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Kontrazeption bei Frauen mit Migräne
Welche Methoden sind geeignet?
Die Migräne ist eine komplexe invalidisierende Erkrankung, welche überwiegend Frauen im reproduktiven Alter betrifft. Ziel bei betroffenen Frauen muss es sein, eine Verhütungsmethode zu finden, die weder mit einem erhöhten Insultrisiko assoziiert ist noch den Migräneverlauf negativ beeinflusst. Im Folgenden werden diagnostische Voraussetzungen, Ausschlusskriterien und Empfehlungen für die Methodenwahl mit reinen Gestagenpräparaten gegeben.
GABRIELE MERKI
Die Migräne ist charakterisiert durch wiederkehrende, starke bis invalidisierende, meist einseitige Schmerzattacken, welche teilweise von Übelkeit, Erbrechen und sensorischer Überempfindlichkeit begleitet sind. Epidemiologische Studien zeigen, dass 12% der Bevölkerung betroffen sind, Frauen häufi-
Tabelle 1:
Diagnosekriterien für Migräne mit und ohne Aura
Migräne ohne Aura A Mindestens 5 Attacken, welche die Kriterien B bis D erfüllen B Kopfschmerzdauer 4 bis 72 Stunden C Mindestens 2 der folgenden Charakteristika müssen erfüllt sein:
■ Einseitige Lokalisation ■ Pulsierender Charakter ■ Mittlere oder starke Schmerzintensität ■ Verstärkung durch tägliche körperliche Routineaktivitäten D Mindestens eines der folgenden Symptome ist vorhanden: ■ Übelkeit und/oder Erbrechen ■ Photophobie und Phonophobie E Eine andere Kopfschmerzursache kann ausgeschlossen werden
Migräne mit Aura A Mindestens 2 Attacken, welche die Kriterien B bis D erfüllen B Die Aura besteht aus mindestens einem der folgenden Symptome:
■ Vollständig reversible visuelle Symptome ■ Vollständig reversible dyspathische Symptome C Mindestens 2 der folgenden Punkte sind erfüllt: ■ homonyme visuelle Symptome und/oder einseitige sensible Symptome ■ wenigstens 1 Aurasymptom entwickelt sich allmählich ≥ 5 Minuten hinweg
und/oder verschiedene Aurasymptome in Abständen von 5 Minuten ■ jedes Symptom hält ≥ 5 Minuten und ≤ 60 Minuten an D Kopfschmerzen beginnen noch während der Aura oder folgen ihr innerhalb von 60 Minuten E Eine andere Kopfschmerzursache kann ausgeschlossen werden
Adaptiert entsprechend der IHS-II-Klassifikation
ger als Männer (Relation: 3:1) (1). Der Beginn der Erkrankung liegt typischerweise vor dem 40. Lebensjahr. Die Diagnose wird klinisch gestellt entsprechend den Kriterien der International Headache Society (Tabelle 1). Die Pathophysiologie der Migräne ist komplex und wird heute erst teilweise verstanden. Genpolymorphismen spielen sicher eine Rolle, ebenso vaskuläre und hormonale Faktoren (1–3). Die Hauptursache und das auslösende Ereignis sind jedoch unbekannt. Daher basiert die Diagnose auf den berichteten Symptomen. Die International Headache Society (IHS) klassifiziert die Migräne in zwei Untertypen: ■ Migräne mit Aura und ■ Migräne ohne Aura. Migränikerinnen mit Aura erleben zusätzlich fokale neurologische Symptome, die meist dem starken Kopfschmerz vorangehen.
Migräne, zerebraler Insult und hormonale Therapie
Ein wichtiger Aspekt für die hormonale Therapie der Frauen mit Migräne ist der in vielen Studien gezeigte Zusammenhang zwischen Migräne und Hirninfarkt, welcher durch die Einnahme ethinylestradiolhaltiger Kontrazeptionspräparate potenziert werden kann (4–9). Die Migräne mit Aura stellt einen grösseren Risikofaktor für einen Hirninfarkt dar als die Migräne ohne Aura (Tabelle 2). Ischämische Infarkte treten meistens nicht während, sondern zwischen den Migräneattacken auf. Der Pathomechanismus, der hier eine Rolle spielt, wird immer noch diskutiert. Ein offenes Foramen ovale wird gehäuft gefunden bei Frauen mit Auramigräne und ist ein Risikofaktor für einen ischämischen Infarkt (10). Der Verschluss des Foramen ovale hat teilweise zu einer Reduktion der Migräneanfälle geführt.
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Prävalenz von Migräne und Östrogenexposition
Es ist bekannt, dass Hormonschwankungen im Zyklus der Frau Kopfschmerzen beeinflussen können. Die Prävalenz der Migräne nimmt zu bei Mädchen von der Adoleszenz bis zum frühen Erwachsenenalter (11). Viele Frauen erleiden Attacken im Zusammenhang mit der Menstruation. Dagegen hat die Schwangerschaft in der Regel einen positiven Einfluss, hier kommt es seltener zu Migräneattacken (12). In der Menopause kommt es häufig zu einem Rückgang der Migräneanfälle, wogegen eine Hormonersatztherapie zur erneuten Exazerbation der Migräne führen kann (13). Heute gibt es plausible Erklärungen für den Zusammenhang zwischen Migräne und Östrogenen. Östrogenrezeptoren finden sich in vielen Hirnarealen. Interaktionen dieser Rezeptoren mit Neurotransmittersystemen beeinflussen die Steuerung der Kaliumpermeabilität auf der Ebene von Ionenkanälen sowie die Freisetzung verschiedener mit der Migräne assoziierter Neurotransmitter (1). Darüber hinaus sind bestimmte Polymorphismen des Östrogen- und Progesteronrezeptors mit einer Verdopplung des Migränerisikos assoziiert (2). Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die Formen der hormonassoziierten Migränen.
Migränerisiko unter kombinierten Antikonzeptiva und reinen Gestagenpräparaten
Ziele der Kontrazeption bei Migränikerinnen sind einerseits die Verhinderung eines weiteren Anstiegs des Insultrisikos und andererseits die Vermeidung einer Verschlechterung des Migräneleidens. Ethinylestradiolhaltige Kontrazeptiva führen bei Migränikerinnen zum Anstieg des Insultrisikos. Dies ist bei reinen Gestagenpräparaten oder Intrauterinpessaren nicht der Fall. Das Insultrisiko unter Einnahme von Kombinationspillen variiert in Abhängigkeit vom Migränetyp und hängt ferner davon ab, ob weitere Risikofaktoren vorliegen (bei jungen Frauen ist das Rauchen an erster Stelle der Risikofaktoren zu nennen) (Tabelle 2). Darüber hinaus können kombinierte Kontrazeptiva eine Migräne verändern oder neu verursa-
Tabelle 2:
Migräne und Insultrisiko für Frauen Alter < 45 Jahre
Risiko Migräne Migräne mit Aura Migräne ohne Aura Migräne und Rauchen Migräne und kombinierte Pille Migräne, kombinierte Pille, Rauchen
Odds Ratio für zerebralen Insult 1,5–2,3 3,8–8,4 1,1–2,9 10 5–17 13,9–34,2
Modifiziert nach IHS, Cephalalgia 2000,155–156. (16)
Tabelle 3:
Kriterien für hormonassoziierte Kopfschmerzen gemäss der Internationalen Kopfschmerzklassifikation
Reine menstruelle Migräne ohne Aura 1. Keine Aura 2. Migräneattacken nur an den Zyklustagen -2 bis +3 und zu keiner anderen Zeit des Zyklus Menstruationsassoziierte Migräne 1. Keine Aura 2. Migräneattacken an den Zyklustagen -2 bis +3 und auch zu anderen Zeiten des Zyklus Hormoninduzierte Migräne 1. Regelmässige Hormoneinnahme (Kontrazeption/Hormonersatztherapie) 2. Migräne/Kopfschmerz entwickelt sich innerhalb von 3 Monaten nach Einnahmebeginn 3. Migräne/Kopfschmerz bessert sich innerhalb von 3 Monaten nach Absetzen der Hormone Östrogenentzugskopfschmerz 1. Täglicher Gebrauch von Hormonen für mindestens 21 Tage, dann Unterbrechung 2. Migräne/Kopfschmerz entwickelt sich innerhalb von 5 Tagen nach letzter Östrogeneinnahme 3. Migräne/Kopfschmerz legt sich innerhalb von 3 Tagen
Modifiziert nach IHS
chen: So kommt es vor, dass Migräneattacken erstmals auftreten, eine vorbestehende Migräne häufiger wird oder der Hormonentzug in der Pillenpause Kopfschmerzen oder auch Migräneattacken auslöst (14). In retrospektiven Studien führt die Anwendung kombinierter Pillenpräparate bei Migränikerinnnen in 24 bis 35% zu einer Verschlechterung und nur bei 5% zu einer Verbesserung der Symptome (14). Eine kürzlich publizierte grosse Populationsstudie zur Untersuchung der Prävalenz von Kopfschmerzen ergab, dass die Anwendung niedrig dosierter Kombinationspräparate assoziiert ist mit einem erhöhten Risiko für sowohl Kopfschmerzen als auch für Migräne. Dagegen zeigte sich für Gestagenpräparate kein erhöhtes Risiko (14, 15). Medikamente können auch als Trigger für eine Migräne fungieren. Deshalb ist bei der Anwendung von Gestagenpräparaten zu empfehlen, die Verträg-
lichkeit bei oraler Applikation zu testen, bevor Implantate oder Depotpräparate eingesetzt werden. Gestagenpräparate zur Ovulationshemmung werden im Gegensatz zur kombinierten Pille immer kontinuierlich angewandt. Somit entfällt der Hormonentzug, der bei Migränikerinnen mit kombinierter Pille, aber auch im normalen Zyklus ein häufiger Trigger ist. Ovulationshemmende Gestagene sind daher nicht nur zur Verhütung, sondern auch therapeutisch bei menstrueller Migräne einsetzbar.
Empfehlungen
Der Bedarf nach sicherer Verhütung sollte keiner Patientin gesundheitlich schaden. Ziel bei Frauen mit Migräne muss es sein, eine Verhütungsmethode zu finden, die weder assoziiert ist mit einem erhöhten Insultrisiko noch den Migräneverlauf negativ beeinflusst. Hier empfiehlt es sich, in drei Schritten vorzugehen:
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■ An erster Stelle steht die genaue Diagnostik und Einordnung der Kopfschmerzen (Differenzialdiagnose Kopfschmerzen, Migräne ohne Aura, Migräne mit Aura). Hierzu bieten die Tabellen eine Hilfe. Gelegentlich ist es erforderlich, einen Spezialisten zurate zu ziehen.
■ Die nächsten Schritte sind die Anamnese und Untersuchung zum Ausschluss weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren.
■ Im dritten Schritt ist es sinnvoll zu verifizieren, ob die Migräne zyklusabhängig ist, da in solchen Fällen eine ununterbrochene Gestageneinnahme für den Migräneverlauf von therapeutischem Nutzen ist.
Zum Vorgehen vergleiche Tabelle 4.
Tabelle 4:
Empfehlungen für die Kontrazeption je nach Migränetyp
1. Migräne ohne Aura Keine weiteren Risikofaktoren:
Zusätzliche Risikofaktoren
2. Migräne mit Aura
3. Menstruelle Migräne
4. Pillenpausenkopfschmerz (Migräne)
ovulationshemmende Gestagenpräparate* Intrauterinpessare Relative Kontraindikation für kombinierte Pillen ovulationshemmende Gestagenpräparate* Intrauterinpessare Absolute Kontraindikation für kombinierte Pillen ovulationshemmende Gestagenpräparate* Intrauterinpessare Absolute Kontraindikation für kombinierte Pillen ovulationshemmende Gestagenpräparate* (häufig Benefit für Migräneverlauf) Intrauterinpessare an pillenfreien Tagen Estradiol 1–2 mg oral Estradiolpatch 50 µg / 24 Stunden Wechsel auf Gestagenmethode*
Zusammenfassung
Die Migräne ist eine komplexe invalidisierende Erkrankung, welche überwiegend Frauen im reproduktiven Alter betrifft. Kombinierte Pillen können die Migräne verstärken und erhöhen das Risiko für einen zerebralen Insult multiplikativ. Daher sind bei Migränikerinnen ethinylestradiolfreie Verhütungsmethoden indiziert. Ovulationshemmende Gestagenmethoden haben häufig durch die ununterbrochene Einnahme einen positiven Effekt auf die Kopfschmerzen, ohne das Risiko für einen zerebralen Insult zu erhöhen. Unter Beachtung der üblichen Kontraindikationen können auch Intrauterinpessare empfohlen werden. ■
Dr. med. Gabriele Susanne Merki Leiterin Zentrum für Schwangerschaftsverhütung UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrase 10 8091 Zürich E-Mail: gabriele.merki@usz.ch
Quellen: 1. Martin VT, Behbehani M.: Ovarian hormones and migraine headache: understanding mechanisms and pathogenesis – part I. Headache 2006; 46: 3–23. 2. Colson NJ, Lea RA, et al.: The role of vascular and hormonal genes in migraine susceptibility. Mol Genet Metab 2006; 88: 107–113.
*Liste der in der Schweiz verfügbaren ovulationshemmenden Gestagenpräparate zur Kontrazeption
Oral Cerazette® Implantat Implanon® Depotspritze Depo-Provera®
Desogestrel, 75 µg / kontinuierlich Etonogestrel 68 mg / 3 Jahre Medroxyprogestronazetat 150 mg tief i.m. / 12-wöchentlich
3. Gupta S, Mehrotra S, et al.: Potential role of female sex hormones in the pathophysiology of migraine. Pharmacol Ther 2007; 113: 321–340.
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