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Journal Club
Pille und gynäkologische Malignome: Diskussion um Langzeitschutz und Konsequenzen
Die Pille als OTC-Präparat?
Gute Nachrichten für die Kontrazeptionsberatung: Die Einnahme der Pille über Jahre trägt wesentlich dazu bei, das Risiko für Eierstockkrebs zu senken. Autoren einer grossen Fallkontrollstudie mit Daten von 45 epidemiologischen Studien aus
■ ein um 29% pro 5 Jahre verringertes Risiko, wenn die Pille vor weniger als 10 Jahren abgesetzt wurde
■ ein um 19% pro 5 Jahre verringertes
21 Ländern errechneten, dass weltweit 200 000 dieser Krebserkrankungen und
Risiko, wenn die Pille vor 10 bis 19
Jahren abgesetzt wurde
100 000 Todesfälle in den letzten 50 Jahren wegen der Pilleneinnahme vermieden ■ ein um 15% pro 5 Jahre verringertes
worden seien. Sie befürworten die öffentliche Bekanntmachung und die Freigabe
Risiko, wenn die Pille vor 20 bis 29
der Pille als OTC-Medikament.
Jahren abgesetzt wurde. Die relativen Risiken sind in der Tabelle
aufgeführt. Weitere mögliche Faktoren
Der Effekt des Schutzes vor Ovarialkarzi- ger verordnet wurden. Endpunkt der wie Alter bei der ersten Entbindung,
nom ist grundsätzlich schon seit Ende Studie war das relative Ovarialkarzinom- Familienanamnese für Brustkrebs, Meno-
der Siebzigerjahre bekannt. Da dieses risiko in Abhängigkeit von der OC- pausenstatus, HRT-Einnahme, Body-
Karzinom bei jungen Frauen sehr selten, Einnahme nach Abgleich der Resultate Mass-Index, Rauchen (u.a.) hatten keinen
aber mit steigendem Lebensalter immer bezüglich Quelle, Alter, Parität und wesentlichen Einfluss auf dieses Resultat.
häufiger auftritt, ist es von hohem öffent- Hysterektomiestatus.
Interessanterweise wirkten sich weder das
lichem Interesse, wie stark diese Risiko-
Alter bei der ersten Pilleneinnahme noch
minderung auch Jahrzehnte nach der
Unterdrückung der Eier-
die jeweils eingenommene Östrogendo-
letzten Pilleneinnahme anhält.
stockaktivität wirkt nachhaltig
sis aus. Allein die Inzidenz muzinöser Tumoren
Gesamtstudienkollektiv
Im gesamten Studienkollektiv nahmen (12% aller Ovarialtumoren) wurde durch
von über 100 000 Frauen
31% der Frauen mit und 37% der Frauen die Einnahme der Pille nicht wesentlich
Eine internationale Studiengruppe ana- ohne Ovarialkarzinom in ihrer Vergan- beeinflusst, sonst war die Inzidenzreduk-
lysierte auf der Basis dieser Fragestel- genheit die Pille ein, und zwar während tion für alle histologischen Typen gleich
lung Daten der Teilnehmerinnen aus 45 durchschnittlich viereinhalb bis fünf Jah- ausgeprägt.
epidemiologischen Ovarialkarzinomstu- ren. Das Durchschnittsalter bei der Eier- Für Länder mit einem hohen durch-
dien. Eingeschlossen wurden damit rund stockkrebsdiagnose war 56 Jahre (57% schnittlichen Einkommen berechneten
23 000 Frauen mit diesem Karzinom und waren älter als 55 Jahre).
die Autoren eine Reduktion der Ovarial-
rund 87 000 Kontrollen (1).
Es zeigte sich deutlich: Je länger Frauen karzinominzidenz bis zum 75. Lebensjahr
In den mittels Datenbankrecherchen die OC einnahmen, desto geringer war von 1,2 auf 0,8 pro 100 Frauen. Die Mor-
identifizierten Studien wurden nur solche das Eierstockkrebsrisiko (p < 0,0001). Die talität war von 0,7 auf 0,5 pro 100 Frauen, Arbeiten berücksichtigt, die mindestens Risikoreduktion hielt über mehr als 30 welche die Pille eingenommen hatten, 100 Frauen mit Ovarialkarzinom ein- Jahre an, schwächte sich allerdings mit gesunken. schlossen und die reproduktive Ana- der Zeit etwas ab. Es ergab sich: mnese einschliesslich der Einnahme ora- ler Kontrazeptiva (OC) dokumentierten. Die Information über die histologische Klassifikation der Ovarialtumoren wurde bei 33 der 45 Studien zusammengetragen. Bezüglich der Pilleneinnahme Tabelle: Relatives Risiko für Ovarialkarzinom bei Pillenanwenderinnen verglichen mit Nichtanwenderinnen (OC = orale Kontrazeptiva) flossen die Dauer, das erste und letzte Dauer der OC-Einnahme Fälle/Kontrollen RR und 99%-FCI* Lebensalter sowie das Kalenderjahr der nie 14 703/51 908 1,00 (0,96–1,04) Anwendung in die Analyse ein. Die Ka- weniger als 1 Jahr 1492/6353 1,00 (0,91–1,10) lenderjahre wiesen auf die Östrogendo- 1 bis 4 Jahre 2686/11 329 0,78 (0,73–0,83) sis der Pille hin, da vor 1970 typischer- 5 bis 9 Jahre 1562/7118 0,64 (0,59–0,69) weise sehr hohe Dosen von 100 µg, 10 bis 14 Jahre 655/3765 0,56 (0,50–0,62) zwischen 1970 und 1980 mittlere Dosen 15 Jahre und mehr 247/1639 0,42 (0,39–0,49) von zirka 50 µg und danach meist niedrige Östrogendosen von 30 µg und weni- *Relatives Risiko (RR) stratifiziert nach Studie, Alter, Parität und Hysterektomie GYNÄKOLOGIE 3/2008 31 Journal Club Künftig immer seltener gynäkologische Malignome durch die Pilleneinnahme? Die Autoren erwarten, dass in Zukunft die Zahl der verhinderten Karzinomfälle deutlich zunimmt, weil die Verhütung mit der Pille weltweit immer beliebter wird. Dies sollte besonders markant werden in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen, wo gemäss Schätzungen 80 Millionen von weltweit 120 Millionen Pillenanwenderinnen leben (Zahlen von 2002). Für die nächsten Jahrzehnte erwarten sie, dass pro Jahr 30 000 Erkrankungen weniger auftreten, mit weiterer Entwicklung nach unten. Kommentatoren in der gleichen Ausgabe des «Lancet» (2, 3) sehen aufgrund dieser Studienresultate einen neuen Standard in der Primärprävention des meist tödlichen Ovarialkarzinoms. Sie weisen darauf hin, dass dieser Tumor in den USA die höchste Mortalitätsrate von allen gynäkologischen Tumoren hat, trotz verbesserter Therapien. Wegen fehlender Screening-Möglichkeiten und spezifischer Symptome wird der Tumor fast immer erst im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, die meisten Frauen sind dann über 55 Jahre alt. Der Präventionseffekt für Ovarial-, und wie nachgewiesen auch für Endometriumkrebs durch die Pille sollte in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Sehr kontrovers werde über einen Effekt der OC-Einnahme auf das Brustkrebsund Zervixkarzinomrisiko diskutiert, eine Risikoerhöhung sei nicht nachgewiesen. Da mit den heutigen niedrig dosierten kombinierten Pillen mögliche kardiovaskuläre Nebenwirkungen gering sind und über lange Zeiträume verschwinden, sei eine frei verkäufliche Abgabe als OTCPräparat sinnvoll, sofern Kontraindikationen beachtet werden. Die Presse sollte über Gesundheitswirkungen der Pille berichten, so die Kommentatoren (3). ■ Bärbel Hirrle Quelle: 1. Collaborative Group on Epidemiological Studies of Ovarian Cancer: Ovarian cancer and oral contraceptives: collaborative reanalysis of data from 45 epidemiological studies including 23 257 women with ovarian cancer and 87 303 controls. Lancet 2008; 371: 303–314. 2. Franco, E.L. , Duarte-Franco, E.: Ovarian Cancer and oral contraceptives. Comment. Lancet 2008; 371: 277–278. 3. The case for preventing ovarian cancer. Editorial. Lancet 2008; 371: 275. 32 GYNÄKOLOGIE 3/2008