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JOURNAL CLUB
Sexualität bis ins hohe Alter
Untersuchungen bei Paaren nach der Lebensmitte
Ein befriedigendes Sexualleben ist für eine glückliche Partnerbeziehung wesentlich; seine Bedeutung scheint mit fortschreitendem Alter entgegen vielfach geäusserter Meinung nicht abzunehmen. Studien (1, 2) berichten, dass bis zu 80 Prozent der Frauen und Männer zwischen 40 und 60 Jahren Geschlechtsverkehr für einen wichtigen Teil ihres Lebens
halten. Über die Hälfte haben ein- bis sechsmal in der Woche sexuelle Kontakte. Aus diesem Grund ist es nicht erstaunlich, dass auch Impotenzprobleme des Mannes die Partnerschaft und die Lebensqualität von Mann und Frau beeinträchtigen. Heute stehen für diese Indikation Therapieoptionen zur Verfügung.
Weit verbreitet ist die Ansicht, dass Menschen, wenn sie älter werden, immer weniger sexuelle Bedürfnisse verspüren. Diese Meinung kann gemäss neuerer Untersuchungen grundsätzlich nicht unterstützt werden. Studien (3, 4) haben ergeben, dass die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr bei Männern und Frauen nach der Lebensmitte vor allem von drei Faktoren abhängt: ◗ der Häufigkeit sexueller Kontakte in
den Lebensphasen zuvor ◗ der körperlichen und psychischen Ge-
sundheit ◗ psychologische Faktoren. Sexualstörungen («sexuelle Dysfunktion») werden immer häufiger zum Beratungs- und Behandlungsthema auch in der gynäkologischen (wie in der allgemeinmedizinischen Sprechstunde) mit Einbezug beider Partner. Etwa ein Viertel aller ambulanten Patientinnen gibt als Haupt- oder Nebengrund der Konsultation beim Frauenarzt sexuelle Störungen an und sieht den Frauenarzt/die Frauenärztin als «Experte/Expertin» für Sexualität (5).
Sexuelle Aktivität während des Lebens
Bei Männern und Frauen, die in ihrem Leben häufig Sexualkontakt hatten, nimmt das sexuelle Interesse mit fortschreitendem Alter weniger ab als bei denjenigen, die bislang wenig sexuell ak-
tiv waren. Kaplan (6) fand heraus, dass die meisten Menschen, die sexuell aktiv bleiben, viel Freude und Kraft aus Sexualkontakt schöpfen. Körperlich gesunde Frauen und Männer können bis ins neunte Lebensjahrzehnt sexuell aktiv sein, was alle Formen der Sexualität einschliesst (vgl. Tabelle).
Körperliche Gesundheit
Krankheiten, allgemeine physische Veränderungen wie auch viele medikamentöse Therapien können Einfluss auf Libido und sexuelle Potenz haben. Probleme im Sexualleben älterer Paare können beispielsweise Bewegungseinschränkungen infolge einer Arthritis oder Arthrose bereiten. Weitere Schwierigkeiten bereiten gehäuft Inkontinenz, vaginale Trockenheit und Sensibilitätsprobleme bei Frauen. Beim männlichen Partner stehen im Alter Erektionsprobleme im Vordergrund. Gezielte medikamentöse Therapien, aber auch praktische Ratschläge können oftmals kleine Wunder bewirken.
Psychische Gesundheit und psychologische Faktoren
Sexuelle Probleme entstehen nicht selten in Zusammenhang mit einer Depression, die bei Männern und Frauen nach der Lebensmitte gehäuft auftritt, oder auch in der Folge einer langwierigen Erkrankung sowie einer medikamentösen Behandlung. Zu beachten ist, dass die neueren
Nicht nur die Jungen: Sexualität wird auch lange nach der Meno- und Andropause gewünscht und ausgelebt und bedeutet Quelle für Lebensfreude und Kraft. Störungen werden heute immer häufiger zum Thema in der Sprechstunde.
Antidepressiva zu einer sexuellen Dysfunktion führen können, welche Libidoverlust und Orgasmusstörungen bei beiden Geschlechtern einschliesst. Andererseits können Sexualstörungen eine bestehende Depression verstärken. Zudem beeinflussen gesellschaftlich verankerte Vorstellungen über Erotik besonders bei älteren Frauen die Einstellung zu Sexualität und können zu niedrigem Selbstbewusstsein und Depression beitragen. Gerade bei älteren, verwitweten Frauen bestehen oft Schamgefühle («in meinem Alter ...!») und Ängste.
Bedeutung der erektilen Dysfunktion
Zur Behandlung der männlichen Partner, welche unter einer erektilen Dysfunktion
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GYNÄKOLOGIE 5/2004
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Sexualität bis ins hohe Alter
Kasten:
Weibliche Sexualstörungen sind selten isolierte, anatomisch-organisch bedingte Funktionsstörungen, sondern im weitesten Sinne Beziehungsstörungen. Sie sind stärker als beim Mann partnerbezogen und dadurch störanfälliger, abhängig von der emotionalen Qualität. Sie chronifizieren rasch und remittieren spontan fast nie. Aus diesem Grund ist die Mitarbeit des Partners bei der Therapie unerlässlich (5).
Erektile Dysfunktion (ED) wird definiert als die andauernde Unfähigkeit des Mannes, eine Erektion zu erlangen oder aufrechtzuerhalten. Schätzungsweise sind etwa die Hälfte aller Männer über 40 Jahren in irgendeiner Weise betroffen; in der Schweiz leiden etwa 350 000 Männer unter manifester ED. 70 bis 80% aller Fälle haben organische Ursachen, eine psychische Komponente spielt aber oft mit. Das Enzym Phospodiestase 5 (PDE-5) kommt hauptsächlich im Schwellkörper des Penis vor und spielt eine wichtige Rolle beim Erektionsvorgang. Als Behandlung erster Wahl stehen heute die oralen PDE-5-Inhibitoren der zweiten Generation Sildenafil (Viagra®), Vardenafil (Levitra®) und Tadalafil (Cialis®) zur Verfügung.
Tabelle: Anteil der sexuell aktiven Männer und Frauen über 50 Jahre (Daten nach Brecher [4] bzw. [6]) in Prozent
Sexuell aktiv
50 bis 59 Jahre
Frauen (n =1844)
93
Männer (n = 2402)
98
Empfinden Sexualität sehr befriedigend
Frauen
71
Männer
90
60 bis 69 Jahre 81 91
70 bis 79 Jahre 65 79
65 61 86 75
(ED) leiden, ist bedeutsam zu erfahren, welche Konsequenzen diese Störung auf das Sexualleben des Paares hat. Die Verfügbarkeit medikamentöser Therapien durch die neuen wirksamen und sicheren PDE-5-Inhibitoren hat das Interesse der Forschung bisher vor allem auf die Penetrationsfähigkeit gelenkt. Neben der für die Männer weithin gewünschten Wirkungen dieser Präparate ist die Frage wesentlich, inwieweit für die Frauen ein befriedigendes Sexualleben mit schnellem Koitus verbunden ist. Es zeigt sich nämlich gerade in der gynäkologischen Sprechstunde immer wieder, dass für einen Grossteil der Frauen eine Penetration nicht immer gewünscht wird, vor allem wenn diese mit Schmerz oder Unwohlsein (bzw. Dyspareunie) verbunden ist, welche zu behandeln wären. Eine kürzlich durchgeführte britische Studie (7) untersuchte Erwartungen, Haltungen und sexuelle Gewohnheiten bei Frauen und Männern (mit und ohne ED)
im Alter über 40 Jahren. Insbesondere Reaktionen wie die Erektionsgeschwindigkeit beim Mann nach ersten Gedanken an Geschlechtsverkehr sowie der Wunsch nach erneutem Koitus innerhalb von 24 Stunden beider Partner wurden dabei analysiert. Rekrutiert wurden heterosexuelle, nicht gegenseitig liierte Teilnehmer für anonyme, online-geführte Interviews aus einem Pool von 65 000 Menschen, der für eine Internetbasierte Marktforschungsgesellschaft zur Verfügung stand. 710 Männer und 342 Frauen im mittleren Alter von 51,9 Jahren nahmen teil. 32 Prozent der Männer litten nach eigenen Angaben unter ED und 26 Prozent der Frauen gab eine ED ihrer Partner an. 81 Prozent der Männer und 89 Prozent der Frauen gaben an, es sei für sie nicht wichtig, mehr als einmal innerhalb von 24 Stunden Geschlechtsverkehr zu haben. Es zeigte sich, dass im Schnitt 20 bis 30 Minuten vergehen von der Entschei-
dung, Sex zu haben bis zum Koitus,
unabhängig davon, ob beim Mann eine
ED vorliegt oder nicht. Eine internatio-
nale Studie bei Männern mit ED (8) er-
gab, dass für viele Männer ein schneller
Wirkeintritt essenzieller Bestandteil der
Behandlung und noch wichtiger als eine
lang andauernde Wirkung sei. In der
ONTIME-Studie (9) zeigte sich, dass
unter dem PDE-5-Inhibitor Vardenafil
(Levitra®) die Wirkung schon nach etwa
zehn Minuten und damit schneller als
unter den Vergleichssubstanzen eintritt.
Unter der Substanz Tadalafil (Cialis®) ist
dagegen eine lange Wirkdauer von bis
zu 36 Stunden möglich (10).
In der Sprechstunde sollten auch diese
Aspekte besprochen werden. In jedem
Fall sollte die Wirksamkeit möglicher Me-
dikamente, gerade auch der PDE-5-Inhi-
bitoren für die männlichen Partner, mit
dem Paar besprochen und gemeinsam
eine Wahl getroffen werden.
◗
Bärbel Hirrle
Quellen: 1. Read, Jane: ABC of sexual health. Sexual problems associated with infertility, pregnancy, and ageing. BMJ 2004; 329; 559–561. 2. Masters, W.H. Johnson, V.E.: Masters and Johnson on sex and human bonding. Boston: Little, Brown, 1986. Und: Pfizer: The Pfizer Global Study of Sexual Attitudes and Behaviours. Pfizer Inc. 2002. 3. Bancroft, J.: Human sexuality and its problems. Edinburgh. 1989: 282–285. 4. Brecher, E.M.: Love, Sex and ageing. Consumer’s Union Report. Boston, MA. 1984. 5. Baltzer, J. et al.: Praxis der Gynäkologie und Geburtshilfe. Stuttgart, New York 2004: 92–96. 6. Kaplan, H.S.: Injection treatments for older patients. In: Wagner G., Kaplan H.S. (Hrsg.): The new injection treatment for impotence. New York 1993: 143. 7. Eardley, I. et al.: The sexual habits of British men and women over 40 years old. British Journal of Urologie (BJU) International 2004: 93: 563–567. 8. Rosen, R. et al.: Current Medical Research and Opinions 2004; 20: 607–617. 9. Montorsi, F. et al.: Präsentation des 7th Congress for the European Federation of Sexology. Mai 2004, Brighton. 10. Padma-Nathan, H.: A. J. Cadiology 2003: 92 (Suppl. 1): 19–25.
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