Transkript
SCHWERPUNKT
Das Urethralsyndrom
Prävalenz, Differenzialdiagnose,Therapie
Bei vermeintlichen «rezidivierenden Harnweginfektionen» ohne Erregernachweis liegt möglicherweise ein «Urethralsyndrom» vor. Obwohl gar nicht selten, bleibt dieses häufig unerkannt. Denn die typischen Beschwerden Pollakisurie, Algurie oder Dysurie sowie suprapubische Unterbauchschmerzen weisen auf eine klassische Harnweginfektion hin. Die übliche antibiotische Therapie ist häufig frustran.
DAVID SCHEINER, CORNELIA BETSCHART, STEFAN ZACHMANN, DANIEL FINK, DANIELE PERUCCHINI
Die Literatur zum Urethralsyndom stammt meist aus den Achtzigerjahren und früher. Der Begriff ist schlecht definiert und gilt bei gewissen Autoren sogar als veraltet (1). Allgemein wird das Urethralsyndrom als Entität bezeichnet, die ■ Harndrang ■ Pollakisurie (> 7 Entleerungen kleiner Harnmengen
pro Tag) oder Frequency (häufige Miktionen) ■ Dysurie (erschwerte, ggf. schmerzhafte Blasenent-
leerung) oder Algurie (schmerzhafte Harnentleerung) und ■ gelegentlich suprapubische und Rückenschmerzen sowie ■ Miktionsstörungen bei unauffälliger urogynäkologischer Untersuchung umfasst. Die unspezifischen Symptome variieren individuell, wobei Frequency, Harndrang und Dysurie am häufigsten auftreten. Sie können ebenfalls durch Harnwegsinfekte, Tumore, Blasensteine, interstitielle Zystitis oder andere Erkrankungen verursacht werden. Daher müssen diese Ursachen vor Diagnosestellung eines Urethralsyndroms ausgeschlossen werden. Das Urethralsyndrom ist eine Ausschlussdiagnose!
Hintergrund
Gallagher stellte fest, dass 41% der Frauen in der Allgemeinpraxis mit Symptomen einer Harnweginfektion einen sterilen Urin aufwiesen (2). Epidemiologische Daten zum Urethralsyndrom sind karg. Man geht mehrheitlich davon aus, dass es bei nulliparen Frauen im reproduktionsfähigen Alter – typischerweise zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr – auftritt. Gelegentlich wird das Syndrom auch bei Kindern und Männern beobachtet. Die Prävalenz wird bei Patientinnen mit Beschwerden des unteren Harntraktes auf 20 bis 30% geschätzt (3). Es kann nur «mild» ausgeprägt sein und trotzdem zu einer schlechten Lebensqualität mit Behinderung im Alltag führen. Viele Betroffene leiden gleichzeitig unter Depression, Angstzuständen oder anderen psychologischen Er-
krankungen. Häufig suchen sie verschiedene Ärzte auf und setzen sich so dem Risiko von Polypharmazie und Schmerzmittelabusus aus. Ätiologie und Pathogenese sind unklar. Früher postulierten einige Autoren eine Urethraobstruktion, die chirurgisch in gewissen Fällen mittels Urethradilatation oder -inzision behoben werden konnte, was jedoch in sich das Risiko für Inkontinenz birgt. Verschiedene Autoren untersuchten infektiöse Ursachen. Meist finden sich keine oder nur schwer nachweisbare Erreger wie Chlamydia trachomatis, Mycoplasma hominis oder Ureaplasma urealyticum. Einige Symptome sind möglicherweise durch Spasmen des äusseren Urethraschliessmuskels bedingt, was durch Symptome wie Staccato- oder prolongierte Miktion und erhöhten äusseren Sphinktertonus dokumentiert werden kann. Andere Autoren gehen von einer psychogenen Ursache aus. Allerdings konnte kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Urethralsyndrom und psychosomatischen Erkrankungen gefunden werden. Letztere scheinen eher eine Folge der chronischen Beschwerden zu sein. Genitalatrophie wird als weiterer Faktor diskutiert: Postmenopausaler Östrogenmangel führt zu atrophen Veränderungen in Blase und Urethra und begünstigt irritative Blasen- und Urethralsymptome. Eine aktuelle Theorie spricht von der «weiblichen Prostatitis» (4), hervorgerufen durch eine Entzündung der para-urethral gelegenen, der Prostata entsprechenden «Skene-Drüsen». Reaktion auf Nahrungsmittel, Dusch- oder Badeseife, spermizidhaltige Creme, Kondome, Überempfindlichkeit nach Harnweginfektion und Geschlechtsverkehr sind weitere vermutete Faktoren. Meist kann von einem multifaktoriellen Geschehen ausgegangen werden. Unabhängig von der Ursache kommt es zu Spasmen und Anspannung der Beckenbodenmuskulatur, und es beginnt ein «circulus vitiosus». Häufig persistieren die Beschwerden nach Beheben der Ursache und führen zu Ängsten und Frustration seitens der Patientin.
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SCHWERPUNKT
Tabelle:
Differenzialdiagnosen beim Urethralsyndrom
Betroffenes Organ/Verdachtsdiagnose Urethra
Blase
überaktive Blase Vagina Vulva
urogenitale Infekte Chronic Pelvic Pain neurogen Schwangerschaft
Differenzialdiagnose/Ursache Urethritis, Karunkel, Divertikel, Prolaps, Striktur, Papillome, Neoplasien infektiöse Zystitis, interstitielle Zystitis, Strahlenzystitis, Trigonitis, Blasensteine, Neoplasie neurogen, idiopathisch Kolpitis, Fremdkörper, Zystozele gutartige Läsionen, Vulvitis (HPV, Concylomata acuminata) Chlamydien, Gonokokken, Herpes zoster
Cauda equina, Diskushernie
Differenzialdiagnose
Die Differenzialdiagnose ist umfassend (Tabelle) (5). Mitunter ist die Unterscheidung zwischen einem Urethralsyndrom und einer milden Form einer interstitiellen Zystitis (Sonderform der abakteriellen Zystitis unklarer Ätiologie) schwierig. Diskutiert wird, ob die Schmerzsyndrome nicht verschiedene Punkte eines Spektrums gleicher generalisierter Krankheitsprozesse darstellen. Schliesslich ist die idiopathische überaktive Blase, definiert durch imperativen Harndrang mit oder ohne Inkontinenz und gewöhnlich von Pollakisurie und Nykturie begleitet (6), auszuschliessen.
Diagnostik
Anamnese Die Beschwerden der Patientin sind in der Regel lange vorbestehend und frustran behandelt worden. Typisch für das Urethralsyndrom ist eine Pollakisurie oder Frequency bei wenig ausgeprägter Nykturie. Suprapubische Schmerzen sind weniger konstant und gravierend als bei der interstitiellen Zystitis, werden zum Teil durch die Miktion gelindert und stören die Nachtruhe nicht. Dysurie kann als differenzialdiagnostischer Hinweis gesehen werden: Ein konstanter urethraler Reiz oder Schmerz während der Miktion weist eher auf ein Urethralsyndrom. Ein brennender oder stechender suprasymphysärer Schmerz am Ende der Miktion (wenn sich die Blase kontrahiert) weist dagegen typischerweise auf einen akuten Harnwegsinfekt. Dysurische Be-
schwerden treten auch bei Vulvitiden (z.B. Herpes genitalis, Soor oder HPV) und Vulvodynie bei Atrophie oder Ekzem auf, sobald der Harn die Vulva berührt. Vermehrter oder auffälliger Ausfluss oder Juckreiz suggerieren eine Vulvitis oder eine Kolpitis. Dysmenorrhö oder Dyspareunie sind Symptome einer Endometriose, welche – selten – auch die Blase befallen kann. Eine Schwangerschaft ist auszuschliessen. Sexuelle Gewohnheiten, wie wenig behutsame Sexualpraktiken, prolongierter Oralverkehr oder Geschlechtsverkehr in chlorhaltigem Wasser oder Verhütung mit spermizidhaltigen Cremes oder beschichteten Kondomen reizen die Schleimhäute und begünstigen das Urethralsyndrom. Beim postkoitalen Urethralsyndrom hingegen handelt es sich um eine abakterielle Urethritis («Honeymoon-Zystitis»), die innerhalb von Stunden aufritt. Längere Fahrten in schlecht gefederten Fahrzeugen, Reiten oder längere Velofahrten irritieren die Urethra ebenso wie das Tragen von Stringtangas oder engen Bluejeans. Gewisse Medikamente, speziell Diuretika, ein schlecht eingestellter oder nichtdiagnostizierter Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, Voroperationen oder Bestrahlung im kleinen Becken können eine überaktive Blase (Reizblase) verursachen und ein Urethralsyndrom vortäuschen. Neurologische Auffälligkeiten wie häufige Stürze, Hinken oder andere neurologische Symptome können auf ein ZNS-Problem hinweisen. Neurologische Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Enzephalitis disseminata (MS) können eine neurogene
überaktive Blase verursachen. MS und Urethralsyndrom betreffen übrigens dieselbe Altersgruppe. Diffuse Blasensymptome sind häufig Erstsymptome einer multiplen Sklerose.
Klinische Untersuchung Die gynäkologische Untersuchung von Vulva, Vagina und Urethra ist beim Urethralsyndrom meist bland und bezweckt den Ausschluss von Infektionen, Neoplasien oder Fremdkörpern. Gleichzeitig werden Trophik und ein allfälliger Genitaldeszensus beurteilt. Zum Ausschluss einer Infektion mit Chlamydien, Gonokokken oder Mykoplasmen werden Zervikal- und Urethralabstriche entnommen. Verdächtig auf ein Urethralsyndrom ist eine dolente vordere Vaginalwand. Bei der Palpation soll zudem auf Tumore oder Urethraldivertikel geachtet werden. Gelegentlich lässt sich Sekret oder Pus exprimieren. Die neurologische Untersuchung (insb. Höhe S2–4) umfasst die Spitz-StumpfDiskrimination an den Oberschenkelinnenseiten sowie äusseren Labien. Eine lokalisierte Hypersensibilität kann auf einen Herpesinfekt hinweisen, eine generalisierte Hyper- oder Hyposensiblität auf eine neurologische Erkrankung. Der Urin wird auf einen Infekt untersucht. Erhöhte Glukosewerte weisen auf einen unkontrollierten Diabetes mellitus, der eine «Frequency» verursachen kann. Situationsabhängig soll ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden.
Apparative Untersuchung Sonografisch können Urethra und allfällige Urethraldivertikel sowie das kleine Becken beurteilt werden. Die Zystoskopie dient dem Ausschluss von Blasen- oder Urethraldivertikeln, Neoplasien, Fremdkörpern, Nahtmaterial, Blasensteinen, Plattenepithelmetaplasien («Trigonumleukoplakie»), einer Trigonitis oder Urethritis: Erythematöse Veränderungen, entzündliche Polypen, Urethritis oder Leukoplakie suggerieren einen (chronischen) Infekt. Zum Ausschluss einer neurogenen oder idiopathischen überaktiven Blase kann die urodynamische Untersuchung mit Zystotonometrie indiziert werden.
Therapie
Gleich vorneweg: Die «eine wahre» Therapie des Urethralsyndroms existiert bei
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SCHWERPUNKT
diesem multifaktoriellen Krankheitsbild nicht. Ziel ist die Linderung der Beschwerden und Reduktion der Frequency. Die Initialtherapie hängt von der vermuteten Ursache ab. Die drei Säulen der Therapie sind: ■ Medikamentöse Therapie: Diese um-
fasst die konsequente lokale Östrogenisierung über mehrere Monate bei postmenopausalen Patientinnen, ferner Antibiotika, Anticholinergika und gegebenenfalls Antidepressiva. ■ Physiotherapie: Beckenbodenrehabilitation mit Biofeedback ist gerade bei denjenigen Frauen hilfreich, die den Beckenboden zur Miktion nicht entspannen können. ■ Diätetische Massnahmen: Diese bezwecken das Anheben des Urin-pH. Wird als Ursache des Urethralsyndroms ein chronischer Infekt postuliert (wobei ein Erregernachweis häufig [falsch-]negativ sein kann), so ist ein Therapieversuch nach dem «trial by error»-Prinzip mit beispielsweise Doxycyclin (7) oder einem Chinolon wie Norfloxacin gerechtfertigt (siehe Kasten). Zur Vermeidung einer Reinfektion (Ping-Pong-Effekt) durch den Partner sollen während der Therapie beim Geschlechtsverkehr Kondome benutzt und der Partner eventuell mitbehandelt werden. Die Erfolgsrate wird mit 71% angegeben. Unsere eigene Erfahrung mit dem kostengünstigen Doxycyclin zeigt, dass Algurie, Frequency, suprasymphysäre Schmerzen oder Dyspareunie gut darauf ansprechen, bei einer Erfolgsrate von 78%. 10% der behandelten Patientinnen berichteten unter Doxycyclin über gastrointestinale Nebenwirkungen oder Hautexantheme. Das Prinzip der Diät liegt in der Alkalisierung des Urins sowie in der Vermeidung der Exkretion von reizenden Substanzen. Gemüse, Früchte und Milchprodukte reduzieren den Säuregrad des Urins. Ansäuernde Lebensmittel wie Gewürze sollen vermieden werden. Eine genügend hohe Flüssigkeitszufuhr, idealerweise Wasser, ist wichtig, da konzentrierter Urin einen tieferen pH-Wert und eine höhere Konzentration von Reizstoffen aufweist. Reizungen durch Seifen, Tampons und enge Kleidung sollen vermieden werden. Hilfreich scheinen sportliche Aktivität und Yoga zu sein. Spazierengehen
Kasten:
Behandlungsvorschlag beim Urethralsyndrom
Bei Verdacht auf Infekt: ■ Doxycyclin 100 mg Tbl.
Schema 1-0-1 für 14 Tage, gefolgt von 1-0-0 für weitere 14 Tage ■ lokale Desinfektion, z.B. Vagi-Hex® Vaginaltabletten
Schema: 1 x 1 für 6 Nächte ■ Ggf. lokale Östrogenisierung, z.B. Orthogynest® D Vaginalovula
Schema: 1 x 1 wöchentlich
Zu beachten: Mögliche Nebenwirkungen der Doxycyclinbehandlung: – erhöhte Empfindlichkeit gegenüber UV-Exposition (Sommer, Meer, Berge) – Nausea, Erbrechen, Diarrhö
Geschätzte Kosten für Doxycyclin (präparatabhängig): Fr. 37.90
oder Joggen wirken antidepressiv. Die Patientinnen sollen emotional unterstützt und zur Therapie ermutigt werden. Da eine psychosomatische Komponente beim Urethralsyndrom diskutiert wird, ist eine psychosomatische Therapie in Einzelfällen hilfreich. Problematisch kann die psychologische Beeinflussung der Patientinnen durch die chronischen Beschwerden sein, sodass an eine psychiatrische, psychologische oder Schmerzbetreuung gedacht werden muss. Die Symptome werden in der Regel mit zunehmendem Alter der Patientin milder, können aber durchaus ein Leben lang bestehen. Bei Verschlechterung der Symptomatik soll erneut auf eine Harnweginfektion und auf Malignität untersucht werden.
Alternatives Vorgehen
Die chirurgische Behandlung des Ure-
thralsyndroms wurde verlassen. Bei Pati-
entinnen mit medikamentenrefraktärem
Urethralsyndrom und bei gleichzeitigem
Vorliegen einer Trigonitis hat die Nd:YAG-
Laserablation der Plattenepithelmeta-
plasie am Blasenhals/Trigonum ge-
wisse Erfolge gezeigt (8). Zu bedenken
ist aber, dass ein exspektatives Vorgehen
eine Besserung in 85% der Fälle zeigte
(9, 10).
■
Dr. med. David Scheiner (Korrespondenzadresse) Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich E-Mail: david.scheiner@usz.ch
Weiterführender Link: http://www.emedicine.com/med/topic3081.htm
Quellen: 1. Bogart LM, et al.: Symptoms of Interstitial Cystitis, Painful Bladder Syndrome and Similar Diseases in Women: A Systematic Review. J. Urology, 2007; 77: 450–456. 2. Gallagher DJ, et al.: Acute Inections of the urinary tract and the urethral syndrome in general practice. BMJ 1965; 1: 622–6. 3. Scotti RJ, et al.: Predictive value of urethroscopy as compared to urodynamics in the diagnosis of genuine stress incontinence. J Reprod Med. 1990; 35(8): 772–6. 4. Gittes RF, Nakamura RM,: Female urethral syndrome. A female prostatitis? West J Med. 1996; 164(5): 435–8. 5. Terris A, et al.: Urethral Syndrome. www.emedicine.com/med/TOPIC3081.HTM. May 22, 2006. 6. Abrams P, et al.: The standardisation of terminology in lower urinary tract function: report from the standardisation sub-committee of the International Continence Society. Urology 2003; 61: 39–49. 7. Burkhard FC, et al.: Urinary urgency and frequency, and chronic urethral and/or pelvic pain in females. Can doxycycline help? J Urol. 2004; 172: 232–5. 8. Costantini E, et al.: Treatment of urethral syndrome: a prospective randomized study with Nd:YAG laser. Urol Int. 2006; 76(2): 134–8. 9. Carson CC, et al.: Evaluation and treatment of the female urethral syndrome. J Urol. 1980; 124(5): 609–10. 10. Zufall R: Ineffectiveness of treatment of urethral syndrome in women. Urology. 1978; 12(3): 337–9.
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