Transkript
KIND UND ERNÄHRUNG
Die Ernährung des Kleinkindes
Von der Beikost zum Familientisch
Foto: zVg
George Marx, Andrea Mathis
George Marx
Eltern machen sich oft Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder und wollen bei der Ernährung alles richtig machen. Wann beginnt man mit der Beikost? Isst das Kind genug? Wie viele Vitamine braucht das Kind, wie bekommt es sie? Wie viel Zucker darf man geben? Wie verhindert man die Entwicklung einer frühkindlichen Ess- und Fütterstörung. Viele Mythen und wenig Fakten prägen den Essalltag der Eltern und ihrer Kinder. Eine gesunde, bedarfsdeckende Ernährung in der Kindheit ist der Grundstein für die Gesundheit in späteren Jahren. Essen soll aber auch Spass und Genuss vermitteln. Wir möchten in diesem Artikel auf einige dieser Punkte eingehen und eine Übersicht über die Ernährung im Säuglings-und Kleinkindesalter geben.
Foto: zVg
Andrea Mathis
Nie mehr im Leben entwickeln wir uns so schnell wie in den ersten 4 Lebensjahren, nicht einmal in der Pubertät. Unsere Ernährung und unser Ernährungsverhalten ändern sich dabei drastisch: von Flüssigkost über Breinahrung zu vorwiegend fester Nahrung. Das Kind sitzt am Familientisch, es entstehen neue soziale Situationen, neue Verhaltensmuster und neue Machtverhältnisse. Kulturelle Essgewohnheiten sind in diesem Alter wichtig, Kinder ahmen das Verhalten der Geschwister oder Eltern nach.
Die Ernährung in den ersten Lebensmonaten
Muttermilch und Säuglingsanfangsnahrung sind die ideale Nahrung in den ersten Lebensmonaten. Sie sind leicht verdaulich und perfekt den Nährstoffbedürfnissen des Säuglings angepasst. Auf die Still-und Trinkphase in den ersten Lebensmonaten folgt die Trink- und Breiphase im 2. Lebenshalbjahr. Zu dieser Phase gehört auch das Selbstfüttern (baby lead weaning; BLW). Darauf folgt gegen Ende des 1. Lebensjahres der schrittweise Übergang zum Essen am Familientisch. In dieser Zeit entwickeln die Kinder eine zunehmende Selbstständigkeit in ihren motorischen und sprachlichen Fähigkeiten, indem sie eigenständig essen und Wünsche und Ablehnung äussern können (1, 2).
Muttermilch = Superfood?
Heutzutage weiss man, dass Stillen für Babys der beste Start ins Leben ist und eine Vielzahl von Vorteilen für Kind und Mutter hat. Mindestens 4 von 5 Müttern
wollen ihre Babys stillen. Die Stillquote in Deutschland, Österreich und der Schweiz liegt zwischen 80 und 92%. Nach 4 Monaten werden noch zwischen 40 und 50% der Kinder voll gestillt (3). Die Zusammensetzung der Muttermilch weist eine hohe Variabilität auf. So verändert sich die Beschaffenheit während einer Stillmahlzeit, während eines Tages und während der Entwicklungsstufen des Kindes. Eine gesunde, ausgewogene und bedarfsdeckende Ernährung der stillenden Mutter ist wichtig. Der Geschmack der Muttermilch wird durch die Ernährung der Mutter beeinflusst. Das gibt dem Kind die Möglichkeit, viele sensorische Erfahrungen zu machen. Die erste Geschmacksentwicklung beginnt jedoch bereits im Mutterleib durch das Fruchtwasser. Die Muttermilch ist ausserdem wegen des Infektions- und Allergieschutzes für das Baby die gesündeste Ernährung (2). Die menschliche Milch enthält nicht nur Makro- und Mikronährstoffe wie Eiweisse, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine, Mineralien und Spurenelemente in optimaler Konzentration und Qualität, sondern auch immunologisch aktive Komponenten (wie z. B. sekretorisches IgA, Interferon, Laktoferrin, Lysozym, Nukleotide und Zytokine). Weitere Vorteile des Stillens sind der Körperkontakt mit der Mutter, der Säugling fühlt die Wärme und die Haut, hört die Stimme der Mutter, spürt den Herzschlag und nimmt den unverwechselbaren Geruch der Mutter auf.
Formula: Eine gute Alternative
Nicht jede Mutter hat die Möglichkeit, ihr Kind teilweise oder ganz zu stillen. Säuglingsanfangsnahrungen
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sind Muttermilchersatzprodukte und bieten eine sinnvolle Alternative.
Säuglingsanfangsnahrungen Säuglingsanfangsnahrungen sind für die Ernährung von gesunden Säuglingen während der ersten Lebensmonate bestimmt und decken alle Ernährungsbedürfnisse des Säuglings bis zur Einführung der Beikost ab. In den ersten 6 Lebensmonaten soll nur Säuglingsanfangsnahrung und keine Folgenahrung als Muttermilchersatz verwendet werden. Menge und Frequenz richten sich nach den individuellen Bedürfnissen des Säuglings. Die Säuglingsanfangsnahrung kann bis Ende des 1. Lebensjahres gegeben werden.
Säuglingsfolgenahrungen
Säuglingsfolgenahrung kann – muss aber nicht – ab dem 7. Monat gegeben werden, wenn das Kind bereits Beikost erhält. Die Eiweissstruktur der Folgemilch ist der Muttermilch nicht so stark angeglichen wie bei der Anfangsmilch, und die Folgemilch enthält andere Nährstoffe und sättigt somit mehr. Für besondere Indikationen gibt es industriell hergestellte Säuglingsmilchen auf Ziegenmilch, Soja- oder Reisbasis. Auf selbst hergestellte Säuglingsmilchen von Kühen, Schafen, Ziegen und anderen Tieren sowie auf Mandel-, Reis-, Hafer- und Sojadrinks sollte hingegenl verzichtet werden. Diese entsprechen nicht einer bedarfsgerechten Ernährung für den Säugling.
Babybrei und andere Möglichkeiten der Beikost
Abbildung: Empfehlung für die Einführung von Lebensmitteln im Säuglingsalter
der Geburt beeinflussen verschiedene Faktoren die Weiterentwicklung der Geschmacksknospen im Mund- und Rachenraum. Neugeborene bevorzugen süsse und salzige Lebensmittel, bittere und saure Lebensmittel werden abgelehnt. Mit der Einführung der Beikost soll das Baby mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen und Konsistenzen vertraut gemacht werden. Damit ein Lebensmittel vom Baby akzeptiert und toleriert wird, muss es mehrmals angeboten werden. Dies gilt als wichtiges Element bei der Einführung einer vielseitigen Beikost.
Als Beikost werden von der WHO und den europäischen Gremien (ESPGHAN und EFSA) alle flüssigen, halbflüssigen und festen Lebensmittel mit Ausnahme der Muttermilch und der Säuglingsanfangs- und -folgemilch bezeichnet. Die Einführung der Beikost sollte spätestens nach dem ersten halben Lebensjahr erfolgen, ist aber in den meisten Fällen bereits ab dem 5. Lebensmonat möglich (siehe Abbildung 1). Vor dem 5. Lebensmonat sollte es allerdings nicht losgehen. Denn erst ab einem Alter von 4 Monaten sind die Nieren und der Verdauungstrakt bei reif geborenen Säuglingen ausreichend entwickelt, um die Beikost verdauen zu können. Besonders wichtig ist, dass die Beikosteinführung individuell unterschiedlich und abhängig von der motorischen und geistigen Entwicklung des Kindes ist. Auf Signale des Säuglings soll geachtet werden, denn sowohl bei Bereitschaft als auch bei Ablehnung der Beikost gibt das Kind die entsprechenden Signale. So sieht man, wie das Baby sich dafür interessiert, was Eltern und Geschwister essen, es sollte mit Hilfe aufrecht sitzen und den Kopf selbstständig halten können, es öffnet den Mund, wenn der Löffel kommt, und nach einigen Versuchen drückt der gefütterte Säugling den Brei nicht mehr mit der Zunge aus dem Mund. Einige Kinder entwickeln diese Fähigkeiten früher, andere etwas später. Nach
Tabelle:
Ernährungsplan für das 1. Lebensjahr Übersicht für gestillte oder mit der Flasche ernährte Säuglinge
Monat 1 bis 4 (6)
Anzahl Mahlzeiten Brustmahlzeit ad libitum (nach Bedarf)
Flasche
Flasche
Flasche
Flasche
Flasche
Flasche
4 bis 6 (ab 5. Monat)
Brustmahlzeiten
Flasche
Flasche
Brei Brei
Brustmahlzeiten
Flasche
Flasche
7 bis 9
Brustmahlzeiten
Brei oder Brei Fingerfood
Brustmahlzeiten
Flasche
Flasche
Brei oder Brei Fingerfood
Flasche
10 bis 12
Brustmahl- Brei zeiten
Brei oder Brei Fingerfood
Brustmahlzeiten
Flasche
Brei
Brei oder Brei Fingerfoood
Flasche
Ab 12 Monate Übergang zu weicher, etwas verkleinerter Nahrung am Tisch. Mit Beginn von Beikost auch Flüssigkeit in Form von Wasser oder ungezuckertem Tee anbieten.
Die Reihenfolge der Brei- bzw. Brustmahlzeiten muss nicht genau der Tabelle entsprechen (Copyright Andrea Mathis).
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Kasten:
Ungeeignete Lebensmittel im 1. bis teilweise ins 3. Lebensjahr
• Rohe tierische Lebensmittel können mit Bakterien belastet sein und schwere Krankheiten auslösen. Tierische Lebensmittel müssen durchgehend (also auch im Inneren) für mindestens 2 Minuten auf mindestens 70 °C erhitzt werden. Verzichten Sie im ersten Lebensjahr auf Rohmilch, Weichkäse aus Rohmilch, rohes und nicht ausreichend durchgegartes Fleisch, Rohwurst (z. B. Landjäger und Salami), Rohschinken, rohen und geräucherten Fisch sowie auf Lebensmittel mit rohen Eiern (z. B. Tiramisu).
• Verarbeitete Fleischwaren (z. B. Wurst und Schinken) sind wegen ihres hohen Gehalts an Fett, Salz und Pökelsalzen nicht empfehlenswert. Magere Fleischstücke vom Rind, Schwein, Lamm, Geflügel oder von anderen Tieren ohne Zusätze sind die bessere Wahl.
• Bis zum 3. Geburtstag sind Wildfleisch, Leber und bestimmte Fischarten wie Marlin, Speerfisch, Schwertfisch und Hai ungeeignet, da sie mit Schwermetallen oder Dioxinen belastet sein können.
• Brei aus frisch gemahlenem, rohem Getreide oder eingeweichten Getreidekörnern (sogenannter Frischkornbrei) kann unter anderem Bauchschmerzen, Durchfälle und Erbrechen auslösen. Ohne Bedenken können Sie Haferflocken, Griess, Instantgetreidebrei für Babys (z. B. Hirse, Weizen, Dinkel, Hafer) verwenden.
• Verzichten Sie im 1. Lebensjahr auf Salz, Bouillon, Würzmittel, Zucker, Honig und andere Süssungsmittel.
• Geben Sie Ihrem Kind im ersten Lebensjahr keinen Honig und keinen Ahornsirup, da sie bestimmte Bakterien und Sporen enthalten können.
• Wegen ihres hohen Proteingehalts sind Käse, Quark, Frischkäse, Vollmilch und Joghurt erst ab einem Jahr geeignet. Ausnahme: Vollmilch und Joghurt nature können Sie in kleinen Mengen zum Anrühren eines Milch-Getreide-Breis verwenden.
• Vermeiden Sie in den ersten 3 Lebensjahren Lebensmittel, an denen sich Ihr Kind verschlucken könnte (z. B. Nüsse, Brot mit Kernen, ganze Weintrauben, Fisch mit Gräten, Bonbons). Gemahlene Nüsse sind hingegen möglich.
• Produkte wie Reiswaffeln oder Reisflocken/Reisbrei sollten aufgrund des Arsengehalts nur massvoll konsumiert werden. Sinnvolle Alternative als Abwechslung zu Reiswaffeln sind reisfreie Zwischenmahlzeiten wie Vollkorncracker, Maiswaffeln oder Brot. Für die Beikost sollten zudem reisfreie Breie verwendet werden. Alternativen für Reis-Getreide-Breie sind z. B. Hafer, Dinkel, Griess oder Hirse.
• Reisdrinks sind wegen des Risikos für eine mangelnde Zufuhr an wichtigen Nährstoffen und aufgrund des Arsengehalts ungeeignet. Darauf sollte verzichtet werden.
• Bei Kindern mit Zöliakie, einer Nahrungsmittelallergie (z. B. auf Kuhmilchproteine) oder bei einer veganen Ernährung sollten Reis und Reisprodukte nicht hauptsächlich als Ersatz für andere Lebensmittel eingesetzt werden. In diesen Fällen sollten Eltern sich von einer anerkannten Ernährungsfachperson beraten lassen.
Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Vetrinärwesen. 1. Lebensjahr: Ernährung für Säuglinge und Kleinkinder, ungeeignete Lebensmittel.
Broschüre: Ernährung im 1. Lebensjahr. Orientierungshilfe für Eltern und Betreuungspersonen. Download in 10 verschiedenen Sprachen.
www.rosenfluh.ch/qr/info-versch-sprachen
Die Reihenfolge bei der Einführung neuer Lebensmittel in die Ernährung des Säuglings sollte unbedingt an die individuellen und kulturellen Bedürfnisse der Familie angepasst werden. Wichtig ist, dass die Beikost zunächst nur eine Ergänzung zum Stillen oder zu der Flasche ist. Erst nach und nach ersetzt sie die Milchmahlzeiten. Mit der Einführung von Brei wird von Monat zu Monat eine Milchmahlzeit ersetzt. Das Kind braucht zusätzlich zur Mutter- oder Säuglingsmilch Flüssigkeit in Form von Wasser oder ungezuckertem Kräuteroder Früchtetee, welche nach jeder Breimahlzeit oder zwischendurch angeboten werden. Es sollen keine gezuckerten Getränke angeboten werden. Gleichaltrige Kinder essen unterschiedlich grosse oder kleine Mengen. Der Stoffwechsel arbeitet bei jedem anders und die Nahrung wird ungleich verwertet. Nicht selten gibt es Perioden, in denen die Kinder
grossen Appetit haben und dann wieder weniger essen. Auch die Bewegung spielt eine Rolle bei der Energieverbrennung und der Nahrungszufuhr. So variieren Breimengen von Kindern zwischen 70 und 300 Gramm pro Mahlzeit.
Baby Lead Weaning (BLW)
Hierbei handelt es sich um eine Ernährungsmethode, die von der britischen Hebamme und Stillberaterin Gill Rapley entwickelt wurde. Dabei soll die Einführung der Beikost im Wesentlichen vom Baby selbst gesteuert werden, es wird also nicht mit Brei gefüttert. Die Methode funktioniert vor allem bei Babys, die Brei nicht mögen, relativ spät mit Beikost beginnen und Freude an Fingerfood haben. Oft wird das in Familien mit älteren Kindern praktiziert, denn die Kleinsten wollen genau das probieren, was ihre älteren Geschwister essen. Mit BLW-Methode kann man zirka ab dem 6. Lebensmonat starten. Der Säugling muss fähig sein, aufrecht zu sitzen (am Anfang auf dem Schoss, später im Hochstuhl), er muss an den Familienmahlzeiten teilnehmen wollen und vielleicht schon anfangen, nach Essen zu greifen und es in den Mund zu stecken. Es werden mundgerechte griffige Mahlzeiten angeboten, welche sich mit der zahnlosen Kauleiste zerkleinern lassen. Das Kind entscheidet nun selbst, wie viel es als Fingerfood essen möchte. Man nennt die Methode deshalb auch «Beikost ohne Brei». Es wird grundsätzlich weiterhin gestillt. Kritiker der Methode warnen davor, dass die BWL-Methode nicht den ernährungsphysiologischen Bedürfnissen des Kindes entspräche. Das Angebot an stückigen Lebensmitteln ist von Familie zu Familie unterschiedlich und das, was das Baby davon auswählt, ebenfalls. Die als Fingerfood infrage kommenden Lebensmittel haben zudem eine geringe Energiedichte, und die verzehrten Mengen an fester Kost sind eher klein. Das stellt die ausreichende Nährstoffversorgung infrage. Auch seien die Kinder im Hinblick auf ihre motorischen Fähigkeiten bei der Einführung des BLW im 6. Monat unterschiedlich weit. Manche Kinder nehmen schon mit 5 bis 6 Monaten feste Lebensmittelstücke in den Mund, andere lassen sich bis weit in das 2. Lebensjahr damit Zeit. Damit steigt das Risiko für eine zu geringe Energie- und Nährstoffversorgung. Brei dagegen können die meisten Kinder problemlos mit 5 bis 7 Monaten essen (4). Befürworter der Methode argumentieren, dass das Verdauungssystem des Kindes zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat ausgereift sei. Ebenso fördere die BLW-Methode die Hand-Mund-Augen-Koordination. Babys würden automatisch lernen, auf ihre Bedürfnisse zu achten, und instinktiv nach verträglichen Nahrungsmitteln, greifen. Dadurch werde die Selbstregulationsfähigkeit in Bezug auf satt und hungrig gestärkt, was wichtig für die Entwicklung eines Essverhaltens und zur Vorbeugung von Übergewicht sei (4). Die Ernährungsbroschüre der Gesundheitsförderung (siehe Link mit qr-Code) bietet
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eine Orientierungshilfe für den Übergang von reinen Milchmahlzeiten des Babys zur festen Nahrung im 1. Lebensjahr. Sie ist in Deutsch und weiteren Sprachen wie Französisch, Italienisch, Albanisch, Arabisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Englisch, Portugiesisch, Spanisch, Tigrinisch und Türkisch erhältlich (5).
ten sich Kinder während einiger Tage bis Wochen ausschlieslich von einer Speise oder einem Nahrungsmittel ernähren. Es kommt nicht so schnell zu einem Mangel an Vitaminen oder Mineralstoffen. Falls die einseitige Ernährung des Kindes einen beunruhigt ist, ist es ratsam, den Kinderarzt oder eine versierte Ernährungsfachkraft um Rat zu fragen.
Der Familientisch
Allergieprävention
Um den 1. Geburtstag herum, meist zwischen dem 10. und dem 12. Lebensmonat, verändert sich allmählich die Ernährung des Kindes. Das Interesse daran, was andere essen, wird stärker. Was die Eltern oder Geschwister auf dem Teller haben, ist spannend. Das Kind lernt, bei den Speisen Aussehen, Farbe, Geschmack und Konsistenz zu unterscheiden. Es imitiert das Verhalten der anderen Familienmitglieder. Bis dahin stand das Schlucken im Vordergrund, Beissen und Kauen muss jetzt erst noch erlernt werden. Die Umstellung von Beikost auf feste Nahrung erfolgt schrittweise. Speisen sollen anfänglich noch zerdrückt oder zerkleinert werden. Während dieser Zeit besteht die Nahrung aus einem Mix von Mutter- oder Säuglingsmilch, Wasser, Brei und Essen vom Tisch. Am längsten dauert es, das Zerkauen von Fleisch und Salat zu erlernen. Vorsicht ist bei kleinen, harten Lebensmitteln wie z. B. Erdnüssen geboten. Es besteht die Gefahr des Verschluckens! Wenn es darum geht, was und wie viel ein Kind essen soll, ist das Vorbild der Familie prägend. Die Bedeutung, welche die Eltern dem Essen beimessen, ihre Ansicht über Nahrungsmittel, ihre persönlichen Vorlieben und Abneigungen bestimmen das Essverhalten des Kindes in hohem Masse. Das Essen bekommt eine andere Bedeutung, ob man sich gemeinsam am Familientisch oder vor dem Fernseher, in Schnellimbissbuden verpflegt oder ob aus Fertigprodukte und Konservendosen aufgetischt werden. Das Essverhalten wird mehr durch Nachahmen erlernt als durch Ernährungsregeln. Wie man aus einer Tasse trinkt oder mit einem Löffel isst, lernt das Kind über das Nachahmen. Es beobachtet und schaut zu, wie die anderen Familienmitglieder mit Gabel und Messer essen und wie sie trinken. Aus einer Tasse zu trinken, erfordert viel Feingefühl. Mit Löffel oder Gabel zu essen, wird zur Geschicklichkeitsprobe und führt zu Experimenten. Die ersten selbstständigen Essversuche sind eine Herausforderung für das Kind. Den Löffel erst beladen, ihn dann zum Mund führen, ohne ihn zu drehen oder zu neigen und ohne den Inhalt zu verlieren, muss erst erlernt werden. Schliesslich soll die Speise im Mund und nicht auf der Nase oder der Wange landen. Einige Kinder können profitieren, wenn die Eltern eine kleine Hilfestellung leisten, indem sie den Unterarm des Kindes leicht halten und führen. Irgendwann klappt es ganz bestimmt! Keinesfalls soll das Kind mit Druck oder Zwang gefüttert werden. Die Eltern bestimmen, was es zu essen gibt, das Kind darf bestimmen, wie viel es mag. Kinder haben nicht nur Abneigungen, sondern auch Vorlieben für bestimmte Speisen. Nicht selten möch-
Allergien gehören zu den häufigsten, nicht übertragbaren Krankheiten im Kleinkindesalter. Angesichts der Häufigkeit der allergischen Erkrankungen rücken präventive Massnahmen in den Vordergrund. Viele unterschiedliche Empfehlungen für die Prävention der Entwicklung von Allergien werden diskutiert. Bei vielen fehlt aber der eindeutige Nachweis (Evidenz). Bei Neugeborenen und Säuglingen mit erhöhtem Allergierisiko (erstgradige Verwandte wie Geschwister oder Eltern mit Heuschnupfen, Neurodermitis, allergischem Asthma oder Nahrungsmittelallergien) wird in den ersten 4 bis 6 Monaten ausschliessliches Stillen empfohlen. Studien zeigen diesbezüglich einen deutlich schützenden Effekt hinsichtlich der späteren Entwicklung von Allergien. Eine bestimmte diätetische Einschränkung der stillenden Mutter bringt keinen dokumentierten Vorteil für den Säugling und wird nicht empfohlen. Ebenso sind Daten zum schützenden Einsatz von hypoallergenen, teiloder voll hydrolisierten Säuglingsnahrungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht so eindeutig, dass eine solche Ernährung generell empfohlen werden kann. Die entsprechenden Studien, die Aufschluss geben sollten, sind bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht. Für die Einführung von Beikost gelten für Kinder mit erhöhtem Allergierisiko keine besonderen Empfehlungen. Insbesondere besteht kein Anlass, die Beikost verzögert oder mit Einschränkungen einzuführen. Eine vorbeugende Zufütterung von Nahrungsergänzungsmitteln (Probiotika oder Präbiotika) wird im Moment nicht empfohlen (7).
Nicht vergessen: Vitamin D, Fluor, Jod und Eisen
Vitamin D Die Vitamin-D-Konzentration im Blut von europäischen Frauen und damit der Vitamin-D-Gehalt in der Muttermilch ist oft zu tief. Gründe dafür sind eine zu geringe Sonnenexposition (u. a. durch Sonnenschutzmittel). Während der ersten 3 Lebensjahre wird für alle gestillten und nicht gestillten Säuglinge eine tägliche Substitution von 400 IE Vitamin D empfohlen. Vitamin K Der Vitamin-K-Gehalt in der Muttermilch ist ebenfalls oft tief. Der gestillte Säugling erhält damit nur wenig Vitamin K. Eine Vitamin-K-Gabe ist in den ersten Lebenswochen dringend empfohlen. In der Regel gibt man 2 mg Vitamin K im Alter von 4 Stunden, 4 Tagen und 4 Wochen (Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie.
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Marx, George, Mathis, Andrea Kinderernährung Expertenwissen für den Alltag
1. Auflage August 2020 Als Print oder digitale Version ISBN: 978-3-318-06756-9 e-ISBN: 978-3-318-06757-6 DOI: 10.1159/isbn.978-3-318-06757-6
Jod und Fluor Säuglinge erhalten durch die Muttermilch genügend Jod, sofern die stillende Mutter ausreichend mit Jod versorgt ist. In der Schweiz wird Kochsalz mit Jod (25 mg/kg Salz) und mit Fluorid (250 mg/kg Salz) angereichert. Es empfiehlt sich, ein jodiertes und fluoridiertes Tafelsalz im Alltag zu verwenden. Für eine ausreichende Fluorzufuhr soll eine entsprechende Zahnpasta benutzt werden. Eine zusätzliche Jod-und Fluoridsupplementation bei Säuglingen wird in der Schweiz nicht empfohlen. Eisen Der Eisenbedarf von gesunden, termingeborenen Säuglingen ist in den ersten 6 Monaten tief und kann durch den Eisengehalt in der Muttermilch oder in der Säuglingsmilch genügend gedeckt werden. Ab dem 7. Lebensmonat muss ein Grossteil des Eisens durch die Beikost zugeführt werden. Eine ausgewogene Ernährung beim Säugling ist anzustreben (Abbildung). Die Aufnahme von Eisen aus pflanzlichen Nahrungsmitteln (Getreide, Vollkornprodukte) wird durch die gleichzeitige Einnahme von Vitamin-C-reichen Nahrungsmitteln (Früchte, Gemüse) verbessert. Bei einer vegetarischen/veganen oder anderen alternativen Ernährungsform werden die Begleitung und Betreuung durch den Kinderarzt und die Ernährungsberaterin empfohlen.
Zuckersüsse Welt
Zu hoher Zuckerkonsum kann der Gesundheit schaden, das kann heute mit vielen Studien belegt werden. Zucker versteckt sich nicht nur in Süssigkeiten und Getränken, sondern auch in diversen anderen Nahrungsmitteln wie Müeslimischungen, Joghurts und Milchdrinks. Die WHO empfiehlt, den Konsum von Zucker für Erwachsene und Kinder ab dem 1. Lebensjahr auf maximal 10% bzw. 5% der Energiezufuhr zu beschränken. In der Nährwertdeklaration verpackter Produkte findet sich bei den Kohlenhydraten meist die Angabe «davon Zucker». Dabei handelt es sich um alle im Produkt vorhandenen Zuckerarten, welche beachtet werden müssen. Fast 40% des zugesetzten Zuckers in unserer Ernährung stammen aus Getränken. Zwischen den ver-
schiedenen Getränkekategorien gibt es grosse Unterschiede beim Zuckergehalt. Auf dem Markt gibt es relativ wenig vollständig ungesüsste Produkte. Getränke, welche sich an Kinder richten, weisen im Durchschnitt einen höheren Zuckergehalt auf als vergleichbare Getränke. Es gibt praktisch keine vollständig ungesüssten Kindergetränke (8). Zusammenfassend sollte eine ausgewogene, abwechslungsreiche, wenn möglich saisonale Ernährung angestrebt werden. Zucker oder andere natürliche Süssungsmittel sollten im Alltag nur sehr bewusst verwendet werden. Wenn möglich sollte man auf Zuckeraustauschstoffe und künstliche Süssstoffe verzichten.
Autoren: Dr. med. George Marx Leitender Arzt Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung Ostschweizer Kinderspital Andrea Mathis Bachelor of Science in Ernährung und Diätetik, Ernährungsberaterin SVDE Korrespondenzadresse: Dr. med. George Marx Leitender Arzt Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St.Gallen E-Mail: george.marx@kispisg.ch Telefon 071-243 13 73 Es bestehen keine Interessenkonflikte bei George Marx und Andrea Mathis.
Referenzen: 1. Kersting M et al. Empfehlungen für die Kleinkinderernährung im Alter
von 1 bis 3 Jahren, SSP Swiss Society of Paediatrics, 2017. 2. Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.
Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern 2017. www.blv.admin.ch 3. Victoria CG, Bahl R, Barros AJ et al. Breastfeeding in the 21st cen-
tury: epidemiology, mechanisms and lifelong effect. Lancet 2016; 387475-90 4. Hiltbrunner C. Endlich breifrei: Essenlernen anhand der Baby-led-Weaning Methode aus der Sicht von Gesundheitsfachpersonen. Bachelorthesis der Berner Fachhochschule (BFH), 2020. 5. https://www.gesundheitsfoerderung-zh.ch/publikationen/ infomaterial/ernaehrung-im-1-lebensjahr 6. Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. 1. Lebensjahr: Ernährung für Säuglinge und Kleinkinder, ungeeignete Lebensmittel (kinderandentisch.ch). 7. Röthlisberger S, Roduit C, Burkhalter-Cochard MM et al. Ernährung im Säuglingsalter; eine Stellungnahme zur Prävention von Allergien. Paediatrica 2016;27:28-32. 8. Bundesamt für Lebensmittel und Veterinärwesen. Bericht Bestandsaufnahme gesüsste Getränke 2021. www.blv.admin.ch
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