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Anticholinerge Therapie der hyperaktiven Blase
Wie wird optimiert?
Die Therapie der hyperaktiven Blase mit Anticholinergika kann durch verschiedene Strategien optimiert werden. Zur Verbesserung der Wirksamkeit und Verringerung der Nebenwirkungen gehören Veränderungen der Galenik und der Pharmakokinetik, die flexible Dosierung sowie die gezielte Verhaltenstherapie. Die Möglichkeiten der Therapieoptimierung werden im Folgenden besprochen.
DANIELE PERUCCHINI, DAVID SCHEINER, CORNELIA BETSCHART, DANIEL FINK
Die Pharmakotherapie der überaktiven Blase zielt darauf ab, die Detrusorhyperaktivität, welche nach den klassischen Vorstellungen hauptverantwortlich für die Drangsymptomatik ist, zu beeinflussen. Antimuskarine Medikamente vermindern durch Blockade der M2- und M3-Muskarin-Rezeptoren eine Kontraktion der Blase. Nach neuen Erkenntnissen scheint aber auch eine Wirkung der Antimuskarinika auf das Urothel wahrscheinlich, sodass nicht nur Efferenzen, sondern auch die Afferenzen der Blase durch die anticholinergen Medikamente beeinflusst werden. Die Therapie der hyperaktiven Blase soll die Lebensqualität verbessern. Die Wirksamkeit der anticholinergen Medikamente liegt gemäss verschiedenen Vergleichsstudien zwischen 60 und 75%. Eine Übersicht über die in der Schweiz verwendeten Anticholinergika ist in Tabelle 1 zusammengestellt.
Management der Nebenwirkungen
Da Anticholinergika nicht blasenselektiv sind, können unangenehme Nebenwirkungen auftreten, dies betrifft vor allem Mundtrockenheit, Verstopfung und Visusprobleme mit verschwommenem Sehen. Bei der Verschreibung von anticholinergen Medikamenten ist daher zwischen Wirksamkeit und möglichen störenden Nebenwirkungen abzuwägen. Bei der Medikation sind zudem spezielle Aspekte wie Alter, Geschlecht, ZNS-Sicherheit und Darreichungsform zu berücksichtigen. Die Häufigkeit der überaktiven Blase steigt mit zunehmendem Alter. Entsprechend muss auf die altersabhängigen Risikofaktoren erhöhtes Augenmerk gelegt werden. Hierzu gehören bei älteren Patienten die zunehmende Multimorbidität, die damit verbundenen Mehrfachverordnungen und das Risiko für Arzneimittelinteraktionen. Eine Optimierung der Therapie der hyperaktiven Blase (OAB) ist wichtig, weil keine der verschiedenen
Therapiemöglichkeiten allein 100-prozentig wirksam ist und alle Therapien auch Nebenwirkungen oder Nachteile haben. Zudem ist keine Behandlung bei allen Patientinnen gleich wirksam.
Möglichkeiten der Therapieoptimierung
Verhaltenstherapie (Blasentraining) Beim Blasentraining handelt es sich um eine sehr wirksame Massnahme, mit welcher die Pharmakotherapie unterstützt und ihre Wirkung nachhaltig verbessert werden kann. Der Tipp, «den Harndrang einfach möglichst hinauszuzögern», ist genauso sinnvoll wie Übergewichtigen zu raten, «einfach weniger zu essen»! Eine korrekte Anleitung ist das A und O des Therapieerfolgs. Voraussetzungen für die Verhaltenstherapie sind deshalb eine hohe Motivation von Arzt und Patientin und ein engmaschiges Coaching der Patientin. Spätestens seit der Untersuchung von Burgio und Kollegen (Burgio K.L. et al., 2000) wissen wir, dass ein Blasentraining zusätzlich zur medikamentösen Therapie zu einer wesentlichen Verbesserung führen kann. In der Studie der Autorengruppe mit älteren Frauen kam es zur Reduktion der Dranginkontinenzepisoden um 88,5%, nachdem Verhaltens- und medikamentöse Therapie kombiniert worden waren. Damit war das Ergebnis besser als dasjenige, welches mit medikamentöser Therapie alleine erreicht werden konnte (72,7%). In einer weiteren Studie konnte die Gruppe zeigen, dass ein professionell geführtes Verhaltenstraining mit Biofeedback zu grösserer Zufriedenheit der Frauen führte als die alleinige Anleitung mit Selbsthilfebroschüren. Bei der Verhaltenstherapie steht das aktuelle, anhand des Miktionskalenders beobachtbare Verhalten der Patientin im Vordergrund. Hierbei werden auch Menge und Art der Getränke erfasst. Kaffee oder Tee
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Tabelle 1:
In der Schweiz verwendete Medikamente zur Behandlung der überaktiven Blase (OAB)
Medikamentengruppe Anticholinergika
Spasmolytikum Neurotoxin
Wirkstoff Tolterodin ER Tolterodin ER Oxybutynin IR Oxybutynin ER
Trospiumchlorid Darifenacin
Solifenacin
Flavoxat Botulinumneurotoxin Typ A
Markenname Detrusitol SR® 4 mg Kaps. Detrusitol SR® 2 mg Kaps. Ditropan® 5 mg Tbl. Lyrinel® OROS Tbl. 5 mg Lyrinel® OROS Tbl. 10 mg Lyrinel® OROS Tbl. 15 mg Kentera® Hautpflaster Spasmo Urgenin® Neo 20 mg Drg. Emselex® 7,5 mg Emselex® 15 mg Vesicare® 5 mg Vesicare® 10 mg Urispas® 200 mg Drg. Botox® Amp à 100 Einheiten
* Indikation bei der überaktiven Blase nicht in der Spezialitätenliste aufgeführt
Dosierung 1 x 4 mg/Tag abends 1 x 2 mg/Tag abends 3 x 5 mg/Tag 1 x 5 mg/Tag 1 x 10 mg/Tag 1 x 15 mg/Tag 2 x/ Woche 2 x 20 mg/Tag 1 x 7,5 mg/Tag 1 x 15 mg/Tag 1 x 5 mg/Tag 1 x 10 mg/Tag 3 x 200 mg/Tag 100 Einheiten (einmalig)
Packung à 14, 28, 56 28 60 30/90 30/90 30/90 8 20, 60 14, 56 14, 56 30, 90 30, 90 30, 100 100 Einheiten
Tageskosten Fr. 3.69; 3.44; 2.81 Fr. 3.10 Fr. 1.87 Fr. 2.00; 1.57 Fr. 2.94; 2.46 Fr. 3.87; 3.34 Fr. 2.85 Fr. 2.70; 1.80 Fr. 3.35; 2.50 Fr. 3.35; 2.50 Fr. 2.93; 2.40 Fr. 3.40; 2.85 Fr. 2.10; 1.65 Fr. 429.00*
sind nach neuen Erkenntnissen auch in die tägliche Trinkmenge mit einzubeziehen, denn regelmässiger, nicht übermässiger Kaffeekonsum hat keine entwässernde Wirkung.
Hinweis: auf adäquate Trinkmenge achten Zum Verhaltenstraining gehört auch ein adäquates Flüssigkeitsmanagement. «Viel trinken» liegt derzeit im Trend des allgemeinen Gesundheitsbewusstseins. Immer häufiger werden uns aber Patientinnen zur Abklärung einer hyperaktiven Blase in die urodynamische Spezialsprechstunde zugewiesen, bei denen wir eine tägliche Routinetrinkmenge von zwei, drei und mehr Litern feststellen. Diese Patientinnen nehmen vielfach an, dass der Nutzen einer hohen Flüssigkeitszufuhr darin bestünde, den Körper zu entgiften und die Stoffwechselfunktion der inneren Organe zu unterstützten, oder dass das Trinken grosser Wassermengen die Schlankheit fördere und zu straffer(er) Haut führe. Doch so einleuchtend solche Argumente auch klingen mögen, so schwach ist ihr wissenschaftliches Fundament. Die in der Laienpresse häufig verbreitete Trinkaufforderung ist in Fachkreisen umstritten (Negoianu und Goldfarb, 2008). Die normale Trinkmenge regelt sich durch das Durstgefühl und kann – eine normale Nierenfunktion
vorausgesetzt – in unseren gemässigten Breitengraden mit zirka 1,4 bis 2 Litern angegeben werden. Die gezielte Verringerung der Trinkmenge kann die OABSymptomatik durchaus positiv beeinflussen und ist auch erlaubt (Swithinbank et al., 2005). Die Reduktion der Trinkmenge um 25% reduzierte in einer Studie von Hashim et al. (2008) die Miktionsfrequenz am Tag um 23%, die Dranganfälle um 34% und die Nykturie um 7%. Eine gute Führung der Patientinnen ist dabei wichtig. Auch übermässiger Genuss von Koffein, Kaffee und Tee sowie Mineralwasser kann die Symptomatik beeinflussen.
Beckenbodentraining Beckenbodentraining, mit oder ohne Elektrostimulation, bringt einen nachweislichen Erfolg in der Behandlung der hyperaktiven Blase. Beckenbodenkontraktionen, wie sie schon von Arnold Kegel im Jahr 1948 für die Behandlung der Belastungsinkontinenz propagiert wurden, stärken nicht nur den M. levator ani und M. sphincter urethrae, sondern hemmen auch die Detrusorkontraktionen. Die Kombination von Beckenbodentraining mit Anticholinergika zeigt in verschiedenen Studien einen besseren Therapieerfolg als das alleinige Beckenbodentraining. Allerdings ist die Literatur dazu (wohl auch wegen der unterschiedlichen untersuchten Kollektive) widersprüchlich.
Prinzipiell befürworten wir die Kombinationstherapie, doch muss diese Frage bei jeder Patientin individuell entschieden werden, wobei sowohl der Befund des Beckenbodens als auch der Wunsch der Patientin berücksichtigt werden.
Lokale Östrogenisierung Diese Massnahme ist inzwischen fester Bestandteil in der urogynäkologischen Praxis. Lokale Hormontherapie mit Östriol bewirkt die Proliferation der Epithelien des Urogenitaltrakts, senkt den Vaginal-pH und verbessert den Gewebeturgor durch erhöhte Vaskularisierung. Unter lokaler Hormontherapie bei postmenopausalen Patientinnen kommt es nicht nur zu weniger Harnwegsinfekten, sondern auch zu einer Reduktion von Drangbeschwerden. In einer Studie von Cardozo et al. (2001) waren die Drangbeschwerden bei postmenopausalen Patientinnen nach zwölfwöchiger vaginaler Hormonapplikation signifikant geringer als in der Plazebogruppe. Eine optimale lokale Trophik ist deshalb wenn immer möglich anzustreben.
Neue galenische Formen: Retardpräparate und transdermale Systeme Oxybutynin Hier handelt es sich um das «klassische Anticholinergikum» zur Behandlung der hyperaktiven Blase. Seine Wirkung ge-
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genüber Plazebo ist in zahlreichen Studien belegt. Limitierend in der Anwendung der ersten galenischen Form sind die Nebenwirkungen, insbesondere die Mundtrockenheit. Die Entwicklung der Retardpräparate hat dazu eine Verbesserung gebracht. Die für unerwünschte Wirkungen wahrscheinlich hauptverantwortlichen Spitzenwerte der Serumwirkspiegel lassen sich durch eine verzögerte Freigabe des Wirkstoffs (slow release, extended release = ER, Retardpräparate) verringern oder sogar ganz vermeiden. Oxybutynin als Retardpräparation funktioniert nach dem OROS®-Prinzip als Tablette, die über eine osmotisch wirksame Substanz langsam leer gepumpt wird, während sie den Darm passiert. Es konnte gezeigt werden, dass das Oxybutynin in Retardform gleich wirksam wie die erste galenische Form ist, zudem aber die Nebenwirkungen halbiert (Abnahme um 57%).
Tabelle 2:
Strategien in der Therapieoptimierung
■ Optimierung der Verhaltenstherapie durch: Kombination Blasentraining mit Beckenbodentraining/Elektrostimulation und medikamentöser Therapie
■ Verbesserung der Wirkung der Anticholinergika durch: – Entwicklung blasenselektiverer Substanzen – Reduktion der Nebenwirkungen durch neue Galenik (Retardpräparate und transdermale Systeme) – Entwicklung neuer M3-selektiver Substanzen – Möglichkeit der Dosiseskalation bei neueren Präparaten
■ Individualisierung der Therapie durch Selektion von Patientinnengruppen (u.a. Urodynamik)
Ein ganz neues Prinzip, um eine gleichbleibende Wirkstoffexposition zu gewährleisten, ist die Umgehung des Firstpass-Effektes durch ein transdermales System. Oxybutynin ist die einzige Substanz zur Behandlung der überaktiven Blase, die auch als transdermales System
(Pflaster) eingeführt ist. In der Schweiz ist das Pflaster seit 2007 zugelassen und kassenpflichtig. Bei der oralen Gabe von Oxybutynin kommt es zu einem starken First-Pass-Effekt in der Leber, sodass im Blut kaum noch Oxybutynin, sondern vor allem der Metabolit N-desethyl-Oxybu-
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tynin zu finden ist. Bei der transdermalen Gabe hingegen sind im Blut annähernd gleiche Spiegel von Oxybutynin und dessen Metaboliten zu finden. Mehrere Studien belegen die Wirksamkeit des Oxybutyninpflasters bei der überaktiven Blase. Die Wirkung ist vergleichbar derjenigen der oralen Präparate. Die Inzidenz und Ausprägung der Mundtrockenheit unter transdermalem Oxybutynin liegt im Plazebobereich. Auch weitere typische anticholinerge Nebenwirkungen wie Obstipation oder Sehstörungen wurden unter transdermalem Oxybutynin selten beobachtet. Bei Patientinnen, die auf ein Anticholinergikum mit diesen störenden Nebenwirkungen reagiert haben, bietet sich deshalb die transdermale Therapie an. Als «neue Nebenwirkung» können aber aufgrund des chemischen Hautöffners in der Gelmatrix des Pflasters Hautirritationen mit Rötung und störendem Pruritus auftreten (in 8 bis 14%). Das im Pflaster applizierte Oxybutynin muss nur zweimal pro Woche gewechselt werden.
Trospiumchlorid und Tolterodin Mit Ausnahme von Trospiumchlorid, welches zweimal am Tag verabreicht werden muss, können die anderen in der Schweiz verwendeten Anticholinergika einmal täglich eingenommen werden. Trospiumchlorid sollte zudem vor den Mahlzeiten eingenommen werden. Von Tolterodin (in der Slow-Release-Dosierung SR 4 mg) ist bekannt, dass die abendliche Einnahme vor dem Schlafen vorteilhaft ist, weil die unerwünschten Nebenwirkungen «verschlafen werden».
Dosiseskalation Dosiseskalation ist eine weitere Strategie zur Verbesserung des medikamentösen Therapieeffekts. Auch hier geht es um Optimierung der Wirkung und Verringerung der anticholinergen Nebenwirkungen, insbesondere der Mundtrockenheit. Unter flexibler Dosierung versteht man die Möglichkeit, die Dosis je nach Wirksam- und Verträglichkeit anzupassen. Diese Dosistitration ist speziell bei Oxybutynin in der OROS®-Formulierung und bei den neueren Anticholinergika (Darifenacin, Solifenacin und Fesoterodine, vgl. Tabelle 1) vorgesehen, und zwar
A: Patientinnen mit sensorisch hyperaktiver Blasenfunktion (Urodynamik ohne Detrusorkontraktionen, verfrühter Harndrang) profitieren von Blasentraining mit Verhaltenstherapie.
B: Patientinnen mit terminaler Detrusorkontraktion sollten die Strategie der «Miktion nach der Uhr» testen. Dabei soll die Patientin die Toilette in fixen Zeitintervallen aufsuchen und die Miktion nicht maximal hinauszögern.
C: Spontane Detrusorkontraktionen während der Füllzystometrie bestätigen eine motorisch hyperaktive Blasenfunktion. Diese Patientinnen sprechen in der Regel gut auf eine anticholinerge Therapie an.
D: Patientinnen mit nur nach Provokationstests ausgelösten Detrusorkontraktionen sprechen schlechter auf Anticholinergika an als solche mit spontanen Detrusorkontraktionen.
Abbildung: Unterschiedliche Befunde bei der Blasendruckmessung (Zystometrie) beeinflussen die Wahl der Therapie bei der überaktiven Blase.
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des UNI-MED-Verlags, Deutschland (vgl. Kasten)
durch zwei, bei Lyrinel OROS® sogar durch drei verschiedene Tablettendosierungen – jeweils in der vorteilhaften täglichen Einmaldosis. Der Therapiebeginn sollte üblicherweise mit der niedrigen Dosierung erfolgen, wodurch die Nebenwirkungsraten gering gehalten werden. Studienresultate weisen darauf hin, dass gewisse Patientinnen sensitiver auf Anticholinergika reagieren, sodass in diesem Kollektiv die Dosiserhöhung entfällt (Steers et al. 2005), um die Nebenwirkungen nicht überproportional ansteigen zu lassen. Bei subjektiv nicht hinreichender Wirkung kann und soll die Dosis aber erhöht werden. In verschiedenen Studien mit Darifenacin und Solifenacin zeigt sich, dass etwa jede zweite Patientin eine solche Dosiserhöhung nach zwei bis vier Therapiewochen wünscht. Eine Analyse der STAR-Studie weist darauf hin, dass Patienten, die eine Dosiserhöhung verlangen, schwerwiegendere OAB-Symptome bei Studienbeginn angegeben
hatten. Hieraus folgt, dass vor allem solche Patientinnen von der Dosiserhöhung profitieren, die weniger anticholinerge Nebenwirkungen verspüren und unter einer schweren OAB-Symptomatik leiden. Die Erfahrung zeigt, dass Patientinnen bereit sind, eine gewisse Mundtrockenheit in Kauf zu nehmen, wenn die OAB-Symptomatik sich verbessert (Staskin et al. 2006). Verschiedene Studien zur Dosiseskalation von Oxybutynin (retard) zeigen eindeutig, dass mit zunehmender Dosierung auch die Mundtrockenheit zunimmt. Mundtrockenheit gaben die Studienteilnehmer in 28% unter der Dosierung von 5 mg/Tag, in 35% unter 10 mg/Tag, in 52% unter 15 mg/Tag und in 54% unter jener von ≥ 20 mg/Tag in der letzten Behandlungswoche der Studie an. Dennoch: Nur 1,6% der Patienten haben deswegen die Therapie abgebrochen. Dies kann damit erklärt werden, dass die Mundtrockenheit bei der individuell gewählten Dosierung als mild empfunden
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wurde. Patientinnen können also ihre optimale Medikamentendosis unter ärztlicher Beratung finden. Wenn bei der gewählten Anfangsdosierung keine zufriedenstellende Wirkung erreicht wird, lautet die Empfehlung, die «Dosis zu steigern, bis gerade noch tolerable Nebenwirkungen auftreten».
Selektion von Patientengruppen In den letzten Jahren hat bei der Definition und Einteilung von Blasenfunktionsstörungen ein Paradigmenwechsel stattgefunden: weg von der urodynamisch gesicherten Diagnose, hin zur rein klinisch-symptomatologischen Definition einer Blasenhyperaktivität. Die International Continence Society definiert heute «overactive bladder syndrome» (OAB) als imperativen Harndrang («urgency»), meistens in Kombination mit häufigen und/oder nächtlichen Miktionen, wobei der drangbedingte Harnverlust nur ein fakultatives Symptom ist. Diese Änderung der Definition hat zu einer Ausweitung der Diagnosestellung und, wahrscheinlich nicht ganz unbeabsichtigt, zu einer lockeren «probatorischen Anwendung» von Anticholinergika geführt. Die medikamentöse Therapie der hyperaktiven Blase basiert aber nach klassischer Vorstellung auf der Hemmung der Detrusorkontraktionen. Diese können während der Urodynamik anlässlich der Blasenfüllung (Zystometrie) als intravesikale Druckwellen objektiviert werden (vgl. Abbildung D). Es werden phasische von terminalen Detrusorwellen unterschieden (vgl. Abbildung C bzw. B). Detrusorwellen können zudem spontan (Abbildung C) oder nach Provokation (z.B. Reiz des fliessenden Wassers, Abbildung D) auftreten. Finden sich anlässlich der Blasenmessung Detrusorwellen, dann spricht man von einer urodynamisch motorisch hyperaktiven Blase (uDO) (Abbildungen C und D). Detrusorwellen (DO) können jedoch nicht bei allen Patientinnen, die eine OAB-Symptomatik angeben, anlässlich der Urodynamik nachgewiesen werden. Ein unterschiedliches Ansprechen auf die medikamentöse Therapie je nach urodynamischem Befund ist deshalb gut vorstellbar. In den neueren Studien zur medikamentösen Therapie der OAB
wird aber meist allein aufgrund der Symptome behandelt. Dies erklärt die teilweise nur mässig guten Erfolgsraten.
Neue Kriterien Bei differenzierter Analyse einiger Studien werden interessante Ergebnisse erkennbar. Grössere prospektiv randomisierte Studien sind diesbezüglich wünschenswert. Die bisherigen Erkenntnisse: ■ Patientinnen mit uDO sprechen bes-
ser auf Anticholinergika an als solche ohne uDO: Bei Dranginkontinenz und urodynamisch objektivierten Detrusorwellen (DO) konnte mit Oxybutynin eine Heilungsrate von 93% erreicht werden. Bei Dranginkontinenz ohne urodynamisch objektivierten DO (früher sensorische Dranginkontinenz genannt) wurde eine Heilungsrate von nur 60% erreicht (Colombo et al. 1995). ■ Blasentraining scheint bei Patientinnen mit Dranginkontinenz ohne urodynamisch objektivierten DO wirksamer zu sein als bei nachgewiesener Detrusorhyperaktivität. In der Studie von Colombo (1995) führte alleiniges Blasentraining bei Patientinnen mit sensorischer DO in 81% zur Heilung. In der Gruppe mit uDO konnten nur 62% geheilt werden. ■ Drangsymptome verringern sich eher durch Anticholinergika als durch Blasen- und Beckenbodentrainig: Song und Kollegen (2006) konnten zeigen, dass in Therapiegruppen, die sich Blasen- und Beckenbodentraining unterzogen und zusätzlich anticholinerge Therapie oder Plazebo einnahmen, vergleichbare Resultate bezüglich Reduktion der erhöhten Miktionsfrequenz und Nykturie erzielt werden konnten. Drangsymptome verringerten sich aber durch Einnahme des Anticholinergikums. ■ Patientinnen mit spontaner uDO sprechen deutlich besser auf Anticholinergika an, als solche, bei denen in der Zystometrie Detrusorkontraktionen erst nach Provakationstests ausgelöst werden: Eine italienische Gruppe (Salvatore et al. 2008) postulierte unterschiedliche Pathomechanismen für spontane und provozierte DO. Sie stellten die Hypothese auf,
dass spontane DO eher durch eine periphere myogene Hyperaktivität des Detrusormuskels entstehen, und dass Anticholinergika bei dieser Befundkonstellation gut wirken (Gruppe 1). Im Gegensatz dazu wären DO, welche nur nach Provokation ausgelöst werden können, Folge einer verminderten zentralen Hemmung. Hier sollten die bekanntlich peripher (in der Blase) wirkenden Anticholinergika schlechter wirken (Gruppe 2). Tatsächlich sprachen nach zwölfwöchiger anticholinerger Therapie 88% der Patientinnen der Gruppe 1 auf die medikamentöse Therapie an, in der Gruppe 2 nur 52%. ■ Patientinnen mit terminaler DO profitieren nicht davon, den Drang wie häufig empfohlen «möglichst lange hinauszuzögern»: Diese Frauen profitieren von der sogenannten Miktion nach der Uhr, also Toilettengängen in fixen Intervallen vor Auftreten des imperativen Harndrangs. Anticholinergika können zwar das Miktionsintervall verlängern respektive die Blasenkapazität erhöhen, aber das Drangproblem nur zeitlich etwas hinauszögern und nicht beheben. Die Miktion nach der Uhr richtet sich nach dem kürzesten Miktionsintervall im Miktionskalender und verhindert damit «das Malheur».
Fazit: einfache und individuelle Optionen
Mit einfachen und individuell anpassbaren Therapieoptionen kann dem Gros der Patientinnen mit OAB eine zufriedenstellende Besserung der Lebensqualität angeboten werden. Dennoch spricht ein Teil der Patientinnen nicht genügend auf die konservativen Therapien an oder leidet an den Nebenwirkungen der Anticholinergika, sodass diese abgesetzt werden müssen. Während früher in solchen Fällen die Behandlung der OAB ausgeschöpft war, besteht heute die Möglichkeit der intravesikalen Injektion von Botulinumneurotoxin (Botox). Ganz entscheidend ist und bleibt aber immer unsere Kommunikation mit der Patientin bezüglich der Behandlungsstrategien und des Behandlungsplanes. Die Patientinnen sollen über die Stufentherapie am Anfang der Behandlung informiert
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werden und wissen, dass es darum geht,
«ihre» optimale Therapie zu finden. Brin-
gen die ersten Therapieversuche keinen
hinreichenden Erfolg, so ist die urogynä-
kologische Standortbestimmung mit uro-
dynamischer Abklärung indiziert.
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PD Dr. med. Daniele Perucchini (Korrespondenzadresse) Blasenzentrum am Stadelhoferplatz Gottfried Keller-Str. 7 8001 Zürich E-Mail: info@blasenzentrum.ch
sowie Urogynäkologie, Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich
Dr. med. David Scheiner Dr. med. Cornelia Betschart Prof. Dr. med. Daniel Fink Klinik für Gynäkologie Departement Frauenheilkunde UniversitätsSpital Zürich 8091 Zürich
Literatur beim Erstautor.
Die überaktive Blase im Visier
Daniele Perucchini (Hrsg.): Overactive Bladder – Fragen und Antworten. 120 Seiten, 45 Abbildungen. UNI-MED Verlag, Bremen 2008. Fr. 66.–, ISBN 978-3-8374-1061-7.
Wer noch mehr zum Thema wissen will: Das gerade erschienene Buch des Autors erklärt in pragmatischer Form und aus interdisziplinärer Sicht den aktuellen Stand des Wissens zur hyperaktiven Blase. Schwerpunkte wurden auf praxisrelevante Fragen zu Definitionen, Diagnostik und Therapie gelegt.
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