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SCHWERPUNKT
Tension Free Vaginal Tape: «the real world»
Berner Studie über die breitere Anwendung des TVT
Dr. med. Annette Kuhn
Seit Einführung des Tension Free Vaginal Tape (TVT) Mitte der Neunzigerjahre durch Ulmsten hat sich diese minimal invasive chirurgische Therapie bei weiblicher Stressinkontinenz etabliert und verbreitet. Es zeigt sich aber gleichzeitig, dass die von Ulmsen und Kollegen berichteten sehr hohen Erfolgraten
von 80 bis 90 Prozent nur von sehr geübten Operateuren erreicht werden. Eine Studie an der Frauenklinik Inselspital Bern untersuchte das Verfahren unter den Ausbildungsbedingungen einer Universitätsklinik hinsichtlich Effektivität, Machbarkeit und Komplikationen für die breite Anwendung.
Die weibliche Belastungsinkontinenz stellt bekanntlich ein weit verbreitetes Problem dar; 2 bis 57 Prozent aller Frauen, welche zu Hause leben (1) und 0,2 bis 91 Prozent aller institutionalisierten Patientinnen leiden darunter. Die grosse Variationsbreite der epidemiologischen Daten geht auf eine bislang nicht einheitliche Definition der Inkontinenz zurück: Die wenigsten Studien benutzen die Definition der ICS (International Continence Society), welche erst vor kurzem wie folgt neu formuliert wurde: «Inkontinenz ist unwillkürlicher Urinverlust, der zum sozialen oder hygienischen Problem wird.» Zudem wird Inkontinenz noch weit unterschätzt beziehungsweise tabuisiert: Patientinnen suchen häufig erst nach einer Latenzzeit von mehr als fünf Jahren ärztliche Hilfe, und es werden nur zirka ein Drittel dieser Frauen wegen ihrer Beschwerden behandelt. Interessanterweise äussern sich Männer mit Inkontinenzbeschwerden doppelt so häufig und auch früher bei den behandelnden Ärzten. Risikofaktoren für die Erkrankung Inkontinenz sind unter anderem Menopause, Schwangerschaft und Geburt, CVI, Diabetes, hoher BMI, chronisch obstruktive Bronchitis und andere chronische Erkrankungen. Die Hysterektomie scheint nach neueren Daten keine Rolle mehr zu spielen.
Ältere chirurgische Standardtherapien
Herkömmliche chirurgische Therapien
zur Behandlung der Stressinkontinenz versuchten, eine chirurgische Wiederherstellung der normalen pelvinen Anatomie durch ◗ Anheben der proximalen Urethra und
des Blasenhalses in den Bereich der intraabdominalen Druckzone ◗ eine Erhöhung des urethralen Widerstandes, oder ◗ eine Kombination von beidem zu erreichen. Die retropubische Urethropexie, zu der die Operation nach Marshall-MarchettiKrantz und die Burch-Kolposuspension gehören, kann unter Allgemeinnarkose oder Spinalanästhesie durchgeführt werden. Sie war bis jetzt immer noch die Standardoperation der Stressinkontinenz. Die Burch-Kolposuspension eleviert den Blasenhals und platziert die proximale Urethra in eine Position, in der sie während eines intraabdominalen Druckanstieges gegen den postero-superioren Teil der Symphyse komprimiert wird.
Das neue Verfahren mittels TVT
Revolutioniert wurden die chirurgischen Inkontinenzverfahren durch die Einführung des Tension Free Vaginal Tape (TVT) in der Mitte der Neunzigerjahre durch Ulmsten. Durch Einlage eines Prolenebandes unter die mittlere Urethra wird eine Stabilisierung derselben erreicht und die Stressinkontinenz erfolgreich therapiert. Subjektive Erfolgsraten von 90 Prozent und objektive Heilungsraten von 70 Prozent sind vielfach, und auch in grösseren Kollektiven, dokumen-
tiert; und der Vergleich mit abdominalen Verfahren wie der Kolposuspension hält stand. Der Eingriff, der unter Lokalanästhesie durchgeführt werden kann, dauert zirka 20 bis 30 Minuten. Er braucht trotz seiner minimal invasiven Qualitäten einige Erfahrung der Operateurs. Die Operation erfordert eine kleine Inzision in der Vagina, direkt unter der Urethra, und zwei kleine Inzisionen am Oberrand der Symphyse. Die potenziellen Komplikationen dieses Eingriffes sind unter anderem: ◗ Blasenentleerungsstörungen ◗ Intraoperative Blasenverletzungen ◗ Gefäss- und Darmverletzungen. Das TVT ist mittlerweile eine weit verbreitete und etablierte chirurgische Therapie zur Behandlung der Stressinkontinenz. Der Erfinder Ulmsten sowie andere skandinavische Zentren berichten über Erfolgsraten zwischen 80 und 90 Prozent. Diese Zentren haben den Vorteil, dass eine kleine Anzahl von Operateuren die Eingriffe vornehmen. Ziel unserer Berner Studie war es, dieses neue Verfahren unter den Ausbildungsbedingungen einer Universitätsklinik hinsichtlich Effektivität, Machbarkeit sowie Nebenwirkungen und Komplikationen für die breite Anwendung zu evaluieren.
Berner TVT-Studie: Patientinnen und Methode
Zwischen Januar 1999 und Dezember 2001 operierten 22 verschiedene Operateure 122 Patientinnen, die unter einer Belastungsinkontinenz litten, mit einem
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TVT nach der von Ulmsten beschriebenen Methode. Lediglich die Anästhesie war unterschiedlich: Nur in 4 Fällen erfolgte eine Lokalanästhesie wie in der Originalbeschreibung, 117 Patientinnen erhielten eine Spinalanästhesie und 1 Patientin wegen gleichzeitiger laparoskopischer Adhäsiolyse eine Intubationsnarkose. Das Alter betrug 34 bis 90 Jahre (Median 66), der Body Mass Index (BMI) 17 bis 37 (Median 26), 11 Patientinnen waren prämenopausal und 111 postmenopausal. Die häufigsten Nebendiagnosen waren: ◗ Adipositas (n = 37) ◗ arterielle Hypertonie (n = 31) ◗ Diabetes mellitus (n = 10) ◗ Depressionen (n = 10). Prä- und postoperativ haben wir eine Urodynamik mit Urethradruckprofilen, Füllzystometrie, Druckflussstudie, Perinealsonografie und Hustentest veranlasst. Die Patientinnenzufriedenheit wurde auf einer Analogskala gemessen. Die Nachkontrolle erfolgte zwölf Monate postoperativ. Bei 27 Patientinnen handelte es sich um Rezidivinkontinenzen. Die meisten Operationen (n = 112) wurden mit anderen gynäkologischen Eingriffen wie vaginaler Hysterektomie und vorderer und/oder hinterer Plastik kombiniert. Als subjektiv geheilt betrachteten wir Patientinnen, die sich selbst als vollständig trocken bezeichneten, als objektiv geheilt diejenigen ohne Urinverlust in der Urodynamik.
Die Studienresultate
Intra- und postoperative Komplikationen sowie deren Auftretenshäufigkeit bei den 122 Patientinnen unter dem minimal invasiven Eingriff zeigt die Tabelle 1. Alle Blasenperforationen traten bei Rezidiveingriffen auf. In diesem Fall wurde der TVT-Sporn zurückgezogen und wenig nach lateral versetzt. Technische Schwierigkeiten gab es einmal in Form eines verbogenen TVT- Spiesses bei einer mehrfach voroperierten Patientin, die auch noch wegen eines Rektumkarzinoms bestrahlt war. Wenn der Beugewinkel des Spiesses verändert ist, ist die Einlage sehr schwie-
Tabelle 1: Komplikationen der TVT-Einlage
Intraoperativ Blutung: n = 1 Blasenperforation: n = 4 Technische Schwierigkeiten: n = 2 Insuffizienter Hustenstoss: n = 9
Postoperativ Nachblutung: n = 2 Bauchwandhämatom: n = 1 Miktionsstörungen: < 2 Wochen, n = 12 Miktionsstörungen: > 2 Wochen, n = 13 Osteitis: n = 1 Erosion des Bandes in die Vagina: n = 2
Tabelle 2: Heilungsrate und Patientinnenzufriedenheit
Patientinnen n %
Subjektiv geheilt 85 69,9
Objektiv geheilt 73 60,6
zufrieden 101 83
rig; das TVT wurde entfernt und neu eingelegt. Das gleiche Vorgehen haben wir bei einer anderen Patientin gewählt, als beim Durchziehen des Spiesses das Band vom Spiess diskonnektierte. Die Nachblutungen wurden konservativ behandelt, und keine Patientin musste deswegen revidiert werden. Miktionsstörungen traten in Form von signifikanter Restharnbildung und De-novo-Urgesymptomatik auf und wurden durch Lockerung des Bandes von vaginal her ab zwei Wochen postoperativ behandelt. Bei der Patientin mit Osteitis der Symphyse wurde das Band in toto über abdominalen und vaginalen Zugang entfernt. Vaginale Erosionen des Bandes wurden durch Mobilisation des umgebenden Vaginalgewebes gedeckt, bei Persistenz nach zweimaligen Deckungen wurde der vaginale Anteil des Bandes entfernt. Die Heilungsrate und Zufriedenheit der Frauen nach dem Eingriff dokumentiert die Tabelle 2. Keine Patientin (Ausnahme waren die beiden Patientinnen mit der Banderosion in der Vagina) berichtete über Störungen der Sexualfunktion. Allerdings waren postoperativ nur 59 Prozent der Frauen sexuell aktiv.
Diskussion der Berner Ergebnisse
Initial deprimierend war für uns sicherlich die geringe objektive Heilungsrate von nur 60 Prozent, die aber dem Vergleich mit der ersten randomisierten Multizenterstudie aus England und Irland (2)
standhält: 14 urogynäkologisch spezialisierte Zentren nahmen dabei an einer Randomisierung von insgesamt 344 Patientinnen in die Therapiegruppen Kolposuspension nach Burch und dem TVT teil. Sie erzielten objektive Heilungsraten von 66 Prozent beim TVT und 57 Prozent beim Burch, dem bis anhin immer noch als Goldstandard geltenden Eingriff der Inkontinenzchirurgie. Postoperative Komplikationen waren hier beim Burch höher als beim TVT, intraoperative Komplikationen wie beispielsweise Blasenverletzungen höher beim TVT. Jeder der 22 Chirurgen der Berner Untersuchung hatte seine Lernkurve und führte im Median zwei Eingriffe durch; auch diese Daten mögen die niedrigere Erfolgsrate als die von Ulmsten und Mitarbeitern erklären. Dieser Tatbestand dokumentiert die Nähe der Berner TVT-Studie zu den englischen Daten (2): Auch in unserer Studie hatten die Chirurgen mit einem für sie neuen Verfahren zu tun, also auch mit einer Lernsituation. Die grosse Variationsbreite der Erfolgsraten der einzelnen Zentren zwischen 20 und 90 Prozent spricht für sich. Nilsson (3) betont in seinen Kolloquien die Wichtigkeit der Trennung zwischen TVT und anderen gynäkologischen Eingriffen: Er sieht es als eindeutigen Vorteil, keine Kombinationseingriffe (TVT und Plastiken, Hysterektomien etc.) anzusetzen, empfiehlt stattdessen, das TVT allein nach der Originalmethode unter Lokalanästhesie zu
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implantieren. Die Berner Zahlen bestätigen dies nur unvollständig; immerhin hatten 7 Prozent unserer Patientinnen intraoperativ einen insuffizienten Hustenstoss unter Spinalanästhesie. Diese Tatsache erschwert die Anwendbarkeit der Methodik und spiegelt sich möglicherweise in den 10 Prozent prolongierten Miktionsstörungen wider (die sich in den schwedischen Publikationen nicht finden lassen). Rezidiveingriffe – in unserem Kollektiv immerhin bei einem Fünftel der Patientinnen – sind technisch schwieriger als Primäreingriffe und daher mit einer geringeren Erfolgsrate verbunden. Sie sollten daher von speziell ausgebildeten Chirurgen vorgenommen werden.
Patientinnenzufriedenheit als wichtiges Kriterium
Einen wichtigen Aspekt in der Diskussion über den Therapieerfolg der TVT-Einlage habe ich zahlreichen Diskussionen mit Paul Hilton, Grossbritanien, zu verdanken. Es geht um die Frage: Wann können wir sagen, dass im Bereich der Inkontinenzchirurgie der Eingriff erfolgreich
war? Dann, wenn der Chirurg oder die Patientin zufrieden sind? Wenn der Hustentest negativ ist, die Urodynamik gebessert ist oder die Einlagen nicht mehr nötig sind? Nur wenige Studien betrachten die Lebensqualität mit validierten Instrumenten. In unserer Untersuchung waren 20 Prozent der Patientinnen, die postoperativ nicht ganz trocken waren, trotzdem mit dem Operationsergebnis zufrieden. Es lässt sich spekulieren, dass sich mit einer Verringerung der Inkontinenz die Lebensqualität der Patientinnen so deutlich verbessern lässt, dass sie mit dem Ergebnis gut leben können. Zum Vergleich: Neue Medikamente zur Therapie der Stressinkontinenz, wie beispielsweise Duloxetin, ein NoradrenalinReuptakehemmer, zielen ebenfalls nicht auf eine vollständige Kontinenz, sondern auf eine Verringerung der Inkontinenzepisoden, und liegen damit wahrscheinlich voll im Trend. Für den Erfolg der Inkontinenzoperationen ist nicht unbedingt die vollständige Kontinenz ausschlaggebend; eine Verbesserung reichte unseren Patientinnen für ihre Zufriedenheit aus.
Neue Methoden erfordern ihr Lehrgeld,
und eine sorgfältige Kenntnis der Anato-
mie und das Teaching eines erfahrenen
Lehrers sind gerade bei den neuen mini-
mal invasiven Methoden dringend not-
wendig.
◗
Dr. med. Annette Kuhn Universitäts-Frauenklinik Bern
Leiterin Urogynäkologie Inselspital
Effingerstrasse 102 3010 Bern
E-Mail: annette.kuhn@insel.ch
Quellen: 1. Valaitis, R., Thomas, T.M.: Epidemiology of micturition disorders; Clinical urogynecology, S.L. Stanton and A Monga (edts), 2nd edition, Churchill Livingstone, 2000, 49–61. 2. Ward, K., Hilton, P. and the United Kingdom and Ireland Tension Free Vaginal Tape Trial Group. BMJ 2002; 325 (7355): 789–90. 3. Nilsson, C.G.: Long Term Results of the tension free vaginal tape (TVT) procedure for surgical treatment of female stress urinary incontinence. Int. J. Urogynecol. (J. Pelvic Floor Dysfunct.) 2001; 12 Suppl. 2: S 5–8.
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(K.-E. Andersson) • Changes in the receptor profile of the lower
urinary tract in the aging male (C. Hampel, P.
C. Dolber, C.M. Kuhn, D. A. Schwinn, K.B.
Thor, J.W. Thüroff)
• Calcium metabolism and detrusor failure in
the aging bladder (D. Rohrmann)
• The significance of the urine-blood barrier for
urge generation and possible changes in the
aging bladder (C.R. Riedl)
• Urodynamic findings in aging people (F. Trigo
Rocha, C. Mendes Gomes, S. Arap)
• Hormonal replacement therapy for the aging
bladder (E. Plas, L.K. Daha)
• Physiology and pathophysiology of bowel
motility during aging and its therapeutic im-
plications (J. Hammer).
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sens- und Diskussionsstand der Thematik mit
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