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SCHWERPUNKT
«Präventivmedizin braucht Frauenärzte»
Ein Statement zur Einschätzung der Präventivwirkung der HRT auf das Diabetesrisiko
Ein Drittel weniger Diabetesneuerkrankungen unter Hormonersatztherapie (HRT): Dieses Ergebnis zeigte sich in den grossen Studien HERS und WHI bei postmenopausalen Frauen nach rund fünfjähriger Beobachtung (1, 2). Erstaunlich, sind doch in beiden Studien Frauen beobachtet worden, die grösstenteils nicht gesund waren (u.a. gehäuft metabolische Probleme hatten). Im Folgenden wird erörtert, warum eine indizierte HRT das Diabetesrisiko zu verringern hilft.
J. MATTHIAS WENDERLEIN
Vor dem Hintergrund, dass die Frauen in diesen grossen Studien häufiger metabolische Probleme hatten, als dies in der Allgemeinbevölkerung zu erwarten ist, kann davon ausgegangen werden, dass eine HRT bei gesunden Frauen das Diabetesrisiko um fast die Hälfte reduziert – sofern rechtzeitig ab der Menopause mit der Therapie begonnen und individuell richtig dosiert wird.
Schwierig ohne HRT: grundlegende Änderungen des Lebensstils
HRT-Kritiker werden anführen, dass Änderungen des Lebensstils bei Frauen ab der Menopause zur Prävention eines Typ-II-Diabetes mellitus ausreichten. Das trifft jedoch selten zu: Mit Erlöschen der Ovarialfunktion nimmt die Zahl der Frauen mit einem Diabetes-II-Risiko deutlich zu. Als Ursache sei exemplarisch die häufig enorme Gewichtszunahme ab der Menopause angeführt, die nicht selten schon deshalb eintritt, weil unter dem postmenopausalen Estradiolmangel der Grundumsatz um bis zu einem Drittel abgesenkt wird, das frühere Essverhalten aber zumeist beibehalten wird. Hinzu kommen häufig hormonmangelbedingte Gelenkbeschwerden und später die hormonmangelbedingte Entwicklung einer Osteoporose mit mehr oder minder ausgeprägten Knochen- und Muskelschmerzen. Werden – in der Folge – körperliche Aktivitäten dann verringert, verstärkt dies die Gewichtszunahme. Bekannt ist, dass Frauen unter einer HRT seltener an Gewicht zunehmen als Frauen, die keine HRT anwenden. Dies ist von grosser Bedeutung, da schon Gewichtszunahmen von 5%, die oft bereits in den ersten Jahren nach der Menopause erreicht werden, metabolisch riskant sind: In der prospektiven finnischen Diabetes-Präventions-Studie (DPS, 3) bewirkte die
Absenkung des Körpergewichts um 5% verifizierbare Schutzeffekte. In der Therapiegruppe gelang die Umstellung auf eine Nahrung mit einem Fettanteil unter 30% und einem Anteil an gesättigten Fettsäuren unter 10%. Es wurde ferner deutlich, dass bestimmte Zielgruppen mit einer Diabetesprävention per Lebenstiländerungen nicht erreicht werden. Für eine erfolgreiche Prävention müssen die grundsätzlichen biologischen Einflussfaktoren des postmenopausalen Estradiolmangels wie auch Ernährungsrisiken von den betroffenen Frauen verstanden werden.
Freude an Bewegung erhalten: welcher Support?
Ein vor Diabetes schützendes, moderates Bewegungstraining über täglich 30 Minuten setzt einen körperbewussten Lebensstil voraus; die Bewegung darf keine Beschwerden auslösen. Das gilt vor allem für das Walking und erst recht für das Jogging – Sportarten, die bei beginnender Osteoporose bald aufgegeben werden. Hieraus folgt: Einem verstärkten Knochenverlust ab der Menopause lässt sich nicht ausreichend mit präventivem Training begegnen. Beschwerden beim Training führen zur Inakti-
“Bekannt ist, dass Frauen unter einer HRT seltener an Gewicht zunehmen als Frauen, ”die keine HRT anwenden.
vität, eine solche verbessert aber nur momentan die Lebensqualität. In der finnischen DP-Studie wurde mit grossem personellen Aufwand eine Reduktion der Diabetesneuerkrankungen um 58% erreicht (3). Eine solche personelle Intensivbetreuung in der Diabetesprävention
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scheint wohl nur in einem Land wie Finnland (ca. 6 Millionen Einwohner) realisierbar zu sein. Um so beachtlicher ist, dass in der wesentlich umfangreicheren HERS und in
“Einem verstärkten
Knochenverlust ab der Meno-
pause lässt sich nicht
ausreichend mit präventivem
Training begegnen.
”den WHI-Grossstudien die Zahl der Dia-
betesneuerkrankungen ohne jegliche persönliche Betreuung um rund 30% reduziert wurde. Dies entstand trotz suboptimaler HRT, bei der die 50- bis 79Jährigen gleich hohe Dosen an konjugierten Östrogenen, bei vorhandenem Uterus in Kombination mit Medroxyprogesteronacetat, erhielten. Folglich ist die HRT als medikamentöser und kosteneffizienter Schutz vor Typ-II-Diabetes anzusehen, und zwar ohne dass nennenswerte Risiken eingegangen werden, dies immer unter der Voraussetzung, dass Kontraindikationen wie in den WHI-Studien nicht missachtet werden.
Voraussetzung: individuelles ganzheitliches Präventionskonzept
Um die finnischen Erfolge zu erreichen, sollten die Frauenärzte standardisiert die HRT-Beratung mit Informationen zum gesunden Lebensstil kombinieren. Eine solche individuelle Beratung sollte auch bei den regelmässigen ärztlichen Kontrollen angeboten werden. Zur Motivation der postmenopausalen Frauen, eine Diabetesprävention zu betreiben, ist ein ganzheitliches Konzept nötig, um einen mehrdimensionalen Schutz zu erreichen (der sich auch wirtschaftlich gesehen «rechnet»). In der finnischen Studie betrug die Rate an Diabetesneuerkrankungen pro Jahr in der Interventionsgruppe 2,75%, in der Kontrollgruppe 5,8%. Der Aufwand zur Erzielung eines solchen Ergebnisses lässt sich am besten rechtfertigen, wenn den Frauen bewusst gemacht wird, dass sie mit einem Präventionsprogramm gleichzeitig ihrem Herz-Kreislauf- und Knochensystem nützen. Diese Aufklärung erfolgt am effizientesten im persönlichen
Gespräch im Rahmen der HRT-Beratung. Überraschend ist, dass die finnischen Erfolge bereits nach drei Studienjahren eintraten. Schutzeffekte zeigten sich aber auch noch einige Jahre nach Abschluss der Studie. Auch in der HERS und in den WHI-Studien zeigten sich unter der HRT entsprechende Schutzwirkungen nach wenigen (5) Jahren mit der Reduktion der Diabetesinzidenz um ein Drittel. Die derzeitigen Aktivitäten der Krankenkassen bei Präventionsangeboten in Deutschland beziehen die ärztliche – insbesondere die gynäkologische – Kompetenz im Hinblick auf individuelle Beratungen nicht oder kaum mit ein. Nach den bisherigen Erfahrungen erreichen Bewegungs- und Ernährungskurse im Wesentlichen jene Frauen, die bereits informiert sind.
Vorsicht: Frauen mit geschädigten Gefässen
Bedeutsam ist eine weitere Erkenntnis aus der finnischen Studie: Selbst bei bereits pathologischem Glukosetoleranztest (GTT) waren noch Schutzerfolge durch die Ernährungs- und Sportprogramme zu erzielen. Bezüglich der HRTVerordnung ist zu bedenken, dass die bei pathologischem GTT häufig schon manifesten Gefässschäden zum Risiko werden können. In diesen Fällen ist eine weitergehende Diagnostik (z.B. GefässDoppleruntersuchung) angezeigt und zu prüfen, ob noch ein niedrig dosierter, transdermaler Östrogenersatz in Kombination mit einem geeigneten Gestagen infrage kommt. Natürlich ist zudem Hochdruck auszuschliessen respektive therapeutisch anzugehen.
In der ganzheitlichen Prävention effektiver: HRT statt Metformin
Die US-amerikanische Studie DPP (Diabetes Prevention Program [4] unter gleicher Zielsetzung (wie die der finnischen Studie) bestätigte, dass durch geschultes Personal der Lebensstil postmenopausaler Frauen beeinflussbar ist: Im Vergleich zur Gruppe ohne Support wurden 60% weniger Diabetesneuerkrankungen in der Interventionsgruppe registriert. Eine ausschliessliche Pharmakoprävention mittels 1700 mg Metformin täglich erbrachte
in der DPP-Studie eine Diabetesrisikominderung um 31%. Eine HRT ist somit genauso effektiv wie eine Metforminbehandlung, wenn man lediglich die Reduktion des Diabetesrisikos sieht. Berücksichtigt man jedoch, dass durch eine HRT zugleich auch Schutzwirkungen auf den Knochen (Osteoporose), das Gehirn (Morbus Alzheimer, Parkinsonismus) und andere Organe wie Gefässe, Haut, Augen (usw.) zu erzielen sind, dann ist eine HRT um ein Mehrfaches effektiver. Denn alle postmenopausal degenerativen (bzw. arteriosklerotisch) bedingten Erkrankungen von Gefässen, Gehirn, Knochen, Gelenken (u.a.) können bei rechtzeitigem Beginn einer HRT um ein Drittel bis zur Hälfte reduziert werden.
Gezielte Prävention: zu teuer?
Die Versorgungskosten, die durch östrogenmangelbedingte Ereignisse entstehen, sind bisher noch von keiner Krankenkasse zusammengestellt worden. Eine diesbezüglich eigene Erfahrung ist bezeichnend: Die Anfrage bei einer grossen gesetzlichen Krankenkasse in Deutschland, die Häufigkeit und Dauer von Arbeitsunfähigkeiten bei Frauen mit und ohne HRT zu vergleichen, wurde zunächst positiv aufgenommen und als machbar bezeichnet. Ergebnisse der Datenanalyse wurden aber nicht mitgeteilt. Diabetiker und Diabetikerinnen verursachen fast doppelt so hohe Krankheitskosten wie der Durchschnitt der Versicherten (in Deutschland 5300 vs. 2800
“Die Versorgungskosten, die durch östrogenmangel-
bedingte Ereignisse entstehen,
sind bisher noch von keiner
Krankenkasse zusammen-
”gestellt worden.
Euro pro Jahr). Dies ist von grosser Bedeutung, da etwa 2 Millionen Menschen in Deutschland an einem Altersdiabetes erkrankt sind, bei Berücksichtigung der Dunkelziffer ist sogar von 4 Millionen Diabeteskranken auszugehen. Mit den Frauen ab der Menopause wäre ein Risikokollektiv definiert, das durch
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Tabelle:
Diabetes-Typ-II-Prävalenz bei Männern und Frauen in drei Altersklassen (6)
Altersklasse 50 bis 59 Jahre 60 bis 69 Jahre 70 bis 79 Jahre
Männer 8%
11,4% 13%
Frauen 2,8%
12,9% 19,4%
Frauenärzte erreichbar wäre – vorausgesetzt, Krankenkassen, Standesorganisationen und Medien unterlassen einseitige und angstauslösende Berichterstattungen über die HRT (z.B. Angaben über Risiken ohne Absolutzahlen). Wenn es überhaupt ein klinisch relevantes Brustkrebsrisiko durch eine HRT gibt, dann liegt es im Ein-Promille-Bereich. Dagegen beträgt das Diabetesrisiko je nach Lebensalter zwischen 5 und 10%!
Präventionsbemühungen: durch Vertrauen in die HRT gefördert?
Vor 2002 nutzte fast die Hälfte der perirespektive postmenopausalen Frauen über eine kürzere oder längere Zeitdauer eine HRT wegen klimakterischer Beschwerden, die sich kausal nur durch einen Östrogenersatz beseitigen lassen. Hätte diese Frauengruppe wieder mehr Vertrauen, den Frauenarzt wegen einer HRT zu konsultieren, wäre dies eine günstige Situation, im Rahmen der HRTBeratung auch einen kurzen Diabetesrisikotest (mit 8 Fragen) durchzuführen, wie er in Finnland validiert wurde. Anzumerken ist (aus Erfahrung), dass Frauen mit dem Wunsch, eine HRT durchzuführen, in der Regel interessierter an Prävention sind als Frauen, die selbst starke klimakterische Beschwerden als schicksalhaft ertragen. Leider bestehen gerade bei dieser letzten Frauengruppe gehäuft Übergewicht und Adipositas und damit ein erhöhtes Diabetesrisiko. Zu beachten: Ein Typ-II-Diabetes geht bei 70 bis 80% der Betroffenen mit weiteren Krankheiten einher: Adipositas, Hochdruck, Fettstoffwechselstörungen sowie Störungen der Gerinnung mit Akutereignissen wie Apoplex. Ätiologisch entwickelt sich Diabetes zu zirka 90% auf der
Basis einer Adipositas: Nach der Nurses’ Health Study (5) bewirkt ein BMI-Anstieg von 21 auf 35 ein 40-mal höheres Diabetesrisiko. Im Vergleich dazu verursacht ein solcher BMI-Anstieg «nur» ein 4-mal höheres KHK-Risiko; ein manifester Diabetes II erhöht das Risiko für akute KHKEreignisse um den Faktor 4 (5).
Frauen: letztlich gefährdeter als Männer
Alle genannten Wechselwirkungen sind gynäkologisch-endokrinologisch plausibel und rechtfertigen beeindruckend auch eine HRT: Im Alter von 50 bis 60 Jahren begonnen, lässt sich zum Beispiel das KHK-Risiko durch eine HRT halbieren – auch nach den Ergebnissen von ReAnalysen der WHI-Daten. Die Daten des Bundesgesundheits-Survey, Deutschland, (6) bestätigen indirekt die parallel dazu erreichbare geringere Diabetesinzidenz: Die Diabetes-II-Prävalenz liegt bei Männern zwischen 50 und 59 Jahren fast um den Faktor 3 höher als bei gleichaltrigen Frauen: 8% versus 2,8%. Dann allerdings holen die Frauen zwischen 60 und 69 Jahren die Männer sprunghaft ein: 11,4% versus 12,9%. Im Alter von 70 bis 79 Jahren überholen die Frauen die Männer sogar: 13% versus 19,4% (vgl. Tabelle). Bei den Frauen hat der Anstieg der Diabeteshäufigkeit sicherlich mit dem Menopauseneintritt zu tun (im Mittel im Alter um 52 Jahre). Die zeitliche Versetzung der Diabetesproblematik ist wie folgt zu erklären: Die durch Östrogenmangel bedingte Insulinresistenz und Hyperinsulinämie besteht in aller Regel über mehrere Jahre, ehe sich ein Diabe-
“Im Alter von 50 bis 60 Jahren begonnen,
lässt sich zum Beispiel
das KHK-Risiko durch
”eine HRT halbieren.
tes II manifestiert. Hinzu kommt, dass die Erkrankung zumeist erst vier bis sieben Jahre nach ihrem Auftreten diagnostiziert wird, und zwar häufig erst dann, wenn eine stärkere Hyperglykämie zu Müdigkeit und Leistungsabfall führt. Erst dies veranlasst die Betroffenen, den Allgemeinarzt oder Internisten aufzusu-
chen. Im Hinblick auf Lebensqualität und
Kosten wäre die gynäkologische Konsul-
tation einige Jahre vorher effizienter ge-
wesen, nicht zuletzt auch in Sachen Dia-
betesprävention.
Fazit: Frauenärzte mit endokrinologi-
scher Kompetenz und deren Fachgesell-
schaften sollten sich stärker für die Dia-
betesprävention ab der Menopause
einsetzen. Das wäre bei dieser kostspie-
ligen Erkrankung auch von volkswirt-
schaftlichem Interesse (7).
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Prof. Dr. med. J. Matthias Wenderlein Universitäts-Frauenklinik Ulm (emeritiert) Prittwitzstrasse 41 D-89075 Ulm E-Mail: wenderlein@gmx.de
Überarbeitete Version aus «Gyne» 2008; 1: 8–0 mit freundlicher Genehmigung und Aktualisierung des Autors und der Redaktion sowie des mmi-Verlags, Deutschland.
Quellen:
1. Hulley S. et al. (HERS Research Group): Noncardiovascular disease outcomes during 6,8 years of hormone replacement therapy: heart and estrogen/progestin replacement study follow-up (HERS II). JAMA 2002; 288: 58–66.
2. Writing Group for the Womens’ Health Initiative (WHI) Investigators: Risks and benefits of estrogen plus progestin in healthy postmenopausal women. JAMA 2002; 288: 321–333. The womens´s Health Initiative Steering Commitee: Effects of conjugated equine estrogens in postmenopausal women with hysterectomie. JAMA 2004; 291 (14): 1701–1712.
3. Tuomilehtho J. et al.: Prevention of type 2 diabetes mellitus by changes in lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance. NEJM 2001; 344: 1343–1350. Long-term Follow-up of the Finnish Diabetes Prevention Study. Medscape Diabetes& Endocrinoloy; C2007 Medscape.
4. The Diabetes Prevention Program Research Group: Effect of Treatment on Incidence of Diabetes. Placebo Metformin Lifestyle. Incidence of diabetes, NEJM 346: 393–403, 2002.
5. Grodstein F. et al.: Hormone therapy and coronary heart disease: the role of time since menopause and age of hormone initiation. J Womens`s Health 2006; 15, 35–44.
6. Häussler B. et al.: Bisherige Versorgungsstudien – «Weissbuch Diabetes». Der Diabetologe 2006; 2 (1).
7. Wenderlein, J.M.: Rechtzeitige HRT reduziert Gesamtmortalität bis 40% in: Der Frauenarzt 2006; 3: 208–209.
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