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Osteoporosepatienten: Mit Vitamin D unterversorgt
Neue Erkenntnisse zur Bedeutung von Vitamin D und Kalzium
60 Prozent der Schweizer Hüftfrakturpatientinnen und -patienten leiden an einem schweren Vitamin-DMangel. Besonders betroffen sind Personen aus Alters- und Pflegeheimen, aber auch ältere Personen, die unabhängig zu Hause leben. Dies ergab eine Untersuchung an 222 Patientinnen und Patienten im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Muskuloskeletale Gesundheit – chronische Schmerzen». Eine neue Metaanalyse zeigt dagegen, dass die Bedeutung der ausschliesslichen Kalziumsubstitution überschätzt wird.
SCHWEIZER NATIONALFONDS (STUDIENTEAM), HEIKE BISCHOFF-FERRARI
Mehrere Studien haben gezeigt, dass die tägliche Einnahme von Vitamin D das Risiko für eine Hüftfraktur um zirka ein Viertel verringern kann. Ein Forschungsteam um Prof. Heike Bischoff-Ferrari und PD Dr. med. Robert Theiler, Universitätsspital und Stadtspital Triemli, Zürich, untersuchte im Verlaufe eines Jahres 222 Patienten über 65 Jahre, die in der Stadt Zürich aufgrund einer Hüftfraktur hospitalisiert wurden, und bestimmte ihren Vitamin-D-Spiegel. Die Untersuchung (1) brachte Überraschendes zutage: Ein schwerer Vitamin-D-Mangel wurde bei der Hälfte der Patienten festgestellt, die zuvor zu Hause gelebt hatten. Bei Hüftbruchpatienten aus Alters- oder Pflegeheimen lag dieser Prozentsatz aber noch höher, nämlich bei 72 beziehungsweise 76%. Nur 4% der eingewiesenen Patienten verfügten über einen ausreichenden Vitamin-D-Spiegel (75 nmol/l), und weniger als 10% hatten Vitamin D in jeglicher Dosierung erhalten. «Unsere Untersuchung ergab, dass die im Blut der Patienten gemessenen Vitaminspiegel generell mehr als 50% unterhalb der Marke lagen, welche die Patienten eigentlich haben müssten, wenn sie die vorgeschriebene Menge an Vitamin D erhalten würden», erklärte Bischoff-Ferrari. Die Schweizerische Vereinigung gegen Osteoporose zum Beispiel schlägt für Personen über 65 Jahre eine tägliche Menge von mindestens 800 IU Vitamin D vor. «Nur 6% aller untersuchten Hüftbruchpatienten hatten die vorgeschlagene Menge an Vitamin D erhalten. Die Richtlinien für die Vitamin-D-Einnahme müssen daher breiter bekannt gemacht und besser umgesetzt werden», so die Osteoporosespezialistin und Leiterin der Klinischen Forschung Rheumatologische Klinik und Institut für Physikalische Medizin USZ Zürich. Die Stadt Zürich unterstütze seit Januar 2007 ein Projekt, das die Barrieren für eine genügende Vitamin-D-Versorgung erfassen und aufheben soll.
Bis zu einem Viertel stirbt nach Hüftfraktur
In der Schweiz erleiden jedes Jahr mehr als 8600 ältere Frauen und Männer eine Hüftfraktur aufgrund von Osteoporose. Die Folgen eines solchen Bruchs sind oft gravierend: 15 bis 25% aller Patientinnen und Patienten versterben innerhalb eines Jahres. Viele andere sind danach bleibend behindert, die Hälfte erreicht nicht mehr die gleiche Mobilität wie vor dem Hüftbruch. Rund ein Fünftel kann anschliessend nicht mehr nach Hause zurück und muss in Pflegeheimen medizinisch betreut werden – mit beträchtlichen Folgen für das Gesundheitssystem.
Die Bedeutung des Vitamin D wird weithin unterschätzt ...
Dass Vitamin D für starke Knochen wichtig ist, wissen viele nicht. Doch Vitamin D fördert die Aufnahme von Kalzium und Phosphat (wie das Kalzium ein wichtiger Bestandteil der Knochen) im Darm und den Einbau von Kalzium in die Knochen. Zudem stärkt Vitamin D die Muskulatur und wirkt damit Stürzen entgegen. Vitamin D kommt in der Nahrung nur sehr beschränkt vor. Es wird im Körper selbst hergestellt – vorausgesetzt, die Haut wird täglich etwa 20 Minuten der UVB-Strahlung der Sonne ausgesetzt. Allerdings ist die Sonne nicht ohne Risiko und keine verlässliche Quelle, da die Sonne das Hautkrebsrisiko erhöht und bei älteren Personen die hauteigene Vitamin-D-Produktion unter Sonnenbestrahlung vierfach abnimmt. Zudem können im Winter in der Schweiz und in ganz Europa junge und ältere Menschen nicht ausreichend Vitamin D produzieren, da die Sonnenintensität nicht ausreicht. Auch der sehr wichtige Sonnenschutz trägt zu einer Abnahme der hauteigenen Vitamin-D-Produktion bei. «Daher sind Vitamin-D-Tröpfchen oder-Tab-
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letten sinnvoll, bei älteren Personen auch im Sommer», sagt Heike BischoffFerrari.
... und Kalzium allein möglicherweise überschätzt
Verbreitet ist die Ansicht, man müsse vor allem viel Kalzium zu sich nehmen, um die Knochen zu stärken. «Doch während klar belegt ist, dass Vitamin D Hüftfrakturen verhindert, gibt es keine soliden wissenschaftlichen Daten für eine solche Wirkung beim Kalzium», so BischoffFerrari. Dass Kalziumpräparate Knochenbrüche nicht reduzieren, hat die Wissenschaftlerin zusammen mit einem internationalen Expertenteam gerade kürzlich in einer Metaanalyse (2) belegt, die sie mit Unterstützung ihrer SNF-Förderungsprofessur durchführte. Ausgewertet wurden dazu acht Kohortenstudien, fünf randomisierte klinische Studien sowie zwei kleinere Studien mit insgesamt fast 180 000 Datensätzen (vgl. Kasten 2). «Wir konnten keinen schützenden Effekt von Kalzium auf das Hüftfrakturrisiko finden. Im Gegenteil, es gibt Hinweise, dass Kalziumtabletten das Risiko für eine Hüftfraktur sogar erhöhen.» Die Forscher erklären sich dieses Resultat mit einem wahrscheinlichen Phosphatmangel, der bei älteren Personen häufig vorkommt und möglicherweise durch Kalziumtabletten (Citrat oder Carbonat) verstärkt wird. Reine Kalziumpräparate können die Phosphataufnahme aus dem Darm hemmen, wie eine Studie (3) aus dem Jahr 2002 gezeigt hat, und dadurch möglicherweise zu einem Knochenabbau beitragen. Zukünftige Studien auf diesem Gebiet sollten daher die optimale Dosierung von Vitamin D in Kombination mit Kalzium und Phosphat untersuchen. Kalzium allein sei keine gute Strategie zur Verhinderung von Hüftbrüchen.
Folgerungen für die Praxis
«Es braucht sicher eine gewisse Menge an Kalzium, wahrscheinlich aber nicht soviele, wie heute empfohlen wird, vor allem, wenn parallel Vitamin D eingenommen wird. Wer über Nahrungsmittel 700 bis 800 mg Kalzium zuführt plus mindestens 800 IU Vitamin D pro Tag über Tropfen oder Tabletten einnimmt, tut viel für seine Knochengesundheit. Für die Kalziumversorgung sind dabei
Nur die kombinierte Gabe von Kalzium/Vitamin D ist sinnvoll
Ergebnisse einer aktuellen Metaanalyse aus 21 Studien
Eine gross angelegte Metaanalyse unter Schweizer Leitung (2) ergab, dass die alleinige Kalziumgabe das Risiko für Hüft- und nichtvertebrale Frakturen nicht reduziert. Die Autoren erklären dies mit einem kalziuminduzierten Phosphatmangel und empfehlen die kombinierte Vitamin-D/Kalzium-Gabe zur Verringerung des Bruchrisikos. Weitere Studien sollen optimale Kombinationen und Dosierungen klären.
Die Kalziumsubstitution beziehungsweise der Verzehr kalziumreicher Nahrungsmittel wie Milch wird zur Osteoporose- und Frakturprävention empfohlen. Primär basieren diese Empfehlungen auf Evidenz durch randomisierte Kontrollstudien zur Knochendichte als definiertem Endpunkt. Eine Metaanalyse solcher Studien bei postmenopausalen Frauen zeigte 2004, dass die alleinige Kalziumsupplementierung (500 bis 2000 mg/Tag) nur einen bescheidenen Nutzen bringt. Unklar blieben der Effekt für das Frakturrisiko sowie die optimale Dosis (unterschiedliche Empfehlungen für Erwachsene über 50 Jahre, z.B.: 700 mg Ca/Tag im UK; 1200 mg Ca/Tag in den USA). Wenig erklärt blieb (bleibt) ferner das präventive Potenzial des Kalziums, auch im Vergleich zu Vitamin D – welches heute meist in Kombination mit Kalzium gegeben wird. Ausgewertet wurden in der Metaanalyse: 1. sieben prospektive Kohortenstudien (170 991 Frauen, fast 300 Hüftfrakturen) 2. fünf prospektive Kohortenstudien (68 606 Männer, 214 Hüftfrakturen) 3. fünf klinische Studien (5666 v.a. postmenopausale Frauen plus 1094 Männer mit 814 nichtverte-
bralen Frakturen) 4. vier klinische Studien (6504 Patienten mit 139 Hüftfrakturen).
Erschreckende Ergebnisse Gepoolte Resultate aus den prospektiven Kohortenstudien lassen vermuten, dass die alleinige Kalziumeinnahme das Hüftfrakturrisiko nicht signifikant beeinflusst, und zwar weder bei Frauen noch bei Männern. Die Resultate der randomisierten plazebokontrollierten Studien zeigen keine Reduktion des Frakturrisikos durch die Kalziumeinnahme; sogar ein erhöhtes Risiko erscheint möglich. Für Hüftfrakturen war das Risiko unter der alleinigen Kalziumgabe sogar signifikant erhöht (64%). Für nichtvertebrale Frakturen war der Effekt neutral. Im Detail: Bei den Analysen 1 und 2 betrug die gepoolte Risikorate (RR) für 300 mg Gesamtkalzium pro Tag 1,01 (95%-KI, 0,97–1,05) bzw. RR 0,92 (95%-KI, 0,82–1,03). In den Analysen 3 und 4 betrug die RR für nichtvertebrale Frakturen (Analyse 3) unter Kalziumsupplementierung von 800 bis 1600 mg/Tag versus Plazebo 0,92 (95%-KI, 0,81–1,05) und für Hüftfrakturen (Analyse 4) RR 1,64 (95%-KI; 1,02–2,64).
Aktuelle Erklärungsversuche Die Autoren vermuten, dass bei den betagten Frauen mit hohem Hüftfrakturrisiko in den klinischen Studien andere Defizite schwer wiegen: Ein ausgeprägter Mangel an Vitamin D und an Phosphat (durch eine geringe Proteinzufuhr) müsse behoben werden bei gleichzeitiger adäquater Kalziumeinnahme, so das Statement. Kalziumkarbonat- oder Kalziumcitratsupplemente können die Phosphatabsorption verringern, was sich gefährlich auswirken kann, da ein ausgewogenes Verhältnis von Kalzium zu Phosphat für eine gute Knochenmineralisierung benötigt wird. In der Studie von Chapuy et al. aus dem Jahr 2002 hatte sich ein günstiger Effekt auf das Frakturrisiko gezeigt, weil Vitamin D plus Kalzium eingenommen wurde, und zwar Trikalziumphosphat (welches den kalziuminduzierten Phosphatmangel vermieden hat). Resultate weiterer Studienergebnisse unterstützen diese Option.
hir
vor allem bei älteren Personen Milchprodukte ideal (1 Glas Milch oder eine Scheibe Hartkäse enthalten 300 mg Kalzium). Diese enthalten neben Kalzium auch phosphathaltige Eiweisse und sind deshalb vermutlich die besseren Kalziumquellen als Kalziumtabletten. Mit den
günstigen Vitamin-D-Tropfen kann man
den Vitamin-D-Spiegel im Blut verläss-
lich erhöhen und steigert damit auch
noch die Kalziumaufnahme.»
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Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari
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Quellen: Medienmitteilung des Schweizerischen Nationalfonds vom 7.12.2007. (www.snf.ch) Persönliche Mitteilung Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari
Literatur: 1. Bischoff-Ferrari H.A., Can U., Staehelin H.B., Platz A., Henschkowski J., Michel B.A., DawsonHughes B., Theiler R.: Severe Vitamin D Deficiency
in Swiss Hip Fracture Patients. Bone. Online-Publikation, 28. November 2007.
2. Bischoff-Ferrari H.A., et al.: Calcium Intake and Risk of Hip Fracture in Men and Women: A MetaAnalysis of Prospective Cohort Studies and Randomized Controlled Trials. American Journal of Clinical Nutrition, Online-Publikation. 7. Dezember 2007.
3. Heaney R.P., Nordin B.E.: Calcium effects on phosphorus absorption: implications for the prevention and co-therapy of osteoporosis. Journal of the American College of Nutrition 2002; 21(3): 239–44.
Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari (Korrespondenzadresse) Rheumatologische Klinik und Institut für Physikalische Medizin UniversitätsSpital Zürich Gloriastrasse 25 8091 Zürich Tel. +41 (0)43 844 01 77 E-Mail: Heike.Bischoff@usz.ch
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