Transkript
SCHWERPUNKT
Vulvodynie und Vulvovestibulitis
Leitfaden für eine standardisierte Differenzialdiagnostik und adäquate Behandlung
Dr. med. Stefan Gerber, Bärbel Hirrle
Die Vulvodynie, ein chronisches, oft sehr beeinträchtigendes Schmerzsyndrom der Vulvaregion ohne erkennbare Läsion, lässt in der Praxis viele Fragen offen, da weder Ursachen noch Behandlungsmöglichkeiten bekannt sind. Die folgende Übersicht beschreibt das mul-
tifaktorielle Krankheitsbild mit zwei zu unterscheidenden Hauptgruppen. Anhand neuer Daten wird ein Leitfaden zur standardisierten differenzialdiagnostischen Abgrenzung und für eine adäquate Therapieeinleitung gegeben.
Vulvodynie wird wörtlich übersetzt als «Schmerz der Vulva». Betroffene Frauen beschreiben ihre Beschwerden als ein permanentes, oft kaum erträgliches Gefühl intensiven Brennens oder auch als ein unangenehmes Stechen, Ziehen oder eine intensive Reizung (aber nicht als Juckreiz) der Vulvaregion. Der behandelnde Arzt sieht bei diesen sehr unspezifischen Symptomen ein grosses Spektrum möglicher Ursachen – von einer simplen Veränderung der Vaginalflora bis hin zu schwersten Pathologien wie dem Vulvakarzinom. Da die gynäkologische Untersuchung keinen erkennbaren Befund zeigt, werden oft versuchsweise ungezielte Behandlungen angewandt, welche die Symptomatik verschlimmern können, was Patientin und Arzt frustrierende Erlebnisse «beschert». In der Literatur wird das Beschwerdebild seit einigen Jahren (v.a. seit 1999) häufig beschrieben; in den gynäkologischen Lehrbüchern dagegen bislang kaum oder gar nicht erklärt. Die International Society for Study of Vulvar Disease gab 2003 auf dem XVII World Congress in Salvador/Brasilien eine präzise Definition. Danach ist die Diagnose Vulvodynie strikt auf Patientinnen beschränkt, die keine sichtbare Läsion zeigen. Zudem wird in zwei Hauptgruppen unterteilt: 1. Vulvovestibulitis 2. essenzielle vulväre Dysästhesie (engl.: Dysethesic vulvodynia).
Epidemiologie
Schon 1889 wurden Fälle beschrieben,
bei denen Patientinnen unter stärksten Schmerzen bei blosser Berührung der Vulva litten, und wo keine äusserlichen Läsionen bei der gynäkologischen Untersuchung sichtbar waren. Lange Zeit wurde die Gruppe der unklaren Vulvodynien als seltenes Syndrom betrachtet; erst in neuerer Zeit ist das Syndrom besser identifiziert und das Vorkommen als relativ häufig erkannt worden. In den neueren Untersuchungen werden je nach Patientinnenkollektiv (spezialisierte oder allgemein-gynäkologische Konsultation, Alter und ethnische Zugehörigkeit der Frauen) Prävalenzen von 3 bis 17 Prozent beschrieben, mit anscheinend zunehmender Tendenz.
Die Vulvovestibulitis
Das Syndrom Vulvovestibulitis ist gekennzeichnet durch ein Gefühl des Schmerzes
oder «Brennens» im Vestibulum (Vorhof) der Vulvaregion. Es handelt sich um keine Ausschlussdiagnose, sondern entspricht einer Triade von Symptomen, die wie folgt charakterisiert sind (1): ◗ schon bei leichter Berührung des Vul-
vavestibulums hervorgerufen ◗ durch leichten Druck eines Wattestäb-
chens reproduzierbar ◗ mit mehr oder weniger ausgeprägtem
Erythem etwa in der Öffnung der Bartholindrüsen («5 und 7 Uhr» des Vestibulum vulvae) verbunden. Die Diagnostik kann erwogen werden, wenn die Symptomatik seit mindestens sechs Monaten besteht. Trotz einer gewissen Variationsbreite haben sich die drei Kennzeichen als zuverlässige Diagnosekriterien herausgestellt. Vulvovestibulitiden werden als primär bezeichnet, wenn die Symptomatik zu Beginn der sexuellen Aktivität auftritt
Abbildung 1:
Vulvodynien
Essenzielle vulväre Dysästhesie
Vulvovestibulitis
Vulvodynie
Vestibulodynie
q Post-/Perimenopause q Keine identifizierbare Läsion q Mehr oder weniger die gesamte Vulva betreffend q Auschlussdiagnose!
q Junge Frau q Variable erythmatöse Läsionen q Genaue Lokalisation q Diagnose entsprechend der Triade
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Abbildung 2:
Anamnese
Gezielter Untersuchungsplan
Charakterist. Beschwerden Induzierende Faktoren Psycho-affektiver Kontext
Serologie (HSV, VZV…)
Gynäkologische Untersuchung
Kultur/PCR Abstrich, ev. Biopsie
Keine Läsion
Nachgewiesene Läsion
Vulvodynie Psych. bedingt Neoplasie Dermatol. Allergie Infektion
Vulv. Dys. VVS
Gezielte Biopsie
Hygiene Karenz
Erregernachweis
Identifikation
Gezielte Therapie
Behandlung
(etwa 10 bis 20% der Fälle) und als sekundär, wenn diese erst nach einer längeren beschwerdefreien Zeit sexueller Aktivität auftritt (in 80 bis 90%). Meist sind junge Frauen zwischen 20 und 40 Jahren betroffen; sie leiden unter einer massiven Dyspareunie, die jede vaginale Penetration (Tampons, Geschlechtsverkehr) unmöglich macht. Sie beschreiben oft einen akuten Beginn im Anschluss an eine banale Infektion (meist eine vulvovaginale Pilzinfektion) oder an eine kontaktallergische Reaktion. Typisch ist, dass diese Frauen, wenn sie in die Sprechstunde kommen, bereits eine Vielzahl von Spezialisten aufgesucht haben und Therapien, teilweise über mehrere Jahre, ausprobiert haben. Die Ätiologie ist weit gehend unklar, das histologische Bild ein unsicherer Indikator; diskutiert wird ein ganze Bandbreite von möglichen infektiösen, genetischen, ernährungs- und allergiebezogenen begünstigenden Faktoren bis hin zu einer Autoimmunerkrankung. Bei den meisten
Betroffenen ist eine Psychosomatisierung auffällig. Für die multidisziplinäre Behandlung sind oft mehrere Interventionen erforderlich (s.u.). Die Identifikation des Syndroms und eine einfache Erklärung für die Patientin haben sich als ein schon wesentlicher Therapieschritt erwiesen.
Die essenzielle vulväre Dysästhesie
Dieses Syndrom tritt typischerweise bei Patientinnen in der Peri- oder Postmenopause auf. Die Beschwerden äussern sich als ein Gefühl des Brennens der Vulva, welches: ◗ chronisch und ◗ spontan, ohne identifizierbaren Aus-
lösefaktor auftritt. Die Symptomatik kann die gesamte Vulva einschliesslich der grossen Labien betreffen und mit urethralen oder rektalen Beschwerden einhergehen. Bei gynäkologischer Untersuchung ohne Befund, insbesondere in Abgrenzung zum
Lichen sclerosus, wird die Diagnose als Ausschlussdiagnose gestellt. Begleiterscheinungen sind vermehrt Ängstlichkeit, ein depressives Syndrom und hypochondrische Symptome. Auch bei den vulvären Dysästhesien ist die Ätiologie weit gehend unklar, das histologische Bild ebenfalls unauffällig. Verschiedene Arbeiten diskutieren eine Neuropathie als Schmerzursache. Für die Behandlung hat sich als erster Schritt als positiv erwiesen, der Patientin das Gefühl zu geben, dass ihre Beschwerden ernst genommen, behandelt und regelmässig kontrolliert werden. Eine unterstützende psychiatrische Begleitung kann sinnvoll sein.
Diagnostisches Vorgehen
In Anbetracht der sehr heterogenen Patientinnengruppe, die sich mit ähnlicher Symptomatik, aber verschiedenen Ursachen, in der Sprechstunde vorstellt, ist ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen von entscheidender Bedeutung und der Schlüssel für eine adäquate Therapieeinleitung (vgl. Abbildung 2). In der Anamnese werden die Beschwerden präzisiert, in den chronologischen Kontext gestellt und induzierende pathologische Faktoren erkundet. Dabei sind psychologische und affektive Zusammenhänge der chronischen Vulvodynien herauszufiltern. Ein gezielter Untersuchungsplan erfolgt im Rahmen der gynäkologischen Untersuchung beziehungsweise einer Kolposkopie. Es handelt sich im Wesentlichen darum, andere Diagnosen auszuschliessen. Zuerst muss bei nachgewiesener Läsion nach einer möglichen infektiösen Ursache gesucht werden, was Kulturen, PCR oder Serologie hinsichtlich Candida, Genitalherpes, Post-Herpes-Neuropathie, Zoster und HPV einschliesst. Anschliessend ist auf eine dermatologische Pathologie, bei Verdacht mittels Biopsie, abzuklären. Zu achten ist auf eine mögliche allergische Reaktion (v.a. Kontaktallergie), wofür die Anamnese Hinweis bietet. Ferner sind Läsionen zu beachten, die auf einen Lichen sclerosus, einen Lichen pla-
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nus, eine Psoriasis, bullöse Dermatose oder atrophische Vulvitis hinweisen. Eine vulväre Papillomatose im Befund gehört zum normalen klinischen Bild und bedarf keiner Behandlung. Schliesslich muss eine Neoplasie ausgeschlossen werden. Jede ulzerierende Läsion verlangt eine gezielte Biopsie zur Untersuchung einer intraepithelialen vulvären Dysplasie, eines Morbus Paget oder Morbus Bowen. Die Differenzialdiagnostik kann den Einbezug von Ärzten anderer Fachdisziplinen erforderlich machen, insbesondere der Dermatologen. Dabei ist es in jedem Fall sinnvoll, die Patientin mehrmals einzubestellen, um den Untersuchungsplan zu vervollständigen.
Betreuung und Behandlung
Im Hinblick auf die ungeklärte Ätiologie erfordert das ärztliche Vorgehen bei gestellter Diagnose Vulvodynie zwei wesentliche Elemente: Zum Ersten ist eine ganzheitliche Behandlung mit allgemeinen Massnahmen, zum Zweiten eine rein symptomatische Behandlung angezeigt. Zur ersten Strategie der ganzheitlichen Behandlung, welche die Frau beruhigt, gehört es, die Beschwerden der Patientin anzuerkennen, Empathie zu zeigen und eine klare Erklärung der Pathologie zu geben. Einfache Hygieneregeln, vor allem die Ausschaltung möglicher allergener Faktoren, die Anwendung kalter Kompressen (gegen «Brennen») wie auch von Lubrikanzien oder sogar eines Oberflächenanästhetikums bei Geschlechtsverkehr können schon grosse Hilfen bedeuten. Eine teilweise vorgeschlagene und schlecht einzuhaltende oxalatarme Diät hat kaum überzeugende Resultate gebracht. Die Einleitung psychologischer Unterstützung kann dagegen sinnvoll sein; wegen der chronischen Schmerzsymptomatik kann eine antidepressive Therapie mit Amitriptylin oder Nortriptylin angezeigt sein. Bei der essenziellen vulvären Dysästhesie kann ein topisches Östrogen eine verbesserte Tonifikation der Schleimhaut und Haut und damit eine deutliche Linderung
bewirken. Dagegen hat eine antiinflammatorische Behandlung, systemisch mit NSAR oder lokal mit Kortisonpräparat, relativ wenig Effekt. Gewisse positive Wirkungen konnten durch die direkte vulväre Injektion von Triamcinolon, Methylprednisolon oder Interferon-alfa 2b oder auch aufwändige Biofeedback-Therapien erreicht werden. Operative Methoden sollten als letzte Möglichkeit betrachtet werden; bei einer kleinen Patientinnenzahl haben diese im Rahmen einer Perineoplastie aber zu einer deutlichen Linderung der Symptomatik geführt. Für die symptomatische Behandlung liefern aktuell zwei neue Therapien viel versprechende Zwischenergebnisse: Bei der ersten handelt es sich um eine intramuskuläre Botulin-A-Injektion (Botox®), welche eine schnelle Entspannung der Perineummuskulatur und eine Schmerzlinderung bewirkt und damit eine Wiederaufnahme des Geschlechtsverkehrs ermöglicht. Bei der zweiten, im CHUV angewandten Therapie (noch im Experimentalstadium [2]) handelt es sich um die tägliche Anwendung einer Fettcreme, welche mit antiinflammatorisch wirkenden Zytokinen angereichert wurde.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Stefan Gerber MER Dpt. de Gynécologie et Obstétrique
CHUV av. P. Decker 1011 Lausanne Tel. 021-314 35 13 Fax 021-314 35 25 E-Mail: Stefan.Gerber@chuv.hospvd.ch
Quelle: Dr. med. Stefan Gerber: «Vulvodynie. La pathologie vulvaire en cabinet». Vortrag während der Jahresversammlung der SGGG, Interlaken 2004, sowie Unterlagen des Autors/Referenten.
Referenzen: 1. Friedrich, E.G.: Vulvar vestibulitis. J. Reprod. Med. 1987: 32: 110–114. 2. Gerber, S., Applegate, L., Scaletta, C. et al.: Assessment of a new topical treatment of vulvovestibulites syndrome patients with a cytokine cream. 5th European Congress of European College for Study of Vulval Disease, Stockholm 2004.
Weitere umfangreiche Literatur beim Verfasser (Korrespondenzadresse).
Kasten 1: Merksätze für die Praxis
q Vulvodynie ist ein Syndrom, das durch «Brennen» oder chronischen Schmerz der Vulvaregion ohne erkennbare Ursache oder Läsion gekennzeichnet ist.
q Vulvovestibulitis ist eine Vulvodynie im vulvären Vorhof bei jungen Frauen in Zusammenhang mit variablem Erythem und starker Schmerzhaftigkeit schon bei leichter Berührung.
q Essenzielle vulväre Dysästhesie (engl.: Dysethesic vulvodynia) zeigt sich bei postmenopausalen Frauen als spontan auftretenes «Brennen» der Vulvaregion bei normalem gynäkologischem Befund.
Diese Creme vermag nach vier- bis achtwöchiger Behandlung die entzündlichen Beschwerden zu beseitigen und ein normales Sexualleben zu ermöglichen. Der breiten Anwendung dieser neuen Option müssen randomisierte Studien zur präzisen Bewertung des Behandlungserfolgs noch vorausgehen. Die exakte Diagnostik und ein sowohl multidisziplinäres als auch multidimensionelles Vorgehen in der Therapie stehen an erster Stelle bei Vulvodynie. ◗
Richtige Antworten: a, c
Kasten 2:
Multiple-choice-Fragen
Patientinnen mit Vulvodynie zeigen: a. ein chronisches Brennen der Vulva b. einen chronischen Pruritus der Vulva c. eine Dyspareunie bei Penetration d. eine Läsion der Vulva e. eine vulvo-vaginale Infektion
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