Transkript
UPDATE
Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen
Die neuen evidenzbasierten Guidelines
Dr. med. Richard Eyermann
Im Bereich frauenspezifischer Interventionen zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen sind seit den letzten AHAEmpfehlungen (1999) rasante Fortschritte erreicht worden. Trotz der umfangreichen Forschungsergebnisse und zunehmenden Umsetzung in der Praxis bleiben kardiovaskuläre Erkrankungen weiter die führende Todesursache bei Frauen
in den entwickelten Ländern. Aktuell haben American Heart Association (AHA) und American College of Cardiology (ACC) zusammen mit weiteren wissenschaftlichen Organisationen, darunter das American College of Obstetricians and Gynecologists, neue Guidelines für die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen herausgegeben (1).
Allein in den USA sterben mehr als 500 000 Frauen pro Jahr an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung und überschreiten inzwischen die kardiovaskuläre Mortalität der Männer. Etwa jede Minute stirbt eine Frau an kardiovaskulären Ereignissen (AHA: Heart disease and stroke statistics – update 2003). Die KHK als Haupttodesursache der Frauen ist daher Präventionsziel höchster Priorität, vor allem angesichts der Tatsache, dass beinahe zwei Drittel plötzlich versterben, und nicht zuvor Symptome erfasst und behandelt wurden. In die so bedeutsamen Präventionsmassnahmen sind auch andere Kreislauferkrankungen, vor allem zerebrovaskuläre Formen und die peripheren arteriellen Verschlusskrankheiten bei Frauen, einzubeziehen.
Die neuen klinischen Empfehlungen
Die diagnostischen Möglichkeiten zur Früherkennung kardiovaskulärer Erkrankungen haben sich in der letzten Dekade so verbessert, dass sich die Differenzierung in Primär- und Sekundärprävention immer mehr verwischt. Statt der Kategorisierung in Frauengruppen mit oder ohne Herz-Kreislauf-Erkrankung wird jetzt eingeteilt nach hohem, mittlerem, niedrigem und keinerlei Risikopotenzial (nach dem Framingham-Risiko-Score). Ein multiprofessionelles Expertenkomitee der AHA/ACC hat als Update der Empfehlungen 1999 erneut systematisch die wei-
teren publizierten Daten zusammengefasst sowie die Interventionen klassifiziert nach ihrem Nutzen, ihrer Wertigkeit, ihrer Effektivität sowie ihrem Evidenzgrad mit Relevanz ausdrücklich für Frauen. Die evidenzbasierten Empfehlungen wurden in einer sehr nützlichen, praxisrelevanten Tabelle 1 aufgeführt. Für die optimalen Lipidspiegel für Frauen wurden strengere Massstäbe als bei den europäischen Empfehlungen gesetzt, ausgenommen denen für manifeste KHK und Diabetes mellitus. Es gelten die folgenden Grenzwerte: ◗ LDL-Cholesterin: < 100 mg/dl
(< 2,6 mmol/l) ◗ HDL-Cholesterin: > 50 mg/dl
(> 1,3 mmol/l) ◗ Triglyzeride: < 150 mg/dl
(< 1,7 mmol/l). Die Guidelines empfehlen jetzt, allen Frauen mit Hochrisiko (neu jetzt schon bei LDL-Cholesterinwerten < 100 mg/dl) zusätzlich Cholesterinsenker, vorzugsweise Statine, zu geben (um das LDL-C in niedrigst mögliche Bereiche zu senken). Lebensstil und medizinische Präventionsmassnahmen wurden eingeteilt in die Evidenzklasse I (= die am besten gesicherten und daher klar empfohlenen Interventionen), gefolgt von den Klassen IIa und IIb. Klasse-III-Interventionen sind solche, die nicht nützlich (bzw. harmlos), also eher schädlich sind. Inkludiert in die Klasse III wurden jetzt die HRT mit kombinierten Östrogen-Gestagen-Präparaten zur HerzKreislauf-Prävention bei postmenopausalen Frauen.
Die Empfehlungen wurde detailliert nach verschiedenen Aspekten wie folgt aufgeführt: (Abkürzungen: EbM: Evidence-based Medicine; GI: Generalizability Index)
1. Lebensstil: ◗ Zigarettenrauchen: Konsequentes ak-
tives und passives Nichtrauchen (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Körperliche Aktivität: Konsequente Durchsetzung eines Minimums an moderater physischer Aktivität von 30 Minuten (etwa flinkes Gehen) an möglichst allen Tagen der Woche (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Kardiale Rehabilitation: Frauen mit vorangegangenem akuten Koronarsyndrom (ACS) oder Koronarintervention, beginnender oder chronischer Angina sollten an einem umfassenden Risikoreduktionsprogramm wie der ambulanten oder stationären kardiologischen Rehabilitation teilnehmen (EbM: Klasse I, Level B, GI = 2). ◗ Herz-Kreislauf-gesunde Ernährung: Konsequente Ermutigung zu einer stets gesunden Ernährung, die verschiedene Früchte, Gemüse, Getreidekörner, Low-Fat-Nahrung, Fisch, Hülsenfrüchte und Proteinquellen mit niedrig gesättigten Fettsäuren (Geflügel, mageres Fleisch, Pflanzen) einschliesst. (Gesättigte Fettzufuhr bis < 10% der Kalorien, Cholesterinzufuhr bis < 300 mg/Tag und limitierte Zufuhr von Transfettsäuren, 20 [EbM: Klasse I, Level B, G I = 1]).
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Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen
◗ Supplement Omega-3-Fettsäuren: Als Adjuvans können Omega-3-Fettsäuren bei Hochrisiko-Frauen (KHK oder Risikoäquivalent) gegeben werden (EbM: Klasse IIb, Level B, G I = 2).
◗ Supplement Folsäure: Als Adjuvans kann Folsäure bei Hochrisiko-Frauen gegeben werden (ausgenommen nach Revaskularisationprozeduren) bei erhöhtem Homocysteinspiegel (EbM: Klasse IIb, Level B, GI = 2).
◗ Gewichtskontrolle: Durchsetzung der Gewichtskontrolle unter geeigneter Balance von physischer Aktivität und Kalorienaufnahme (ggf. mit Erziehungsprogrammen) für einen BMI zwischen 18,5 und 24,9 kg/m2 und einen Hüftumfang < 35 (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1).
◗ Psychosoziale Faktoren: Frauen mit kardiovaskulären Erkrankungen sollten auf Depression evaluiert, befragt und allenfalls behandelt werden (EbM: Klasse IIa, Level B, GI = 2).
< 200 mg/Tag sowie jene von Transfettsäuren (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Lipide (Pharmakotherapie): Bei Hochrisiko (10-Jahres-Absolut-Risiko für KHK > 20%, LDL-C ≥ 100 mg/dl) sollte die LDL-C-Senkung vorzugsweise mit Statin und gleichzeitig Lebenstiländerungen begonnen werden (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1), ebenfalls bei HochrisikoFrauen mit einem LDL-C < 100 mg/dl ohne Kontraindikationen (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). Ferner ist Niacin oder Fibrat indiziert (bei niedrigem HDL-C oder erhöhtem Non-HDL-C) (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Lipide (Pharmakotherapie): Bei mittlerem Risiko (10-Jahres-Absolut-Risiko für KHK 10–20%) sollte die LDL-CSenkung vorzugsweise mit Statin und gleichzeitig Lebenstiländerungen begonnen werden bei Frauen mit LDL-C ≥ 130 mg/dl (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1), oder mit Niacin oder Fibrat
(bei niedrigem HDL-C oder erhöhtem Non-HDL-C), nachdem der LDL-C-Zielwert erreicht ist (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Lipide (Pharmakotherapie): Bei niedrigem Risiko (10-Jahres-Absolut-Risiko für KHK < 10%): Erwägung LDL-C-senkender Therapie bei 0 oder 1 Risikofaktor und LDL-C-Spiegel ≥ 190 mg/dl, oder, falls multiple Risikofaktoren präsent sind, bei einem LDL-C ≥160 mg/dl (EbM: Klasse IIa, Level B). Eine Niacin-Therapie ist zu erwägen bei niedrigem HDL-C oder erhöhtem Non-HDL-C, nachdem die LDL-C-Zielwerte erreicht sind (EbM: Klasse IIa, Level B, GI = 1). ◗ Diabetes: Mittels Lebenstiländerungen und Pharmakotherapie soll ein nahezu normales HbA1C von < 7% erreicht werden (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1).
3. Präventive medikamentöse Interventionen ◗ Aspirin für Hochrisikogruppe (10-Jah-
2. Hauptrisikofaktoren (Major risks) ◗ Blutdruck (Lebensstil): Erreichung eines
optimalen Blutdruckes von < 120/ 80 mmHg durch Lebensstiländerungen (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Blutdruck (Medikamente): Indikation für eine Pharmakotherapie bei Blutdruck ≥140/90 mmHg sowie bei Patientinnen mit tieferen Werten, aber bereits blutdruckbedingten Endorganschäden oder Diabetes. Thiaziddiuretika sollten Teil des Therapieregimens sein, sofern nicht kontraindiziert (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1). ◗ Lipide, Lipoproteine: Optimale Spiegel von Lipiden und Lipoproteinen bei Frauen sind LDL-C < 100 mg/dl, HDL-C > 50 mg/dl, Triglyzeride < 150 mg/dl, und Non-HDL-C (Total-C minus HDL-C) < 130 mg/dl. Sie sollten primär durch Lebensstilveränderungen erreicht werden (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1). ◗ Lipide (Diättherapie): Bei Hochrisiko oder falls das LDL-C erhöht ist, sollte die Zufuhr an gesättigten Fetten reduziert werden auf bis < 7% der Kalorien, jene von Cholesterin auf
Tabelle 1:
Klassifikation und Levels of Evidence der Evidence-based-Medicine (EbM)
Klassifikation
EbM – Stärke der Empfehlungen
Klasse I
Intervention ist zweifelsfrei nützlich und effektiv
Klasse IIa
Gewichtige Evidenz, dass Intervention günstig ist hinsichtlich Nützlich-
keit und Effektivität
Klasse IIb
Nützlichkeit/Effektivität ist weniger gut
etabliert/gesichert
Klasse III
Intervention ist nicht nützlich/effektiv und kann schädlich sein
Level of Evidence A B
C
Suffiziente Evidenz durch multiple randomisierte Studien Limitierte Evidenz durch einzelne randomisierte oder nichtrandomisierte Studien Basierend auf Expertenmeinungen, Fallstudien oder Behandlungsstandard
Generalizability Index 1
2
3
0
Sehr wahrscheinlich, dass Resultate für Frauen verallgemeinert werden können Ein wenig wahrscheinlich, dass Resultate für Frauen verallgemeinert werden können Unwahrscheinlich, dass Ergebnisse für Frauen verallgemeinert werden können Unmöglich zu projizieren oder dass Ergebnisse für Frauen verallgemeinert werden können
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SCHWERPUNKT
Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen
res-Absolut-Risiko für KHK > 20%): Betroffene sollten Aspirin (75–162 mg) bzw. Clopidogrel (bei ASS-Intoleranz) erhalten, sofern nicht kontraindiziert (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1). ◗ Aspirin bei mittlerem Risiko (10-Jahres-Absolut-Risiko für KHK 10–20%): Aspirintherapie soll erwogen werden, bis der Blutdruck kontrolliert ist und der Benefit gastrointestinale Nebenwirkungen überwiegt (EbM: Klasse IIa, Level B, GI = 2). ◗ Betablocker: Diese sollten uneingeschränkt bei allen Frauen ohne Kontraindikationen eingesetzt werden, die einen Myokardinfarkt hatten oder die chronisch ischämische Syndrome haben (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1). ◗ ACE-Hemmer: Diese sollten bei Hochrisiko-Frauen eingesetzt werden, sofern nicht kontraindiziert (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1). ◗ AT1-Blocker: Diese sind indiziert bei Hochrisiko-Frauen mit klinisch evidenter Herzinsuffizienz oder einer Ejektionsfraktion < 40% und Intoleranz gegenüber ACE-Inhibitoren (EbM: Klasse I, Level B, GI = 1).
4. Bei Vorhofflimmern (Schlaganfallprävention) ◗ Warfarin: Dieses sollte bei Frauen mit
chronischem oder paroxysmalem Vorhofflimmern eingesetzt werden zur Aufrechterhaltung einer INR von 2,0–3,0 (ausser bei niedrigem Schlaganfallrisiko oder hohem Blutungsrisiko (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1). ◗ Aspirin: Die ASS-Dosis von 325 mg ist empfohlen bei chronischem oder paroxysmalem Vorhofflimmern und Kontraindikation für Warfarin oder bei niedrigem Risiko für Schlaganfall (EbM: Klasse I, Level A, GI = 1).
den (EbM: Klasse III, Level C). Andere HRT-Formen (z.b. unopposed estrogen) sollten nicht initiiert oder fortgeführt werden bis zur Neueinschätzung von Daten weiterer Studien (EbM: Klasse III, Level C). ◗ Antioxidanzien als Supplement: Antioxidative Vitaminsupplementierung sollte nicht zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen angewandt werden bis zur Neubewertung von Daten weiterer Studien (EbM: Klasse III, Level A, GI = 1). ◗ Aspirin: Eine Routineanwendung bei Low-risk-Frauen kann nach gegenwärtiger Datenlage nicht empfohlen werden bis zum Vorliegen weiterer Studiendaten (EbM: Klasse III, Level B, GI = 2).
Ausblick
Grosse Studien haben zeigen können, dass die Risikofaktoren für eine KHK bei Frauen und Männern gleich sind, dass aber die Interaktionen dieser Risikofaktoren zweifelsohne bei Frauen mehr ins Gewicht fallen. Weitere kürzlich identifizierte (bzw. neu evaluierte) Risikofaktoren bei Frauen schliessen hormonelle Störungen und psychosoziale Komponenten ein. Zwar werden die meisten KHK-Risikofaktoren mit der Frau unter ärztlicher Kontrolle besprochen und mehr oder weniger beachtet, dennoch ist eine breite Unterversorgung des ärztlichen Risikomanagements feststellbar. ◗
Dr. med. Richard Eyermann Facharzt für Kinder- und
Jugendmedizin, Kardiologie, Angiologie, Kinderkardiologie, Sportmedizin und Allgemeinarzt Therese-Giehse-Allee 57 D-81739 München
5. Klasse-III-Interventionen ◗ HRT: Kombinierte Östrogen-Gestagen-
HRT sollte nicht initiiert werden zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen bei postmenopausalen Frauen (EbM: Klasse III, Level A) und für diese Indikation auch nicht fortgeführt wer-
Quelle: Mosca et al.: Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women. Circulation 2004; 109: 672–693.
Weitere Literatur beim Verfasser.
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Tabelle 2: Prioritäten für die kardiovaskuläre Prävention bei Frauen in Relation zu Risikogruppen
Hochrisiko-Gruppe (> 20% Risiko) Klasse-I-Empfehlungen: q Rauchen einstellen q Körperliche Aktivität/(kardiale Rehabili-
tation) q Ernährungstherapie q Gewichtsmanagement (Halten,
Reduktion) q Blutdruckmanagement q Lipidmanagement/Statin-Therapie q Aspirin-Therapie q β Blocker-Therapie q ACE-Inhibitor-Therapie (AT1-Rezeptor-
blocker bei Kontraindikation) q Glykämiekontrolle beim Diabetes Klasse-IIa-Empfehlungen: q Evaluation/Behandlung von Depression Klasse-IIb-Empfehlungen: q Omega-3-Fettsäuren-Supplementierung q Folsäure-Supplementierung
Mittlere Risiko-Gruppe (10–20% Risiko) Klasse-I-Empfehlungen: q Rauchen einstellen q Körperliche Aktivität q Herz-Kreislauf-gesunde Ernährung q Gewichtsmanagement (Halten,
Reduktion) q Blutdruckmanagement q Lipidmanagement Klasse-IIa-Empfehlungen: q Aspirin-Therapie
Niedrig-Risiko-Gruppe (< 10% Risiko) Klasse-I-Empfehlungen: q Rauchen einstellen q Körperliche Aktivität q Herz-Kreislauf-gesunde Ernährung q Gewichtsmanagement (Halten,
Reduktion) q Behandlung individueller kardiovaskulä-
rer Risikofaktoren (falls indiziert)
Schlaganfall-Prävention bei Vorhofflimmern Klasse-I-Empfehlungen: Hohes bis mittleres Risiko für Schlaganfall: q Warfarin-Therapie Niedriges Risiko für Schlaganfall (< 1% /Jahr) oder Kontraindikation für Warfarin: q Aspirin-Therapie