Transkript
SCHWERPUNKT
Die chronisch untergewichtige Patientin
Spannungsfeld Essstörungen in der gynäkologischen Praxis
Ein zunehmender Teil der jungen Frauen in der Schweiz ist chronisch untergewichtig, dies muss jedoch nicht in jedem Fall Mangelernährung bedeuten. Problematisch ist die Situation bei manifesten Essstörungen, weil vielfältige Krankheitsrisiken, Fertilitätsstörungen, Schwangerschaftskomplikationen bis zu Todesfällen aus der massiven Mangelernährung resultieren können. Der Frauenarzt/die Frauenärztin kann wertvolle Hilfe bei der Erkennung und Begleitung dieser Frauen leisten.
BETTINA ISENSCHMID
Rund 20% der Frauen in der Schweiz, vor allem diejenigen zwischen 15 und 29 Jahren, haben einen BMI < 20 kg/m2, wie aus den Angaben des Bundesamtes für Statistik hervorgeht (www.bfs.admin.ch). Wer untergewichtig ist, ist nicht automatisch mangelernährt. Konstitutionelles oder wachstumsbedingtes Untergewicht kann durchaus auch zu einer klinischen Fragestellung werden. In der Differenzialdiagnose von Untergewicht und Mangelernährung muss jedoch bei Patientinnen aller Altersgruppen zunehmend an das Vorliegen einer Essverhaltensstörung gedacht werden. Die Problematik der Essstörungen Die Pathogenese von Essstörungen ist immer multifaktoriell. Neben genetischen Faktoren können psychologische Merkmale wie geringes Selbstbewusstsein und Perfektionsdrang sowie soziale Anforderungen wie Rollen- und Körperideale oder auch Leistungssport Auslöser sein. In der Lebensgeschichte der Betroffenen finden sich nicht selten Gewalt und Missbrauch, auch innerhalb der Familie. Die sozialen Konstellationen sind oft von einem Mangel an Autonomie und leistungsunabhängiger Wertschätzung geprägt. Bezüglich Verlauf und Prognose stellen die klassischen Essstörungen Anorexie und Bulimie sehr ernsthafte Krankheitsbilder dar. Gemäss den zur Verfügung stehenden Daten kommt es nur bei der Hälfte zu einer «Heilung», während bei einem Viertel lediglich eine Besserung, bei einem Viertel jedoch eine Chronifizierung oder Verschlechterung eintritt (1). 5 bis 10% der Betroffenen sterben innerhalb von zehn Jahren nach Diagnosestellung: Die Todesursachen sind vor allem Elektrolytstörungen mit fatalen Kardioarrhythmien, Infektionen, Suizide sowie progressive Niereninsuffizienz (2). Vor diesem Hintergrund ist bei diagnostizierter Essstörung die rasche und adäquate Intervention für alle Bezugspersonen zentral. Für Mädchen und Frauen stellt die hausärztliche, aber insbesondere die frauenärztliche Praxis ein ideales Forum für Früherkennung und erste Behandlungsschritte dar (3). Besteht Anlass, ein problematisches Essverhalten zu vermuten, so müssen verschiedene Essstörungen in Betracht gezogen werden. Neben der Magersucht und der Bulimie stehen heute auch Erscheinungsbilder wie die Orthorexie, ebenso ständiges Diäthalten (Restrictive Eating) und süchtiges Sporttreiben (Exercise Addiction) zur Diskussion. Auch existieren verschiedene Misch- und Übergangsformen zwischen den einzelnen Essstörungen. Diagnostische Kriterien Anorexia nervosa (Magersucht) Bei dieser Erkrankungsform bestehen ein selbst herbeigeführter oder aufrechterhaltener Gewichtsverlust, meist Untergewicht (BMI < 18 kg/m2), sekundäre endokrine und metabolische Veränderungen, ein Ausfall der Hypophysen-Gonaden-Achse mit Amenorrhö, Störung der Körperselbstwahrnehmung mit Angst vor Gewichtszunahme, aktive Massnahmen zur Gewichtsreduktion sowie das Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbestätigung durch die weitere Gewichtsabnahme (u.a.) (4). Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) Zum klinischen Bild dieser Form gehören die ständige gedankliche Beschäftigung mit Figur und Gewicht, regelmässige Kontrollverluste mit Heisshungeranfällen (binges), dazu kompensatorische Massnahmen (purging) wie Erbrechen, Abführen, Ruminieren, körperliche Aktivität, Fastenphasen sowie Gefühle von Scham, Schuld und Selbstekel. Das Ge- 6 GYNÄKOLOGIE 5/2008 SCHWERPUNKT wicht liegt meist an der unteren Normgrenze oder im untergewichtigen Bereich (4). Weitere Erscheinungsformen: Orthorexia nervosa Betroffene verfolgen selbst auferlegte, komplexe Ernährungsvorschriften; Mahlzeiten werden über längere Zeit im Voraus geplant. Der vermutete Gesundheitswert ist prioritär, der Genuss am Essen verschwindet. Die Auswahl der «erlaubten Lebensmittel» verringert sich zunehmend. Es wird eine «Überlebensration erlaubter Lebensmittel» mitgeführt, da aus Furcht vor Fett, Chemikalien (u.a.) die normalerweise erhältlichen Lebensmittel nicht gegessen werden können. Bei Verletzung der Essensregeln kommt es zu intensiven Versagens- und Schuldgefühlen, Bestrafung mit noch strikteren Essensregeln oder Abstinenz. Teilweise stellt sich ein Selbstgerechtigkeits- und Überlegenheitsgefühl denjenigen Menschen gegenüber ein, die sich nicht im gleichen Masse selbst kontrollieren. Die Störung kann religionsartige Ausmasse annehmen im Sinne einer Missionierung (man spricht von «Foodumentalismus», angelehnt an «Fundamentalismus») (5). Exercise Addiction Das Motiv, Ausdauersport zu betreiben, ist zum zentralen Motiv mit Fixierungscharakter geworden. Der Ausdauersüchtige will sich dadurch «gut fühlen», Entzugssymptome und Erledigungszwang stellen sich abwechselnd ein. Dabei wird immer höhere Beanspruchung benötigt und toleriert. Körperliche Warnsignale oder Überlastungsanzeichen werden missachtet; in der Folge treten körperliche Schädigung, Missachtung von Verletzungen bis zur Lebensgefahr auf. Das soziale Leben zerfällt, häufig kommt es zur Zerrüttung der Ehe respektive zum defizitären Wahrnehmen von Verantwortung. Schliesslich kontrolliert das sportbezogene Verhalten die Person statt umgekehrt (6). Differenzialdiagnose und Symptome Die in Tabelle 1 aufgeführten Befunde und Beobachtungen können als Warnsignale für Essverhaltensstörungen dienen. Sie sind jedoch nur in Kombination und im Verlauf für die Diagnosestellung aussagekräftig genug. Besonders zu beachten: Die Ergebnisse von Laboruntersuchungen sind auch bei ausgeprägtem Krankheitsbild häufig längere Zeit noch weitgehend normal (7). Tabelle 2 stellt typische Laborbefunde bei protrahiertem Verlauf dar. Bei anhaltendem oder zunehmendem Untergewicht müssen die folgenden Erkrankungen konkomitierend oder ursächlich in Erwägung gezogen respektive ausgeschlossen werden: chronisch konsumierende Erkrankungen wie Malignome, Tbc, Aids, Endokrinopathien wie Hyperthyreose, Hypophysenvorderlappeninsuffizienz, Diabetes mellitus Typ I, Malabsorptionssyndrome wie Morbus Crohn, Gluten- oder Laktoseintoleranz, andere psychiatrische Erkrankungen wie schizophreniforme Psychosen mit Vergiftungswahn oder Depressionen mit Inappetenz, Substanzmissbrauch (Kokain, Amphetamine, Laxanzien etc.), Äthyl- oder Opiatabhängigkeit. Die typische Körperwahrnehmungsstörung führt dazu, dass die Erkrankten alles unternehmen, um ihr Gewicht zu re- Zugenommen? Abgenommen? Die ständig bohrende Frage, die permanente Angst vor Gewichtszunahme, der mehrmals tägliche Gang auf die Waage sind typisch für Frauen mit manifesten Essstörungen. Schwere gesundheitliche Risiken durch Mangelernährung sind unausweichlich die Folge. Tabelle 1: Klinische Anzeichen für eine Essstörung ■ Abmagerung oder starke Gewichtsschwankung ■ abwertende Bemerkungen über Figur und Gewicht ■ zwanghafte Diäten, obwohl das Gewicht normal oder zu niedrig ist ■ Vernarbungen auf Fingern oder Handrücken (Russell-Zeichen) ■ wunde Mundwinkel, gerötete Konjunktiven, Zahnschmelzerosionen ■ Zyklus- und Fertilitätsstörungen, Osteoporose, Minderwuchs ■ Verdauungsbeschwerden, Verstopfung, Refluxösophagitis, Analprolaps ■ intensives Interesse an gesunder Ernährung, Mitführen eines Kalorienlexikons ■ genaue Unterscheidung zwischen «verbotenen» und «erlaubten» Nahrungsmitteln ■ Kälteempfindlichkeit, Blauverfärbung von Finger und Zehen ■ Schwindel und Kollapsneigung, Bradykardie, verlängerte QT-Zeit im EKG ■ Lanugobehaarung am Körper, Ausfall des Kopfhaars und der geschlechtstypischen Körperbehaarung ■ Hamsterbacken infolge geschwollener Speicheldrüsen (Sialadenose) ■ Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisprobleme ■ Muskelkrämpfe ■ verleugnete körperliche Erschöpfung und Schwächeanfälle ■ Frage nach oder Konsum von Medikamenten, die das Abnehmen unterstützen ■ Rückzug aus Klasse, Freundeskreis oder Familie ■ Unzuverlässigkeit und Ablehnung vieler Menschen ■ übertriebene körperliche Betätigung ■ starke Stimmungsschwankungen, Konfliktängste ■ bei Bulimie manchmal delikthaftes Verhalten (Stehlen von Nahrungsmitteln oder Geld für Anfälle, Verschuldung) GYNÄKOLOGIE 5/2008 7 SCHWERPUNKT Tabelle 2: Charakteristische Laborbefunde bei einer Essstörung: ■ Hypokaliämie ■ Hypoglykämien ■ Ferritin- und Vitamin B12-Mangel ■ hypophysärer Hypogonadismus ■ erhöhte Kortisolwerte ■ Schildrüsenhormone: TSH und fT4 normal- wertig, T3 tiefwertig (Low-T3-Syndrom) ■ stark verdünnter Urin ■ Albuminmangel ■ erhöhte Leberenzyme, (v.a. Transaminasen) ■ erhöhte Speichelamylase ■ ansteigende Kreatininwerte bei Erbrechen und Laxanzienabusus ■ Hypercholesterinämie duzieren oder es im untergewichtigen Bereich zu halten. Dazu dienen kompensatorische Verhaltensweisen wie Erbrechen, übermässige körperliche Aktivität, strengstes Fasten und die Einnahme verschiedenster gewichtsreduzierender Substanzen. Die missbräuchliche Verwendung diverser Medikamente, aber auch illegaler Drogen, zeigt ein breites Spektrum. Es reicht von frei erhältlichen Phytotherapeutika mit abführender Wirkung über ärztlich verschriebene Laxanzien und Appetithemmer, rezeptpflichtige Diuretika und Schilddrüsenhormone bis hin zu Alkohol und Opiaten wie Heroin und Kokain, letztere mit einer sehr hohen Koabhängigkeit von 50 bis 60% (8). Die verwendeten Stoffe sollen dazu dienen, den Appetit zu dämpfen, die Darmpassage zu beschleunigen, die Harn- und Stuhlausscheidung zu vermehren oder die Stoffwechselaktivität zu erhöhen. Eigentliche Brechmittel werden hingegen kaum verwendet. Endokrine Veränderungen: Osteopenie, Fertiliätsstörungen Der Serumspiegel von Östrogen ist ab BMI < 18 kg/m2 infolge eines hypophysären Hypogonadismus erniedrigt. Dies führt zu einem verminderten Ovarvolumen und zu einer Häufung anovulatorischer Zyklen mit der Entwicklung von polyzystischen Ovarien. Ferner kommt es im weiteren Verlauf zu Amenorrhö mit konsekutiver Osteopenie, Osteoporose und einer erhöhten Inzidenz pathologischer Frakturen (9). Die Fertilität ist beeinträchtigt, sodass im aktiven Stadium der Krankheit Schwangerschaften äusserst selten vorkommen. Tritt später eine Schwangerschaft ein, so ist eine erhöhte Komplikationsrate bis acht Jahre nach der Erkrankung zu beachten: Häufig kommt es in dieser Zeit zu Aborten, Hypoglykämien, Infektionen, intrauteriner Wachstumsretardierung und intrauterinem Fruchttod. Ferner kommt es nicht selten zu Geburtskomplikationen, Sectio caesarea oder instrumentellen Geburten (10). Die Anzahl kindlicher Fehlbildungen, vor allem der Neuralrohrdefekte, ist bei den Kindern dieser Mütter höher. Ein signifikant vermindertes Geburtsgewicht der Kinder ist doppelt so häufig wie bei normalgewichtigen Müttern. Ausserdem haben die Neugeborenen signifikant häufiger einen verringerten Kopfumfang. Das Risiko für eine untergewichtige Frühgeburt bis acht Jahre nach einer Essstörung oder während einer noch aktiven Erkrankung ist um 70 bis 80 % erhöht (11, 12). Das Auftreten von Zyklusstörungen wird begünstigt durch Leistungstraining hoher Intensität (insbesondere wenn schon vor der Pubertät begonnen wurde), durch die Reduktion von Gewicht und Körperfett sowie die hypokalorische Ernährung. Eine späte Menarche, vorbestehende Zyklusunregelmässigkeiten sowie eine hohe allgemeine Stressbelastung verstärken die Zyklusstörungen. Empfehlungen für die Praxis: Wie sollten Betroffene angesprochen werden? Angesichts von lebensgefährlicher Selbstkasteiung oder masslosem Essen und Erbrechen fühlt sich die Umwelt oft machtlos. Schuld-, Versagens- oder Ekelgefühle seitens der Erkrankten wie auch der Angehörigen und Freunde können ein notwendiges Gespräch oder den Gang zu einer Beratungsstelle behindern. In ihrem Innern fühlen sich Betroffene hilflos und befürchten, von anderen Menschen nicht verstanden und abgelehnt zu werden. Manchmal haben sie bereits solche negativen Erfahrungen gemacht. Es ist daher nicht einfach, eigene Beobachtungen den betroffenen Frauen ge- genüber zu formulieren. Menschen mit einer Essstörung können sich oft nicht gut durchsetzen und kämpfen mit Selbstwertproblemen. Sie erleben die Umgebung häufig als wenig kontrollierbar, sehen sich selbst als Versager. Nur im eigenen Körper finden sie das Feld, auf dem Kontrolle möglich ist. Belehrungen über ihr Essverhalten, auch wenn sie gut gemeint sind, werden oft als Angriff auf die letzte Bastion ihrer Autonomie empfunden. Dennnoch: Die Erfahrung zeigt, dass viele Menschen mit Essstörungen froh sind, wenn sie endlich adäquate Hilfe erhalten; viele suchen gar lange selber nach einem Therapieplatz. Daher ist ein einfühlsames Ansprechen unbedingt notwendig. Je früher die Krankheit erkannt und die Behandlung begonnen wird, desto besser ist die Prognose. In der ärztlichen Praxis haben sich folgende Aspekte bewährt, die hier als Empfehlungen gegeben werden: Sprechen Sie die betroffene Frau zunächst allein an: ■ Teilen Sie einfach Ihre Beobachtun- gen mit (z.B. «Mir fällt auf, dass Sie schon sehr schlank sind und sich trotzdem für das Abnehmen interessieren.»), und dass Sie sich Sorgen um ihre Gesundheit machen. ■ Erwähnen Sie, dass dies mit einer Essstörung zu tun haben könnte, dass jedoch nur die Patientin selbst dies bestätigen kann. ■ Zeigen Sie Verständnis, ohne die Essstörung gutzuheissen. Geben Sie auch Ihren Gefühlen (Unsicherheit, Angst, Sorge) Ausdruck, ohne verletzend zu werden. ■ Vereinbaren Sie danach eine definierte Verantwortungsübernahme: Bieten Sie in regelmässigen Abständen Gespräche an, aber vermeiden Sie die Übernahme von Kontrollfunktionen. Teilen Sie die Verantwortung mit anderen Fachpersonen und machen Sie auf weitere Hilfsangebote aufmerksam. Bieten Sie gegebenenfalls Hilfe an bei der Suche nach weiterer Unterstützung (Angehörige, Ausbildungs- und Arbeitsplatz, Fachstellen). ■ «Reduzieren» Sie jedoch die Patientin nicht auf die Essstörung und schaffen 8 GYNÄKOLOGIE 5/2008 SCHWERPUNKT Sie keinen künstlichen Schonraum. Versuchen Sie vielmehr, die gesunden Anteile zu stärken. ■ Besprechen Sie die Situation in Ihrem Team: Bestimmen Sie eine oder wenige Kontaktperson(en), um nicht unnötigen Druck zu erzeugen und den Manipulationsspielraum für die Betroffene gering zu halten. Wichtig für Familienmitglieder (Mutter): Diese muss auch ihre eigenen Bedürfnisse achten und durchsetzen. Es hilft der Betroffenen nicht, wenn sie nur noch Wunschkost erhält. Therapiemöglichkeiten Sobald ein tragfähiger Arzt-PatientinKontakt besteht, kann der betroffenen Frau auf verschiedene Art weitergeholfen werden, beispielsweise: ■ Weitergabe von Adressen von Bera- tungsstellen (ggf. mit Begleitung) ■ bei erforderlicher spezifischer Ab- klärung und/oder Therapie Zuweisung an eine spezialisierte Sprechstunde an Universitätsspitälern, regionale psychiatrische Dienste sowie an freipraktizierende Psychotherapeuten. ■ Zuweisung an eine spezialisierte Ernährungsberatung als Einstiegsmöglichkeit, insbesondere auch bei Sportlerinnen. Psychotherapeutisch finden, besonders bei noch im Elternhaus lebenden Jugendlichen, familientherapeutische Verfahren Anwendung; etabliert und erfolgreich sind auch körpertherapeutische und – insbesondere bei der Bulimie – kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden. Medikamentös können appetitanregende Mittel wie Pizotifen (Mosegor®) oder verschiedene Pflanzenextrakte (Artischocke, Kümmel etc.) versucht werden. Die zusätzlich oder begleitend bestehende depressive Verstimmung wird primär mit Antidepressiva aus der SSRIGruppe, welche günstig auf Essanfälle wirken, behandelt. Trizyklische Antidepressiva oder auch Mirtazapin (Remeron®) werden in der Regel wegen der befürchteten oder tatsächlich eintretenden Gewichtszunahme weit weniger toleriert. Bei Mangelernährung kommen Substitutionspräparate (Multivitamine, Kalium, Kalzium, Eisen) und Ergänzungsnahrung zum Einsatz. Indikationen für eine stationäre Ab- klärung und/oder Behandlung können sein: Gewichtsabfall innerhalb weniger Wochen bis Monate auf einen BMI von < 13 kg/m2, das Vorliegen von ausgepräg- ter Depressivität, Zwängen, gleichzeitige Substanzabhängigkeit, akute Suizida- lität, eskalierende Impulskontrollstörung (Selbstverletzungen, dissoziales Verhal- ten), zunehmende Isolation, Notwendig- keit, das soziale System akut zu trennen (Missbrauch, Gewalt, Ablehnung der Be- handlung durch Eltern oder Partner), er- folglose ambulante Behandlungsversu- che. Die Dauer einer Therapie richtet sich nach der Komplexität der Erkrankung, der Entstehungsgeschichte und den psy- chosozialen und körperlichen Folgeschä- den. Sie ist aber in der Regel ein mehr- jähriger und meist schwieriger, oft auch von Rückfällen geprägter Prozess, der von allen Beteiligten viel Geduld und Durchhaltevermögen, aber auch immer wieder die Fähigkeit zur Abgrenzung verlangt. Seitdem bekannt geworden ist, dass viele Betroffene eine Art «Karriere» durch verschiedene Formen von Essstörungen machen, ist heute besonders auch den Übergangsformen zwischen den einzel- nen Krankheitsbildern und dem Auftre- ten von Essstörungen bei älteren Patien- tinnen grosse Aufmerksamkeit zu schenken (13–15). Das für Fachleute in der Schweiz emp- fohlene Vorgehen, Adressen von Anlauf- stellen und viele weitere Informationen zum Thema finden sich auf der Home- page des Schweizerischen Experten- Netzwerks Essstörungen (www.netzwerk- essstoerungen.ch). ■ Dr. med. Bettina Isenschmid (MD et MME) (Korrespondenzadresse) Leitung Adipositas, Ernährungspsychologie, Prävention von Essstörungen Poliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung Inselspital, 3010 Bern E-Mail: bettina.isenschmid@insel.ch Interessenkonflikte: keine Quellen: 1. Steinhausen, H.C., et al.: The outcome of adolescent eating disorders: findings from an international collaborative study. 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