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Neue Therapien bei Genitaldeszensus
Empfehlungen für die Behandlung
Genitaldeszensus respektive Harninkontinenz ist bei Frauen über 55 Jahre sehr häufig; die Defekte können zu einem grossen Leidensdruck führen. Der Artikel informiert über typische Senkungszustände und moderne Behandlungsmöglichkeiten, deren Indikationen sowie Vor- und Nachteile.
STEFAN ZACHMANN, DAVID SCHEINER
Die Prävalenz ist hoch. Schätzungsweise jede dritte Frau im Alter über 55 Jahren leidet an einem Genitaldeszensus. Für die Schweizer Bevölkerung fehlen konkrete Zahlen, doch kann man in dieser Altersgruppe (1 167 000 Frauen im Alter von 55 Jahren oder mehr) von 380 000 betroffenen Frauen ausgehen (Bundesamt für Statistik, ESPOP 2006). Mit zunehmendem Alter steigt die Inzidenz. Angesichts der demographischen Alterung wird für die nächsten 30 Jahre mit einem Anstieg um 45% gerechnet. So ist es verständlich, dass (auch die jüngeren) Patientinnen nicht mehr bereit sind, sich für den Rest ihrer deutlich verlängerten Lebenszeit mit diesem Leiden abzufinden.
Senkungszustände: beeinträchtigte Lebensqualität
Genitalsenkungen führen neben einer Schmerzsymptomatik zu Einschränkungen der Miktions- und Defäkationsfunktionen und beeinträchtigen das Sexualleben. Aus Scham vermeiden es gerade ältere Patientinnen oft, das Problem anzusprechen. Die Betroffenen planen häufig ihren Tagesablauf nach «Erfordernissen ihres Leidens»: Sie vermeiden viele Freizeitaktivitäten, ändern ihr Trinkverhalten, tragen Vorlagen (u.v.m.) und entwickeln teilweise pathologische Verhaltensmuster, um peinliche Situationen zu vermeiden. Nicht selten wird die Partnerschaft empfindlich belastet. Konflikte mit den Angehörigen, soziale Isolation bis Depression führen zu einer zusätzlichen psychosomatischen Komponente des Krankheitsbilds. Eine über Jahre andauernde Chronifizierung erschwert die Heilung.
Gesamtsystem Beckenboden: vielfältige Aufgaben
Der Beckenboden ist als ein Gesamtsystem zu verstehen, dessen Integrität massgeblich die Miktions-, Defäkations- sowie die Sexualfunktion bestimmt. Zu beachten ist, dass der Beckenboden vielfältige Aufgaben erfüllt und zugleich über eine grosse Elastizität verfügen muss, um den Geburtsvorgang zu
ermöglichen. Parität, Geburtsmodus, Veranlagung, schwere körperliche Arbeit, Alter, Östrogenmangel sind entscheidende Faktoren, die die Beckenbodenfunktionen beeinträchtigen oder gar zerstören können. Bei Problemen liegen meist Defekte der endopelvinen Faszie, einer funktionellen Einheit verschiedener Ligamente und Faszien, vor. Hinzu kommen zerstörte Muskulatur oder zumindest Ausrisse an deren Ansätzen. Die Störungen dieser Strukturen sind vielfältig und in zahlreichen Kombinationen möglich. Allen gemeinsam ist der Fixierungsverlust von Teilen der Scheidenaufhängung mit Protrusion von dahinter liegenden, teilweise intraperitonealen Organen. Es handelt sich im weitesten Sinne um Bauchwandhernien.
Typische Senkungsformen
Sehr kurz zusammengefasst lassen sich folgende charakteristischen Defekte unterscheiden: ■ Beim Descensus vaginae anterior liegt ein Defekt
der vorderen Scheidenwand vor (Zystozele). Hierbei kann es durch Verlagerung des Blasenhalses zu Restharn respektive Harnverhalt kommen. Eine Stressharninkontinenz kann larviert werden. Für die Behandlung einer solchen ist eine Stabilisierung vor allem des anterioreren Defekts der Scheide unumgänglich. ■ Bei dem Descensus vaginae posterior wölbt sich die Rektumampulle durch das ohnehin nur sehr spärlich mit Bindegewebe ausgekleidete Spatium rectovaginale nach einem Ausriss der Lamina rectovaginalis in die Scheide hinein. In dieser entstandenen Aussackung trocknet der Stuhl ein, und Defäkationsprobleme sind die Folge. ■ Bei dem Descensus vaginae totalis handelt es sich um einen ausgedehnten Defekt, bei dem sich der Scheidengrund respektive die Zervix absenkt. In jedem Fall muss einer der beiden zuerst genannten Defekte vorhanden sein. Zusätzlich deszendiert der Scheidengrund im schlimmsten Fall vor den Introitus (Totalprolaps).
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Abbildung 1: Abdominale Sakrokolpopexie Die Scheide wird frei präpariert. Unter die Blase und oberhalb des Rektums wird ein Netz grossflächig «aufgesteppt» und spannungsfrei mit dem Ligamentum longitudinale des Os sacrum verbunden. Erforderlich ist eine subtile aufwändige Präparation, dabei kann laparoskopisch vorgegangen werden. Für das Verfahren existieren Langzeitergebnisse von über zehn Jahren. Aufgrund der erwiesenen hohen Nachhaltigkeit und geringen Protrusionsrate ist es besonders für jüngere Patientinnen geeignet.
Ältere Operationsverfahren: Grenzen
Vor der operativen Sanierung stellen sich drei Grundfragen: ■ An welchen Punkten lässt sich das ge-
senkte Gewebe stabil verankern? ■ Findet sich genügend Eigenmaterial,
um die Distanz zu diesen Ankerpunkten zu überbrücken? ■ Was ist das richtige Material: – Eigengewebe im Bereich der Läsion – biologisches Fremdgewebe – synthetisches Fremdgewebe? Es gibt eine Vielzahl etablierter Methoden, die ausschliesslich Eigenmaterial verwenden. Bei der vorderen und hinteren Kolporrhaphie erfolgt eine Raffung des Bindegewebes der Scheide unterhalb der Blase beziehungsweise oberhalb des Rektums sowie der Scheidenhaut selbst. Der deszendierte Uterus wird dabei meist mit entfernt. Häufig wird dieser Eingriff mit der Operation nach Amreich/Richter kombiniert, bei der der Scheidengrund rechtsseitig am Lig. sacro-spinale oder (bei Amreich II) an das Lig. sacrotuberale fixiert wird. Bei richtiger Indikationsstellung sowie Durchführung sind die Ergebnisse oft zufriedenstellend. Seltener wird eine sogenannte Kolpokleisis durchgeführt, bei der die Scheide maximal verengt und bis zum Harnröhrenausgang zugenäht wird. Die Sanierung
Abbildung 2: Infracocygeale Fixierung zur Sanierung eines Defekts im hinteren Kompartiment Hier wird ein stricknadelähnliches Instrument durch die Glutealmuskulatur lateral des Anus eingestochen und retrolevatoriell am Rektum vorbei und über die kraniale Levatorkante durch die endopelvine Faszie bis zum Ansatzpunkt der Sakrouterinligamente geführt. Dann wird an der Spitze des Instruments ein Band befestigt und durch den Stichkanal zurückgezogen. Dies geschieht auf beiden Seiten. Durch diese Technik sollen die Sakrouterinligamente rekonstruiert und der Scheidengrund an seiner Position gehalten werden.
einer eventuell bestehenden Inkontinenz, geschweige denn Geschlechtsverkehr sind dann nicht mehr möglich. Die Möglichkeiten einer Rekonstruktion der Funktionalität sind bei diesen Verfahren limitiert. Die Defektdistanz ist so gross, dass an den Rändern eine grosse Zugbelastung entsteht. Es bildet sich zwar eine Narbenplatte, deren seitliche Verankerung kann allerdings bei grösserer Belastung ausreissen. Gemäss Literaturangaben muss in zirka 30% der Fälle mit Rezidiven gerechnet werden. Eine Erhebung aus dem Jahr 1995 ergab, dass von zirka 150 000 Frauen über 20 Jahre bei 11,1% ein Risiko für eine Deszensusoperation besteht und von diesen bei 29,2% das Risiko für eine Zweitoperation (Olsen et al. Obstet Gynecol. 1997). Durch die Myorraphien, insbesondere bei der hinteren Kolporrhaphie, wird die verwendete Muskulatur durch die Spannung derartig strapaziert, dass sie denerviert und zu Bindegewebe umgebaut wird. Für die Beckenbodenkontraktion steht sie dann nicht mehr zur Verfügung. Wie wichtig das richtige Operationsverfahren ist, lässt sich an der Unterscheidung zwischen einem lateralen Defekt (Traktionszystozele) und einem medianen Defekt (Pulsionszystozele) aufzeigen: Bei der Pulsionszystozele handelt es sich um eine Läsion des Bindegewebes respektive der Scheidenfaszie direkt unterhalb der Blase. Seitlich ist die Fixie-
Abbildung 3: Transobturatoriell fixiertes Mesh zur Sanierung eines Defekts im vorderen Kompartiment Ein sehr neues und sehr vielversprechendes Verfahren zur Therapie einer Traktionszystozele. Nach Eröffnen der vorderen Vaginalwand und Dissektion der Scheidenhaut von der Blase nach lateral wird über einen Einstich in der Schenkelbeuge ein spiralförmiges Instrument am Ober-, dann am Unterrand des Foramen obturatum durchgeführt und aus der vaginalen Inzision geleitet. Dies geschieht beidseitig. Bänder, die an allen vier Ecken eines rechteckig geschnittenen Netzes befestigt sind, werden durch den Stichkanal gezogen. Das Netz kommt spannungsfrei unter der Traktionszystozele zum Liegen. Nach weiteren Nahtfixierungen schliesst dieses Netz die Bruchlücke.
rung vorhanden. Bei der Traktionszystozele verhält es sich umgekehrt. Während eine Pulsionszystozele mit einer konventionellen vorderen Kolporrhaphie saniert werden kann, ist dies bei der Traktionszystozele nicht möglich, da die Defektdistanz über die gesamte Scheidenbreite reicht. Eine Raffung des vesikovaginalen Gewebes würde eine Spannung an der ohnehin lädierten lateralen Aufhängung schaffen, sodass bei schon geringer Belastung ein Rezidiv die Folge sein kann. Behandelt man umgekehrt die Pulsionszystozele mit einer lateralen Fixierung, würde man nur die Bruchpforte erweitern.
Moderne Operationstechniken: neue Zugangswege und Fremdmaterial
In jüngster Zeit finden Umwälzungen bei der Wahl des Operationsverfahrens statt, die man durchaus als revolutionär bezeichnen kann. Kombinationseingriffe aus Zugangswegen über das Foramen obturatum und der Vagina machen abdominale Eingriffe vermeidbar. Perioperativ konnte dabei die Morbidität gesenkt werden, ebenso die frühzeitige Rezidivrate. Möglich wurde dies durch den Einsatz von Polypropylennetzen, die in der Leis-
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tenbruchchirurgie schon seit vielen Jahren etabliert sind. Da es sich bei einem Genitaldeszensus im weitesten Sinne um eine Hernie handelt, ist die analoge Behandlung nahe liegend. Auch in der Gynäkologie liegen reichlich Studien über den Einsatz von suburethralen Schlingen vor mit nachgewiesenermassen einer Besserungsrate von 90%. Der Vorteil von Fremdgewebe liegt zum einen in der spannungsfreien Defektüberbrückung, zum anderen im stabilen Ersatz destruierter Ligamente. Neuartige Zugangswege ermöglichen, die Interponate an stabilen Strukturen innerhalb des Beckens zu verankern. Die pelvinen Ligamente haben sich als beständige Widerlager erwiesen, an denen diese Netze fixiert werden können. So wird transobturatoriell das eingebrachte Netz zur Sanierung des anterioren Defekts am Arcus tendineus verankert. Für das posteriore Kompartiment wird über den glutealen Zugang die sakrospinalen Ligamente verwendet (Abbildung 1 bis 3).
Materialwahl Unterschieden werden biologisches (aus dem eigenen Körper bzw. einem Tier) und synthetisches Material. Unter den biologischen Materialien findet eine azelluläre Schweinekollagenmatrix häufig ihren Einsatz. Sie kann durch ein speziell entwickeltes Verfahren quervernetzt werden, wodurch die Resistenzerhaltung gegenüber körpereigenen Kollagenasen erhöht wird. Dieses Gewebe wird von den körpereigenen Fibroblasten kolonialisiert und revaskularisiert. Die azelluläre und nicht allergene Matrix verursacht in der Einheilung eine moderate Entzündungsreaktion. Nach zirka drei Monaten ist das Implantat komplett von körpereigenen Fibroblasten durchbaut. Nach rund drei Jahren ist es vom Körper vollständig metabolisiert und durch Kollagen ersetzt worden, das der köpereigenen Faszie in ihrer Zugfestigkeit entspricht. Infektionen mit Viren oder Prionen liegen theoretisch bei der Wahrscheinlichkeit von 1:5 000 000, sind bisher aber nicht beschrieben. Bei den biologischen Materialien bleiben die gefürchteten Protrusionen aus. Sie eignen sich besonders zur Sanierung einer Rektozele, da hier keine allzu grossen Belas-
tungen bestehen. Allerdings werden sie auf lange Sicht abgebaut, wodurch die Möglichkeit eines Rezidivs steigt, was aufgrund fehlender Langzeitergebnisse allerdings nicht bestätigt werden konnte. Nach Verwendung der synthetischen Netze wurden in der Vergangenheit viele Komplikationen beschrieben, welche im Wesentlichen auf die Materialeigenschaften wie Fadenbeschaffenheit, Fadenmaterial, Porengrösse und Kunststoffmenge zurückzuführen sind. Sie wurden in der oft zitierten Arbeit von Amid et al. untersucht. Er hat 1997 eine Klassifikation veröffentlicht, die das Risiko einer Infektion respektive Abstossung abschätzen lässt. Dabei sollte das optimale Netz möglichst leicht, makroporös, monofilamentär und aus Polypropylen sein (Amid-Klasse I). Als Kompromisslösung sind sogenannte Hybridnetze aus eigener Erfahrung vielversprechend. Hierbei besteht die Fläche des Implantats vollständig oder als Layer aus biologischem Material (Vorteil: geringe Protrusion). Im Bereich der Verankerung, wo die grösste Belastung besteht, werden synthetische Materialien verwendet (Vorteil: Nachhaltigkeit) (Abbildung 4 und 5).
Eigene Bewertung Die hervorragende Verträglichkeit und innerte Einheilung in den Körper durch die neue Netzgeneration kann eindeutig als Segen für die betroffenen Frauen bewertet werden. Für den Operateur kann bei Komplikationen die Behandlung erschwert sein. Es muss mit einer Protrusionsrate von zirka 5 bis 16% gerechnet werden. Protrusionen sind zwar meist problemlos zu behandeln (Abbildung 6). Aber in seltenen Fällen ist eine Revision unter Destruktion von gesundem Gewebe (z.B. des vulnerablen Blasenbodens) möglich. In den letzten zehn Jahren hat die Entwicklung in der Deszensus- und Inkontinenzchirurgie enorm an Tempo gewonnen. Es findet ein Paradigmenwechsel statt, der die Fachwelt in zwei Lager spaltet. Die eine Fraktion betont die guten anatomischen und funktionellen Ergebnisse dieser neuen Operationstechniken, die andere weist auf die Effektivität der etablierten «klassischen» Methoden hin
Abbildung 4: Hybridnetz 1 Dieses besteht aus einer Lage Polypropylen und einer Lage Kollagenmatrix, die in der Einheilungsphase die Scheide vor Protrusionen schützen soll.
Abbildung 5: Hybridnetz 2 Dieses besteht aus einer durchgehenden Fläche aus einer resorbierbaren Kollagenmatrix mit synthetischen nicht resorbierbaren Fixierärmchen.
und mahnt, die neuen Techniken nur unter Studienbedingungen einzusetzen. So vielversprechend die Perspektiven auch aus der eigenen Erfahrung sind, so muss doch festgestellt werden, dass die Studienlage zu Technik wie auch zu Materialien noch unbefriedigend ist. Es fehlen Langzeitresultate zur Nachhaltigkeit und Stabilität, aber auch zu denkbaren Langzeitkomplikationen wie Dyspareunie, Erosionen und Shrinking (Zusammenziehen des Netzes durch Fibrosierung). Wir wissen noch nicht, wie sich die Implantate und das umliegende Körpergewebe trotz spannungsfreier Einlage im Körper langfristig auf die Dauerbelastung oder bei Gewichtszunahme verhalten. Die vorhandenen Standards bei den neuen Operationstechniken werden mitunter von den Operateuren individuell modifi-
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Kasten
Moderne Verfahren unter strenger Indikationsstellung
Bei Wahl der neuen Operationsverfahren mit synthetischen Netzen sollten folgende Ausschlusskriterien beachtet werden: ■ keine abgeschlossene Familienplanung ■ Gerinnungsstörung (bzw. Antikoagulationstherapie) ■ fehlender Nachweis von funktionellen Problemen (Miktion, Defäkation, Geschlechtsverkehr) oder
einer Reduktion der Lebensqualität ■ vorangegangene gynäkologische Karzinome ■ vorangegangene Bestrahlungen im Operationsgebiet ■ ernsthafte rheumatische respektive systemische Bindegewebserkrankungen ■ Primärsituation (bei mässiggradigen Zuständen)
Hingegen ist der Einsatz von Netzen in folgenden Situationen empfehlenswert: ■ Rezidivsituation (= Hauptindikation) ■ Deszensus Grad III bis IV (Klassifikation nach ICS) ■ Traktionszystozelen ■ ältere mobile Patientinnen ■ Inkontinenz (Evidenz von hoher Signifikanz)
ziert, was den Vergleich der Techniken oder die Durchführung multizentrischer Studien erschwert. Derzeit werden über 50 verschiedene Produkte und Netze propagiert, die sich hinsichtlich Fläche, Webart, Geschmeidigkeit und Porengrösse unterscheiden. Manche Materialien sind resorbierbar, andere beständig. Sie werden als Kompositorien oder beschichtet angeboten. Es existieren also zu viele Parameter, die in ihrer Menge und Unterschiedlichkeit eine Übersicht beziehungsweise die Evidenz von Studien vermindern. Hinzu kommt ein uneinheitliches Krankheitsbild mit individuellem, objektiv schwer erfassbarem Leidensdruck.
Therapieempfehlungen
Der wichtigste Ansprechpartner bei Genitaldeszensus ist der niedergelassene Gynäkologe, denn in der Praxis können bereits die ersten (oft einfachen) Massnahmen eingeleitet werden. Sehr ausgeprägte Befunde und speziell Patientinnen in der Rezidivsituation bedürfen einer aufwändigen und differenzierten Untersuchung, die in einer normalen Praxis aus Zeit- und Kostengründen nicht durchgeführt werden kann. Bei komplexen Beckenbodenstörungen ziehen wir in der Evaluation gelegentlich Gastroenterologen und Proktologen bei. Mitunter können bei erweiterter Diagnostik Konsile bei Neurologen und Radiologen nötig werden. Aus der Behandlung von Schmerzpatienten ist bekannt, dass ein über Jahre hin-
weg chronifiziertes Krankheitsbild oft nur langsame Heilungsfortschritte zeigt. Ziel ist es, der Patientin Lebensqualität wieder zurückzugeben. Viele Parameter (Morphologie, Anatomie, Entzündungsprozesse, Verhaltensänderungen, Drangkomponente u.v.m) beeinflussen das Krankheitsbild und erfordern jeweils ein sehr individuelles Therapieregime, das unter stetiger Kontrolle der Effektivität gemeinsam mit der Patientin erarbeitet werden muss. Der Descensus vaginae ist aufgrund von irreversiblen Dehnungen oder auch Ausrissen des ligamentären Halteapparats nur beschränkt mit konservativen Verfahren therapierbar. Elastische Silikonpessare können bei moribunden immobilen Frauen mit hohem Operationsrisiko sinnvoll sein, sind aber aus hygienischen Gründen (Ulzera, Aussfluss) nur ein Kompromiss. Beckenbodentraining ist nur beschränkt sinnvoll, da die Muskulatur kaum Kontakt zu den Halteligamenten hält. Aufgrund der relativ komplikationsarmen Verläufe wird die Indikation zur operativen Sanierung immer grosszügiger gestellt. Man sollte sich jedoch vergegenwärtigen, dass jede Operation das sehr fein abgestimmte Gleichgewicht von Blasenverschluss und Scheide beeinflusst. Vor jedem Inkontinenzeingriff müssen wir uns präoperativ versichern, dass vor allem die laterale Scheide ausreichend fixiert ist. Wird das übersehen, dann kann die suburethrale Bandeinlage
unangenehme Folgen haben. Die Senkung kann das spannungsfrei liegende, aber unnachgiebige Band komprimieren. Kommt es zur Abknickung der Harnröhre (kinking) sind Dranggefühle (urgency), Harnverhalt oder Entleerungsstörungen die Folge (Abbildung 7). Die modernen Verfahren sind nur unter strenger Indikationsstellung anzuwenden (vgl. Kasten). Anhand von drei Beispielen lässt sich die Notwendigkeit einer differenzierten Indikationsstellung verdeutlichen: ■ Patientin 1: 90 Jahre alt, St. n. apo-
plektischen Insult, seither antikoaguliert und rollstuhlpflichtig, keine Harninkontinenz. Therapie: Würfelpessar, Östrogenisierung. ■ Patientin 2: 35 Jahre, keine abgeschlossene Familienplanung, Genitaldeszensus II. Grades, Harninkontinenz bei starker körperlicher Belastung. Therapie: Maximales Ausreizen der konservativen Möglichkeiten: Ringpessar für die Bedarfssituation, Beckenbodentraining und so weiter,
Abbildung 6: Protrusion eines monofilamentären, makroporösen Polypropylennetzes Es zeigen sich keinerlei inflammatorische Zeichen. Das Netz kann an dieser Stelle problemlos exzidiert werden.
Abgeknickte Harnröhre
suburethrales Band
Abbildung 7: Abknicken der Urethra nach TVTEinlage Bei körperlicher Belastung zieht die nicht fixierte Vorderwand der Scheide die Urethra um das suburethrale Band.
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Vermeidung von Deszensusoperationen, wenn ja, dann möglichst Verzicht auf synthetisches Fremdmaterial bei vaginalen Eingriffen. ■ Patientin 3: 58 Jahre, adipös, chronische Obstipation, Atemwegserkrankung, Harninkontinenz dritten Grades, Rezidivsituation mit ausgeprägter Traktionszystozele. Therapie: Operation (nach frustraner konservativer Therapie) unter Verwendung von Netzen. Folgendes Vorgehen ist zu empfehlen: ■ ausführliche Diagnostik und Erfassung der Lebensumstände in der urogynäkologischen Sprechstunde ■ Ausreizen einer konservativen Behandlung ■ bei Operation: individuelle Indikationsstellung unter ausführlicher Beratung der Patientin über die Neuartig-
keit des Verfahrens, die aktuelle Studiensituation sowie über mögliche Komplikationen. Hierbei sollte das gesamte Spektrum der modernen Deszensus- und Inkontinenzchirurgie von einem erfahrenen Operateur angeboten werden. ■ Die Kolpokleisis soll vermieden werden. ■ grosszügiger Einsatz von Netzen in der Rezidivsituation, bei schweren Beckenboden-Funktionseinschränkungen und nicht veränderbaren Noxen (z.B. Adipositas, chronische Atemwegserkrankungen usw.) ■ Bei gleichzeitigem Vorliegen von Deszensus und Inkontinenz soll idealerweise zunächst die Anatomie korrigiert werden. Nach Abheilung kann, falls noch erforderlich, in einem zweiten Schritt die Inkontinenz behandelt werden.
Die neuen Operationstechniken mit
Mesheinlage sind in geübter Hand sehr
vielversprechend. Dennoch, es fehlen
derzeit noch prospektiv randomisierte
Studien mit Langzeitresultaten sowohl
hinsichtlich der Effizienz als auch der
Komplikationen. Entsprechend sind vor
allem die synthetischen Meshes mit Be-
dacht einzusetzen.
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Dr. med. Stefan Zachmann (Korrespondenzadresse) Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich E-Mail: stefan.zachmann@usz.ch
Dr. med. David Scheiner Klinik für Gynäkologie UniversitätsSpital Zürich
Literatur beim Verfasser.
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