Chemotherapie, Radiotherapie und Ovaroperationen beschleunigt der Nikotinabusus den Eizellverlust. Bei der Grösse des initialen Follikelpools und bei der Eizellabbaurate bestehen daneben individuelle Unterschiede, sodass die früh- respektive vorzeitige Menopause oft familiär gehäuft auftritt.
Abbildung 3: Follikelwachstum bis zur Menopause. Wie hoch aber ist die Eizellqualität?
Fertilitätsmindernde Faktoren
Eizellqualität Bei der Zellteilung der Oozyten im Eierstock treten mit steigendem Alter der Frau zunehmend häufiger nummerische Fehlverteilungen der Chromosomen auf. Auch bei sonografisch feststellbarem gutem Follikelwachstum sind somit nach dem 35. Altersjahr die Oozyten weniger fertil, da die Eizellen öfter Aneuploidien aufweisen. Eine Erklärung dafür ist, dass die Reparaturmechanismen im Eierstock
Tabelle:
Chromosomendefekte der Eizelle und die Risiken je nach mütterlichem Alter
Alter
26–35 Jahre 36–38 Jahre 39–43 Jahre
Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft 25% 19% 6%
Wahrscheinlichkeit eines Aborts 15% 30% über 50%
Wahrscheinlichkeit einer Trisomie 21 1/600 1/200 1/50
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SCHWERPUNKT
Die Eizellquantität (ovarielle Reserve) kann mittels FSH-Bestimmung im Serum in den ersten Zyklustagen und der sonografischen Bestimmung der Anzahl der antralen Follikel (kleiner als 1 cm, Zyklusanfang) bestimmt werden. In Zukunft wird sich zeigen, ob mittels der Anti-Müller-Hormon-(AMH-)Bestimmung neben der Eizellquantität auch die Eizellqualität beurteilt werden kann. AMH-Werte von unter 1 ng/ml sind ein klarer Hinweis auf eine deutlich verminderte ovarielle Reserve.
Erkrankungen im Leben der Frau Da das Risiko, eine fertilitätsbeeinträchtigende gynäkologische oder nicht gynäkologische Krankheit zu erleiden, mit zunehmendem Alter steigt, kann die Erfüllung des Kinderwunsches nach dem 35. Lebensjahr auch aus diesen Gründen zusätzlich erschwert sein. Häufige Ursachen sind die sexuell übertragbaren Chlamydien- und Gonokokkeninfektionen, welche zu tubarer Sterilität führen können. Weitere fertilitätsvermindernde gynäkologische Krankheiten sind Endometriose, Myome wie auch Karzinome (Mammakarzinom), welche
vermehrt mit zunehmendem Alter der Frau auftreten.
Die «biologische Uhr» bei Männern Auch bei Männern vermindert sich die Fertilität mit zunehmendem Alter. Die Verminderung ist jedoch weniger ausgeprägt als bei Frauen. Die Ursachen: die Spermienmorphologie verschlechtert sich, die Spermienmotilität und die Hodengrösse nehmen ab. Ist ein Mann über 40 Jahre alt, vermindert sich dadurch für die Partnerin die Wahrscheinlichkeit pro Monat schwanger zu werden, unabhängig vom Alter der Frau. Mit zunehmendem Alter des Mannes steigt wahrscheinlich auch das Risiko eines Aborts. Bisher wenig untersucht sind Libido- und vor allem Erektionsstörungen in Abhängigkeit vom Alter der Männer. Dieser Faktor wird heutzutage noch stark unterschätzt.
Erhöhtes Risiko: Schwangerschaft nach 35
Das Risiko für einen Abort und das Risiko für eine chromosomale Störung ist nach dem 35. Lebensjahr erhöht. Ab dem 35. Altersjahr wird eine Schwangerschaft als
Risikoschwangerschaft betrachtet, da bei «älteren Schwangeren» vermehrt Frühgeburten, Präeklampsien, Plazenta praevia sowie Gestationsdiabetes auftreten. Öfter als bei jüngeren Frauen erfolgt die Geburt mittels Sectio caesarea. Zwillingsschwangerschaften treten gegen Ende der Geschlechtsreife spontan vermehrt auf. Zu Mehrlingsschwangerschaften kommt es aber vor allem im Zusammenhang mit Sterilitätstherapien. Mehrlingsschwangerschaften mit ihren erhöhten Risiken und dem Frühgeburtsrisiko bedeuten eine besondere Belastung bei «älteren Schwangeren» (Durchschnittsalter der Frau bei IVF/ICSI in der Schweiz 2007: 35,7 Jahre, Partner: 38,4 Jahre). Zudem ist in vielen Fällen der Wechsel vom aktiven Berufsleben zur Mutter von Mehrlingen auch psychologisch schwierig, speziell für Frauen, die lange erfolgreich berufstätig waren. ■
Dr. med. Jean-Claude Spira Kinderwunschzentrum Basel Schifflände 3 4051 Basel E-Mail: info@drspira.ch Internet: www.kinderwunschzentrum.ch
Literatur beim Verfasser.
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