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Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie Groupement Suisse de Gynécologie de l’Enfant et de l’Adolescente (GYNEA)
Somatische Folgen der Anorexie bei Jugendlichen
Interview mit Dr. med. Tamara Guidi
Die Anorexia nervosa ist eine psychosomatische Erkrankung, die zu erheblichen somatischen Veränderungen und Komplikationen führen kann. Da sie mehrheitlich in der Jugend auftritt, kann die Pubertätsentwicklung beeinträchtigt werden.
Eine Amenorrhö persistiert nach Genesung selten. Zudem ist das Risiko einer späteren Osteoporose aufgrund einer ungenügenden Bone Peak Mass erhöht. Tamara Guidi gibt für PÄDIATRIE und GYNÄKOLOGIE Auskunft.
PÄDIATRIE/GYNÄKOLOGIE: Die Inzidenz der
maler T4- und TSH-Konzentration. Dabei handelt
Anorexia nervosa liegt bei 1 Prozent und tritt
es sich nicht um eine Schilddrüsenunterfunktion,
vor allem im Alter zwischen 14 und 18 Jahren
sondern um einen Adaptionsmechanismus. Wei-
auf. Mädchen sind 10- bis 20-mal häufiger als
tere Störungen zeigen sich in der Hypothalamus-
Knaben betroffen. Welche Kriterien müssen
Hypophysen-NNR-Achse mit Erhöhung des Korti-
erfüllt sein, damit die Diagnose Anorexie ge-
solplasmaspiegels und der Kortisolausscheidung
stellt wird?
im Urin, in der Hypothalamus-Hypophysen-Gona-
den-Achse mit daraus resultierender Amenorrhö
Dr. med. Tamara Guidi: Gemäss ICD-10 gibt
beim Mädchen und einem verminderten Testoster-
es klare Kriterien, die erfüllt sein müssen. Das
onspiegel beim Knaben. Weitere endokrinologi-
Körpergewicht liegt mindestens 15 Prozent un-
sche Störungen betreffen die Sekretion des
ter dem Sollgewicht, der BMI beträgt < 17,5 beim Erwachsenen, beim Jugendlichen liegt er entsprechend tiefer. Der Gewichtsverlust wird selber herbeigeführt beziehungsweise das Soll- *Dr. med. Tamara Guidi ist Oberärztin und Leiterin der Kinderschutzgruppe am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. Wachstumshormons und des Leptins. Bei den somatischen Symptomen stehen häufig gastrointestinale Beschwerden im Vordergrund. Dies sind Obstipation, Blähungen, Völlegefühl, gewicht wurde bewusst nie erreicht. Zusätzlich aber auch eine verminderte Darmmotilität, eine besteht eine Körperschemastörung. Bei den Frauen oder Malabsorption bei Laxanzienmissbrauch sowie Zeichen einer Mädchen liegt eine primäre oder sekundäre Amenorrhö von Ösophagitis, wenn die PatientInnen erbrechen. Diese führen mindestens drei Monaten vor. Bei Mädchen und Frauen, die ein nicht selten zu – meist unnötigen – ausgedehnten gastroente- orales hormonales Kontrazeptivum einnehmen, führt das rologischen Abklärungen. künstliche Weiterbestehen der Menstruationsblutung leider zu Des Weiteren treten kardiovaskuläre Symptome auf wie oft zu einer Spätdiagnose. Schwindel, orthostatische Hypotonie und Bradykardie. Ge- Der Gewichtsverlust kann allein Folge der Nahrungsrestriktion fürchtet sind Arrhythmien und die QT-Verlängerung. sein oder zusätzlich durch Erbrechen und/oder Missbrauch von Bei der körperlichen Untersuchung fallen neben dem vermin- Laxanzien und Diuretika verstärkt werden. derten Fettgewebe vor allem eine trockene, schuppende Haut, Eine sorgfältige somatische und psychische Abklärung ist un- eine manchmal sehr ausgedehnte Lanugobehaarung an Armen abdingbar und ermöglicht die Diagnosestellung. Wichtig ist es und Gesicht sowie trockene, strähnige Haare auf. Auffallend zu bedenken, dass die Anorexie in andere Formen der Ess- sind auch Hypothermie, kalte Hände und Füsse sowie eine aus- störungen übergehen kann, beispielsweise in eine Bulimie. gesprochene Akrozyanose. Tritt die Anorexie vor der Pubertät auf, so kommt es zu einer verzögerten Pubertätsentwicklung Das auffälligste Merkmal der Anorexie ist wohl das Unterge- mit verminderten sekundären Geschlechtsmerkmalen. wicht. Welche anderen Folgen zeigen sich in der Regel? In den Laboruntersuchungen kann es neben den bereits ge- Guidi: Die Anorexie involviert natürlich alle Organsysteme, die Aus- nannten endokrinologischen Veränderungen zu verschiedenen prägung somatischer Folgen hängt mit dem Ausmass und der Auffälligkeiten kommen. Im Blutbild zeigt sich häufig eine Dauer des Untergewichtes zusammen. Im Vordergrund stehen ei- Anämie, eine Leukozytopenie bis hin zur Panzytopenie. Nicht nerseits verschiedene endokrinologische Störungen wie das Low- selten sind Leberenzymerhöhungen, Hyperbilirubinämie, Hy- T3-Syndrom, bei dem es zu einer verminderten Konversion von T4 peramylasämien, Kreatininerhöhung und Hypalbuminämien. zu T3 kommt, mit daraus resultierendem tiefen T3-Spiegel bei nor- Ebenso können Elektrolytveränderungen wie Hypokaliämie, 22 GYNÄKOLOGIE 5/2004 Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie Groupement Suisse de Gynécologie de l’Enfant et de l’Adolescente (GYNEA) Somatische Folgen der Anorexie bei Jugendlichen Hyponaträmien, Hypochlorämien und eine metabolische Alkalose auftreten. Diese werden verstärkt durch induziertes Erbrechen, Laxanzien- und Diuretikamissbrauch. Zusätzlich zeigen sich veränderte Knochenresorptionsparameter. Für die Menarche und einen regelmässigen Menstruationszyklus braucht es ein genügendes Körpergewicht. Was geschieht in endokrinologischer Hinsicht, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist? Guidi: Auf dem Niveau der Hypothalamus-Hypophysen-Gonadenachse kommt es zu verschiedenen Störungen. Im Hypothalamus ist die Sekretion der Gonadotropin-Releasinghormone vermindert und dysrhythmisch. Dadurch ist die Sekretion der Hypophysenhormone LH und FSH stark erniedrigt, und es zeigt sich ein infantiles Sekretionsmuster. Dies führt zu Anovulation und Amenorrhö. Aufgrund des verminderten Fettgewebes erfolgt zusätzlich eine verminderte Konversion von Androgenen zu Östrogenen. Der Östrogen- und Progesteronspiegel sind erniedrigt. Zu beachten ist, dass die Amenorrhö manchmal dem eigentlichen Gewichtsverlust vorausgehen kann. Beim Knaben kommt es zu einer verminderten Testosteronsekretion. Inwiefern wirkt sich die Anorexie auf die Pubertätsentwicklung aus? Liegen Ergebnisse aus Langzeitstudien vor, welche die Fruchtbarkeit von Frauen untersucht haben, die in ihrer Jugend anorektisch waren? Guidi: Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die Fertilität nicht dauerhaft beeinträchtigt wird. Ein Teil der Patientinnen wird aber eine chronische Essstörung entwickeln oder immer wieder Rückfälle erleiden. Bei diesen Patientinnen kann die Amenorrhö persistieren, oder es können Fertilitätsprobleme beziehungsweise Probleme in der Schwangerschaft auftreten. Auch für das Knochenwachstum ist die Adoleszenz eine entscheidende Altersphase: Inwieweit wirkt sich die Anorexie auf Wachstum und Endgrösse aus? Guidi: In der Pubertät erfolgt der Wachstumsschub, bevor sich die Wachstumsfugen schliessen. Tritt die Anorexie vorher auf, so kann es zu einem Wachstumsstopp oder einer Wachstumsverzögerung kommen. Glücklicherweise kommt es bei den meisten PatientInnen zu einem Aufholwachstum, ein kleiner Teil wird aber die eigentliche Endgrösse nicht erreichen. Etwa 90 Prozent der anorektischen PatientInnen weisen nach einer gewissen Zeit eine Osteopenie auf. Was muss bezüglich der Gefahr einer frühen Osteoporose bei AnorektikerInnen besonders beachtet werden? Guidi: Im zweiten Lebensjahrzehnt wird ein grosser Teil der Knochenmineralisationsmasse, der Bone Peak Mass, angeeignet. Kann diese nur ungenügend aufgebaut werden, drohen schon im mittleren Erwachsenenalter Osteoporosekomplikationen. Durch die unzureichende alimentäre Zufuhr wichtiger Baustoffe, durch das tiefe Körpergewicht und die verschiedenen hormonellen Veränderungen kann es schon nach sechs Monaten zu einer nachweisbaren Osteopenie kommen. Wichtigste Faktoren zur Prävention der Osteoporose sind das Erreichen einer ausgewogenen Ernährung, eines möglichst normalen Körpergewichts und dadurch einer Normalisierung der hormonellen Veränderungen. Es gibt verschiedene Substitutionstherapien, die präventiv der Osteoporose oder zumindest ihrem Fortschreiten entgegenwirken. Welches sind aktuell Therapien, die bei der Anorexie zum Einsatz kommen? Guidi: Die Ursachen der Osteoporose bei der Anorexie sind multifaktoriell, Prävention und Behandlung sind deshalb schwierig. Unumstritten ist die genügende Kalzium- und Vitamin-D-Substitution. Die Substitutionsbehandlung mit Östrogenen und Progestativen, die in den letzten Jahren ebenfalls Fuss gefasst hat, wird heute kontrovers diskutiert, da sich die dadurch erhofften Behandlungsziele nur teilweise erfüllt haben. Andere Therapieansätze werden zur Zeit erprobt, wie etwa die Anwendung von Biphosphonaten. Wichtigste Faktoren bleiben jedoch die Normalisierung des Körpergewichts und der Ernährung. Wann ist eine Hospitalisation indiziert? Guidi: Die primäre Betreuung erfolgt bei uns ambulant in einer spezialisierten Sprechstunde. Eine Hospitalisation aus somatischen Gründen sollte bei allen bedrohlichen Situationen wie ausgeprägtem Untergewicht, raschem Gewichtsverlust in kurzer Zeit, bei schweren Elektrolytstörungen und bei allen kardialen Symptomen wie Rhythmusstörungen, schweren Bradykardien sowie Kreislaufsymptomen erfolgen. Die Spitaleinweisung kann natürlich auch zur Entlastung aller Betroffenen im Sinne eines Time-outs und zur Beurteilung der weiteren Therapieoptionen nötig sein, wie etwa der Notwendigkeit einer stationären Psychotherapie. Wichtig ist, dass die Hospitalisation nur in einem Spital erfolgt, welches Erfahrung in der Betreuung von PatientInnen mit Essstörungen hat. Die Mortalität von anorektischen PatientInnen liegt bei etwa 6 Prozent und hängt von der Dauer der Erkrankung ab. Welche Faktoren der Anorexie sind verantwortlich für einen tödlichen Verlauf? Guidi: Dauer und Schwere der Erkrankung sind wesentliche Faktoren, welche die Mortalität beeinflussen. Bei langjährigen Verläufen steigt die Mortalität an. Als häufige Todesursachen werden Infektionen, kardiale Komplikationen, Dehydratation und Elektrolytstörungen sowie Folgen der ausgeprägten Unterernährung genannt. Ein nicht unerheblicher Anteil der PatientInnen begeht auch später im Erwachsenenalter Suizid. Ein Teil der Todesursachen bleibt unbekannt. 23 GYNÄKOLOGIE 5/2004 Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie Groupement Suisse de Gynécologie de l’Enfant et de l’Adolescente (GYNEA) Somatische Folgen der Anorexie bei Jugendlichen Besonders bei sehr kachektischen PatientInnen erschöpfen sich die Speicher von Mineralien wie Phosphat, Kalium und Magnesium, beim Wiederauffüllen droht das Refeeding Syndrom. Welche metabolischen Prozesse laufen dabei ab, mit welchen somatischen Folgen? Guidi: Schwer untergewichtige PatientInnen zeigen zwar einen Mangel an verschiedenen Substraten, aber es besteht eine Art Gleichgewicht zwischen den Körperkompartimenten. Beginnt man die Rehydratation und Realimentation, so kommt es zu vielfältigen Veränderungen auf metabolischer und physiologischer Ebene. Werden diese nicht sorgfältig überwacht, so kann es zu verschiedenen Komplikationen kommen, wie etwa zu schweren Elektrolytverschiebungen, Herzinsuffizienz und vielem mehr, teilweise mit tödlichem Ausgang. Zu beachten ist auch, dass es zu einer Magenatonie kommen kann, mit konsekutiver Magendilatation bis hin zur Perforation. Dies ist insbesondere zu berücksichtigen, wenn eine Ernährung über die Magensonde erfolgt. Guidi: Die Realimentation soll, wenn möglich, peroral und langsam erfolgen. Aufgrund der möglichen Komplikationen erfordert sie eine gute klinische Überwachung und Kontrolle der Laborwerte. Sie sollte in einem mit dieser Problematik vertrauten Spital erfolgen. Frau Dr. Guidi, wir bedanken uns für das Interview. ◗ Korrespondenzadresse: Dr. med. Tamara Guidi Oberärztin Pädiatrie und Leiterin Kinderschutzgruppe Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen Tel. 071-243 75 91 E-Mail: tamara.guidi@gd-kispi.sg.ch Das Interview führte Alexandra Suter. Wie sollte sich die Realimentation gestalten, um dem vorzubeugen? Fortbildungshinweis 21.-23. April 2005, Berlin 5. Berliner Symposium für Kinder- und Jugendgynäkologie Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie Wissenschaftliche Leitung: Dr. Marlene Heinz Info: P&R Kongresse GmbH Bleibtreustraße 12A D-10623 Berlin Tel. 0049-30-8851008 e-mail: info@pr-kongresse.de 24 GYNÄKOLOGIE 5/2004