Transkript
SCHWERPUNKT
Individuelle Risikospezifizierung für Chromosomenanomalien in der Frühschwangerschaft
Die neuen gemeinsamen Empfehlungen für das Ersttrimesterscreening
Professor Dr. med. Dr. h.c. Wolfgang Holzgreve et al.
Für die Schweiz wurden aktuell neue Empfehlungen für die individuelle Pränataldiagnostik herausgegeben, welche von massgeblichen Kommissionen* in der Schweiz gemeinsam ausgearbeitet
wurden. Ziele sind die Verbesserung und Vereinheitlichung, individuelle Entscheidungsfindung («Recht auf Nichtwissen») sowie Qualitätssicherung in der Pränataldiagnostik.
Die alleinige Berücksichtigung des mütterlichem Alters bei der Risikospezifizierung für Chromosomenanomalien in der Schwangerschaft entspricht heute nicht mehr dem Stand der Wissenschaft (Standard of Care). Sowohl sonografisch quantifizierbare Parameter (insbesondere die so genannte Nackentransparenz) als auch biochemische Parameter im mütterlichen Serum, die im zweiten und seit einiger Zeit auch im ersten Schwangerschaftstrimenon bestimmt werden können, ermöglichen eine deutlich höhere Entdeckungsrate bei deutlich niedrigerer Test- (bzw. «Falsch»-) Positivrate als bei alleiniger Berücksichtigung des mütterlichen Alters, wie in zahlreichen Studien belegt wurde. Eine zeitgemässe Risikoabschätzung stützt sich daher auf den sonografischen Befund, Serumparameter und das Alter der Mutter (1–7). Das Vorgehen ist im Vergleich zur früher üblichen alleinigen Berücksichtigung des mütterlichen Alters ungleich komplexer und erfordert vor allem in zwei Bereichen besondere Anstrengungen: ◗ Information und Beratung der betrof-
fenen Schwangeren ◗ Qualitätssicherung für Sonografie, La-
bormethoden, Risikoberechnung und Beratung. Tatsächlich ist eine Berücksichtigung von sonografischen und biochemischen Befunden bei der Risikoabschätzung vielerorts heute schon Realität; aufgrund fehlender Standards bleibt dieses Vorgehen jedoch uneinheitlich. Die Folge sind sachlich unbegründete qualitative Unterschiede in der Schwangerenversorgung.
Da aber am Endpunkt der Entscheidungsfindung eine invasive Methode (Chorionbiopsie bzw. Amniozentese) mit Eingriffsrisiken steht, ist eine maximale Sorgfalt beim Screeningangebot unverzichtbar.
Ziele der Screeningempfehlungen
Ziel der Empfehlungen ist die Verbesserung und Vereinheitlichung der Risikospezifierung für fetale Chromosomenanomalien zu einem möglichst frühen Zeitpunkt.
Die Empfehlungen spezifizieren das Vorgehen, die personellen und apparativen Voraussetzungen sowie die erforderlichen Qualitätssicherungsmassnahmen dieses multidisziplinären Ansatzes.
Organisation und zeitlicher Ablauf
Beratung der Schwangeren Alle Schwangeren sollen über die Möglichkeit einer Risikospezifizierung für fetale Chromosomenanomalien, welche über die Erfassung des mütterlichen
*Herausgebende Kommissionen und Gesellschaften
q Standardkommission der Schweizerischen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (SGUM) q Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) q Schweizerische Gynäkologische Chefärztekonferenz (CHG) q Akademie feto-maternale Medizin (AFMM) q Schweizerische Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin – Sektion Gynäkologie und Geburts-
hilfe (SGUMGG) q Laborgruppe I.-TT q Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG)
(Mitglieder und Tutoren siehe Seite 13)
Damit sollen unnötige invasive Untersuchungsmassnahmen vermieden und ihre Zahl möglichst ingesamt reduziert werden. Schwangere Frauen sollen die bestmögliche Entscheidungsgrundlage haben. Die aktive Propagierung eines eigentlichen Screenings wird abgelehnt. Es handelt sich um ein Angebot an einzelne Schwangere, die nicht direktiv über die Möglichkeit der Risikospezifizierung informiert werden und eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen sollen. Ausdrücklich betont werden soll das «Recht auf Nichtwissen» einer Schwangeren.
Alters hinausgeht, informiert werden. Ohnehin müssen bereits heute alle Schwangeren, die sich einer Ultraschalluntersuchung unterziehen, nach Artikel 13 der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) beraten werden und sich dabei mit der Frage auseinander setzen, wie bei sonografischen Besonderheiten, die ein erhöhtes Risiko für Chromosomenanomalien bedeuten, zu verfahren ist. Anzustreben ist eine geeignete Information der Schwangeren über Wesen und mögliche Konsequenzen von Risikoscreeninguntersuchungen bereits vor der
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ersten Ultraschalluntersuchung, da bereits hier unter Umständen Fakten geschaffen werden. Wichtige Prinzipien bei der Indikationsstellung zum Risikoscreening sind Freiwilligkeit und Patientinnenautonomie. Voraussetzung für eine autonome Entscheidung der Schwangeren sind geeignete Informationsvermittlung und ausreichende Bedenkzeit, um Automatismen bei den Entscheidungsabläufen zu vermeiden. Die Schwangere soll von der Ärztin/dem Arzt informiert werden, jedoch soll der Anspruch auf Nichtwissen respektiert werden. Unter Qualitätssicherungs- sowie forensischen Aspekten ist es wünschenswert, dass die Information zusätzlich in schriftlicher Form vermittelt wird (siehe Anhang). Zu berücksichtigen sind dabei auch die besonderen Probleme mit Schwangeren aus anderen Kulturkreisen und beschränkten Sprachkenntnissen. Jeder Schwangeren kann darüber hinaus eine formale genetische Beratung durch einen Facharzt/eine Fachärztin für Medizinische Genetik angeboten werden, um den gesamten Problemkreis ausführlicher zu erörtern. Dadurch kann eine umfassende Informationsvermittlung sichergestellt werden, die in dieser Ausführlichkeit aufgrund zeitlicher Zwänge in der ärztlichen Praxis nicht immer gewährleistet ist. Ein weiterer positiver Aspekt dieses Vorgehens kann in der Trennung von Beratungs- und Eingriffsumgebung liegen. Die enge Beibehaltung eines «Schwellenrisikos» (heute dasjenige einer 35jährigen Schwangeren) sollte überdacht werden. Zu den Gründen für diese bestehende (und weit über die Schweiz hinaus verbreitete) Praxis zählt die Überzeugung, dass eine risikobehaftete Untersuchungsmethode nur bei einer mindestens ebenso hohen Entdeckungswahrscheinlichkeit für eine erkennbare Chromosomenanomalie zur Anwendung kommen darf. Grundsätzlich liegt die Entscheidung für oder gegen einen invasiven Eingriff bei der Schwangeren in Abwägung der individuellen Risiken. Die ärztliche Aufgabe in der Beratungsphase liegt in der adäquaten Be-
ratung der Schwangeren und Begleitung im Entscheidungsfindungsprozess.
Risikoermittlung
Nach heutigem Kenntnisstand erfolgt die Risikoermittlung unter Berücksichtigung der Nackentransparenz, der mütterlichen Serumparameter sowie des mütterlichen Alters. Von diesem Grundsatz sollte nur dann abgewichen werden, wenn die Patientin dies ausdrücklich wünscht. Beispielsweise kann bei sehr auffälligem Ultraschallbefund auf die biochemische
Mitglieder und Tutoren
PD Dr. K. Biedermann, Chur Dr. L. Bronz, Bellinzona Dr. G. Drack, St. Gallen Dr. P. Dürig, Bern PD Dr. P. Extermann, Genf Prof. Dr. Dr. h.c. W. Holzgreve, Basel Prof. O. Irion, Genf Dr. P. Kuhn, Bern Prof. Dr. P. Miny, Basel Dr. R. Müller, Winterthur Dr. L. Raio, Bern Dr. G. Savoldelli, Zürich PD Dr. S. Tercanli, Basel Dr. Y. Vial, Lausanne PD Dr. J. Wisser, Zürich Prof. Dr. R. Zimmermann, Zürich
Untersuchung verzichtet werden, um eine gewünschte Abklärung des Chromosomenbefundes zu beschleunigen. Eine Risikoermittlung allein auf der Basis von Serumparametern und Alter sollte vermieden werden. Blutentnahme und Ultraschalluntersuchung können einzeitig oder zweizeitig in den Schwangerschaftswochen 11 bis 14 erfolgen. Bei zweizeitigem Vorgehen empfiehlt es sich, zuerst die Blutentnahme durchzuführen. Der Arzt/die Ärztin informiert die Patientin über das Risiko unter Berücksichtigung aller genannten Parameter. Eine Mitteilung von mehreren Risiken unter Berücksichtigung von Einzelparame-
tern sollte vermieden werden, es sei denn, diese begründen ein spezifisches Risiko. Der Arzt/die Ärztin unterstützt die Schwangere bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine invasive Diagnostik unter Berücksichtigung von ermitteltem Risiko für eine Chromosomenanomalie, Eingriffsrisiko der Chorionbiopsie oder Amniozentese und anderen relevanten Aspekten. Gegebenenfalls kann die Schwangere auch zu diesem Zeitpunkt auf die Möglichkeit einer formalen genetischen Beratung hingewiesen werden. Automatismen im Hinblick auf Entscheidungen der Schwangeren über Konsequenzen sollten ausdrücklich vermieden werden.
Ultraschalluntersuchung
Die Ultraschalluntersuchung muss in den Schwangerschaftswochen 11 bis 14 erfolgen (Informationen über Messung und apparative Voraussetzungen über Korrespondenzpartner).
Fachliche Voraussetzungen Voraussetzung ist der «Fähigkeitsausweis Schwangerschaftsultraschall» (Zertifizierung und Ausbildung). Zusätzlich erforderlich sind: ◗ Teilnahme an einem von der Schwei-
zerischen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (SGUM) anerkannten theoretischen Kurs der Ultraschalluntersuchung (11. bis 14. SSW) ◗ Teilnahme an einer theoretischen Prüfung mit standardisiertem Fragebogen ◗ Dokumentierte eigene Untersuchungen: 10 Bilder mit einem Score von ≥ 7 ◗ Freiwillige Teilnahme an einem externen Qualitätssicherungsprogramm mit jährlichem Audit durch die Standardkommission Schwangerschaftsultraschall (in Zusammenarbeit mit der FMF London) ◗ Verbindlich: Rezertifizierung nach Richtlinien des Fertigkeitsprogramms Schwangerschaftsultraschall. Zur Rezertifizierung können die persönlichen Auswertungen von freiwilligen jährlichen Audits vorgelegt werden. Wenn diese fehlen oder die Ergebnisse der
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jährlichen Audits unzureichend waren, erfolgt eine Re-Evaluation entsprechend der genannten Kriterien (d.h. 10 entsprechende Bilder).
Übergangsbestimmungen Gegenwärtig haben zirka 430 KollegenInnen an einem anerkannten Kurs für das Ersttrimesterscreening teilgenommen. Eine vergleichbare Zahl von KollegenInnen haben in den letzten Jahren an den Kursen zum Erwerb des «Fertigkeitsausweises Schwangerschaftsultraschall» teilgenommen (entweder dreimal eineinhalbtägig oder ein fünftägiges Kurs bzw. äquivalente Kurse), in denen das Ersttrimesterscreening beinhaltet war. Zirka 30 KollegenInnen -haben sowohl einen theoretischen Kurs als auch eine praktische Prüfung absolviert sowie eine entsprechende Bilderanzahl bereits vorgelegt. Diese sind bereits zertifiziert.
Übergangsregelung bis 1.1. 2006 Hierfür gilt: ◗ Anerkennung der Teilnahme an den
theoretischen «Nackentransparenz (NT)-Kursen», die bereits für zirka 430 Ärzte/Ärztinnen durchgeführt worden sind ◗ Anerkennung der Teilnahme an den Kursen zum Erwerb des «Fertigkeitsausweises Schwangerschaftsultraschall» in den letzten drei Jahren ◗ Angebot von ausreichenden Kursen bis 2006, beispielsweise anlässlich der SGGG-Jahrestagungen und der regionalen Fortbildungen (z.B. Davoser Fortbildung, Engadiner Fortbildungswoche, Ostschweizerisches Symposium, Oberrheinische Jahrestagung, UltraschallDreiländertreffen, Cours d’ échographie prénatale etc.), damit allen Ärzten/Ärztinnen der Zugang problemlos ermöglicht werden kann ◗ Fortlaufendes Angebot von Kursen mit praktischen Übungen oder Hospitationen mit Bildbefundung durch alle Tutoren und Kursleiter ◗ Bis 1.1.2006 Einreichung von 10 eigenen Bildern mit NT-Messung nach standardisierten Richtlinien an die Standardkommission.
Koordination mit den Laboratorien
Dem partizipierenden Labor obliegt neben der Bestimmung der Serumparameter die Datenpflege, die zur Ermittlung verlässlicher Medianwerte erforderlich ist. Massgebend sind Richtlinien der QUALAB sowie die spezifischen Empfehlungen von externen Qualitätssicherungsprogrammen in diesem Bereich (z.B. UK-NEQAS). Die regelmässige Teilnahme an einem von der QUALAB anerkannten spezifischen externen Qualitätssicherungsprogramm ist verpflichtend. Die Laboratorien, die den Ersttrimestertest anbieten wollen, lassen sich für diesen Test zertifizieren (als Mindestzahl für die Zertifizierung werden 800 Analysen pro Jahr gefordert).
Risikoberechnung
Individuelle Vereinbarungen zwischen zertifizierten Ärzten/Ärztinnnen und Laboratorien sind möglich.
Alternative 1 (lizensierte Software beim Arzt/bei der Ärztin): Das Labor teilt dem Arzt/der Ärztin Messwerte als Multiple des Medians (MoM) mit; die Risikoberechnung erfolgt durch den Arzt/die Ärztin unter Berücksichtigung der NT. Eine Risikoberechnung unter alleiniger Berücksichtigung der Serumparameter und des mütterlichen Alters mit nichtzertifizierten Risikokalkulationsprogrammen ist nicht sinnvoll.
Alternative 2 (lizensierte Software im Labor): Die zertifizierten Ärzte/Ärztinnen teilen dem Labor den Messwert der NT sowie alle weiteren erforderlichen Parameter mit; die Risikoberechnung erfolgt im Labor, welches sie den Ärzten/Ärztinnen übermittelt. Die Standardkommission darf die ihr zugänglichen Messwerte in anonymisierter Form zum Zwecke der Qualitätsüberwachung sowie zur wissenschaftlichen Evaluation der Effizienz des Programms auswerten. Die Datensammlung und Aufbereitung erfolgen anhand einer anerkannten und lizensierten Software mit
der Option zu Datenexport und zentralem Audit. Die Verwendung und auch Publikation von Daten sind nur mit dem Konsens der Kommission möglich. ◗
Korrespondenzadresse: Professor Dr. med. Dr. h.c.
Wolfgang Holzgreve Universitätsfrauenklinik Spitalstrasse 21 4031 Basel
E-Mail: wolfgang.holzgreve@unibas.ch
Unterlagen zu den rechtlichen Grundlagen, Informationen zur Messung und zu apparativen Voraussetzungen und Ausbildungskursen beim Verfasser.
Referenzliteratur: 1. Snijders RJM, Noble P, Sebire N, Souka A, Nicolaides KH. UK multicentre project on assessment of risk of trisomy 21 by maternal age and fetal nuchal translucency thickness at 10–14 weeks of gestation. Lancet 1998; 351: 343–346. 2. Spencer K, Ong C, Skentou H, Liao AW, Nicolaides KH. Screening for trisomy 13 by fetal nuchal translucency and maternal serum free beta hCG and PAPPA at 10–14 weeks of gestation. Prenat Diagn 2000; 20: 411–416. 3. Nicolaides KH. Screening for chromosomal defects. Ultrasound Obstet Gynecol 2003; 21: 313–31. 4. Bindra R, Heath V, Liao A, Spencer K, Nicolaides KH. One-stop clinic for assessment of risk for trisomy 21 at 11–14 weeks: a prospective study of 15030 pregnancies.Ultrasound Obstet Gynecol 2002; 20: 219–225 (2). 5. Spencer K, Spencer CE, Power M, Dawson C, Nicolaides KH. Screening for chromosomal abnormalities in the first trimester using ultrasound and maternal serum biochemistry in a one-stop clinic: a review of three years prospective experience. BJOG 2003; 110: 281–286. 6. Souka AP, Krampl E, Bakalis S, Heath V, Nicolaides KH. Outcome of pregnancy in chromosomally normal fetuses with increased nuchal translucency in the first trimester. Ultrasound Obstet Gynecol. 2001 Jul; 18 (1): 9–17. 7. Gasiorek-Wiens A, Tercanli S, Kozlowski P, Kossakiewicz A, Minderer S, Meyberg H, Kamin G, Germer U, Bielicki M, Hackeloer BJ, Sarlay D, Kuhn P, Klapp J, Bahlmann F, Pruggmayer M, Schneider KT, Seefried W, Fritzer E, von Kaisenberg CS. GermanSpeaking Down Syndrome Screening Group. Screening for trisomy 21 by fetal nuchal translucency and maternal age: a multicenter project in Germany, Austria and Switzerland.Ultrasound Obstet Gynecol. 2001; 18 (6): 645–648.
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