Transkript
SPORT UND ERNÄHRUNG
Vor allem junge Sportlerinnen betroffen
Relatives Energiedefizit – ein Syndrom mit vielen Facetten
Foto: zVg
Die zu geringe Energieaufnahme bei Sportlerinnen ist als «female athlete triad» bekannt: Essstörung, Amenorrhö und Osteoporose. Jedoch sind weitere Symptome möglich, und zwischen dem Vollbild und dem Normalbefund gibt es einen fliessenden Übergang. Für den Körper hat die zu geringe Energieaufnahme in jedem Fall negative Folgen, unabhängig davon, ob eine Essstörung vorliegt oder nicht.
Sibylle Matter Brügger
1997 wurde vom American College of Sports Medicine (ACSM) der Begriff «female athlete triad» geprägt. Dieses Syndrom umfasst Essstörung, Amenorrhö und Osteoporose (1). Später hat man jedoch gesehen, dass nicht immer das Vollbild vorliegen muss. Statt einer manifesten Essstörung kann einfach eine zu geringe Energieaufnahme bestehen; statt einer Amenorrhö eine Zyklusstörung und statt einer Osteoporose eine verminderte Knochendichte. Auch weitere Faktoren können eine Rolle spielen (2). 2014 wurde vom IOC ein neuer Begriff geprägt: «relative energy deficiency in sport» (RED-S). Dieser neue Begriff ist weiter gefasst und beinhaltet zusätzliche mögliche Symptome. Auch wird der Begriff für Männer herangezogen, sie können ebenfalls betroffen sein, wenn auch seltener. Häufig steht am Anfang eine Essstörung, die sich als Anorexie, Bulimie oder als eine nicht spezifizierte Essstörung äussert. Aber auch ungünstige Umgebungsfaktoren oder eine Gewichtsabnahme für bessere Leistungen im Sport können am Anfang stehen. Für den Körper ist jede zu geringe Energiezufuhr ungünstig, ob eine Essstörung vorliegt oder nicht. Die Ursache spielt vor allem für die Wahl der Therapie eine Rolle. Das Problem ist, dass die Sportler über längere Zeit zu wenig Energie zu sich nehmen. Die tägliche Energieaufnahme sollte wie folgt berechnet werden: Energieaufnahme – Energieverbrauch pro kcal/kg fettfreie Masse (FFM)/Tag Optimal sind 45 kcal pro kg FFM/Tag. Bei unter 30 kcal pro kg FFM/Tag sinkt die Proteinsynthese.
Welche Sportler sind besonders betroffen?
Bei Athletinnen kommen Essstörungen häufiger vor als bei Nichtsportlerinnen (3). Besonders betroffen sind Athletinnen der • ästhetischen Sportarten • Sportarten mit Gewichtsklassen, hier ist das Pro-
blem vor allem, dass ein bestimmtes Körperge-
wicht zu einem genauen Zeitpunkt erreicht werden muss • Ausdauersportarten • Sportarten, bei denen das geringe Gewicht einen Vorteil darstellt, wie zum Beispiel Hochsprung. Von einer Essstörung spricht man erst, wenn der Fokus nicht mehr auf der sportlichen Leistung, sondern auf dem Körpergewicht liegt. Für die Therapie ist es wichtig, zwischen einer situativen verminderten Energiezufuhr und einer Essstörung zu unterscheiden. Bei einer Essstörung kann man nicht mit ein paar Ratschlägen und wenigen Massnahmen die Energiezufuhr erhöhen.
Beratung der Sportler
In der Beratung ist es wichtig, sich zuerst einmal einen Überblick über die individuelle Situation der Sportlerin oder des Sportlers zu verschaffen, in welcher Phase des körperlichen Wachstums und der Pubertät er oder sie steckt, welche anderen schulischen und sozialen Aktivitäten vorhanden sind. Die Essgewohnheiten sind sehr individuell, und manchmal haben die Sportler einfach keine Zeit, richtig zu essen und genügend Energie zu sich zu nehmen. So kann ohne Absicht und ohne Essstörung eine verringerte Energieverfügbarkeit entstehen. Je nach Sportart kann jedoch auch der Wunsch bestehen, das Gewicht zu reduzieren, um die sportliche Leistung zu verbessern. Es ist wichtig, auch mit den Athleten zu besprechen, welche Körperwahrnehmung sie selbst haben. Häufig werden besonders jüngere Athleten von ihren Eltern in die Sprechstunde begleitet. Diese können Hinweise geben, wie ihre eigene Gewichtsentwicklung in der Adoleszenz verlaufen ist. Man sieht auch, ob die jungen Athleten eine ähnliche Körperkonfiguration wie die Eltern haben, ob sie gleich schlank oder muskulös sind oder ob ein Kontrast offensichtlich ist, zum Beispiel die Eltern eher übergewichtig und die Kinder sehr dünn. Zwei Fragebogen stehen im klinischen Alltag zur Verfügung und helfen, die richtigen Fragen zu stellen.
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Wie wirkt sich ein relativer Energiemangel (RED-S) auf Körper und Leistungsfähigkeit aus?
Sibylle Matter, Joëlle Flück
Beim RED-S (Abkürzung für Relatives Energiedefizit-Syndrom oder auch Relatives Energiedefizit im Sport) führt ein wiederholt vorhandenes Energiedefizit (Energieaufnahme deckt den Gesamt-Energie verbrauch nicht) zu hormonellen Störungen, die eine Leistungseinbusse im Sport, Knochendichteminderung und weitere gesundheitliche Pro bleme zur Folge haben können.
SPORT UND ERNÄHRUNG
Beim Auftreten von
einem oder mehreren
der beschriebenen Symptomen sowie bei grösserem Gewichtsverlust oder Essstörungen wird eine Konsultation beim Sportarzt/Sportärztin dringend empfohlen.
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Kontakte: Joëlle Flück, +41 (0)41 939 66 17, joelle.flueck@ssns.ch; Sibylle Matter, +41 (0)31 326 55 55, sibylle.matter@medbase.ch Grafik adaptiert nach Mountjoy M et al.: The IOC consensus statement beyond the Female Athlete Triad – Relative Energy Deficiency im Sport (RED-S). (10)
Abbildung 1
© 2020 Swiss Olympic
Mit dem BEDA-Q-Fragebogen werden neun Faktoren abgefragt, die bei der Entscheidung helfen, ob eine Essstörung vorhanden ist oder nicht (4). Mit dem LEAF-Fragebogen sollen Athletinnen identifiziert werden, die ein Risiko für eine «female athlete triad» haben (5). Eine problematische Periode ist die Pubertät, die Zeit des Wachstums, der Reifung des Körpers und der ersten Menstruation. Häufig nehmen die Athletinnen eher an Körperfett zu, während die männlichen Sportler eher Muskelmasse zulegen. Die Mädchen merken dann, dass Hungern diese körperliche Umwandlung stoppen kann. Es können aber auch andere Gründe vorliegen, beispielsweise der Wunsch, eine
längere Krankheit und ein Trainingsausfall mit Essreduktion zu kompensieren, oder unbedachte Aussagen des Coachs, der Familie oder von Freunden.
Im Bereich Sportwissenschaften gibt es viele Daten aus wissenschaftlichen Studien, die vor allem Männer betref fen, und relativ wenige Daten zu Frauen. Deswegen wurde von Swiss Olympic die Projektgruppe Frau und Spitzensport gegründet. Es geht zudem darum, die Informationen den Frauen besser zukommen zu lassen.
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SPORT UND ERNÄHRUNG
Positiver Einfluss auf die Erhöhung der Knochendichte
• Energie (30 kcal/kg LBM) • Östrogen • Kalzium und Vitamin D • High Impact! Dynamisch,
intermittierend, variierend, hohe Intensität. Mindestens 4 h/Woche, > 6–8 Monate (7, 8)
Frau und Spitzensport
Es ist wichtig, dass man junge Athletinnen früh auf die kommende Pubertät aufmerksam macht und ihnen hilft, gut mit den Veränderungen umzugehen. In der Sprechstunde sollte das Thema regelmässig aufgegriffen werden, und bei Bedarf können junge Athletinnen schon präventiv eine Ernährungsberatung bekommen, damit kein falsches Essverhalten entsteht, das später nur schwer zu korrigieren ist. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, das Entstehen einer Essstörung zu verhindern. Hier ist die Sport ernährung als guter Partner sehr wichtig. Diese Thematik wurde auch bei der Fachtagung «Frau und Spitzensport» von Swiss Olympic aufgegriffen. Mit der Kampagne «fastHER, smartHER, strongHER» will Swiss Olympic die Voraussetzungen für Frauen im Spitzensport verbessern und frauenspezifische Themen wie Zyklus, Schwangerschaft und RED-S proaktiv angehen.
Zyklusstörungen
Oft sind Zyklusstörungen das erste Symptom, weshalb Athletinnen mit einem RED-S Hilfe suchen. Hier sollte man aufmerksam sein und eine sorgfältige Abklärung durchführen (6). Von einer primären Amenorrhö sprechen Gynäkologen, wenn keine Menstruation vor dem 16. Lebensjahr eingetreten ist, Endokrinologen nehmen das 15. Lebensjahr als Grenze. Man kann noch prüfen, wann die Menstruation bei der Mutter eingesetzt hat. Weitere mögliche Ursachen sind im Kasten aufgeführt. Allerdings darf man nicht davon ausgehen, dass jede Zyklusstörung bei einer dünnen Athletin immer auf
Return-to-Play Model of RED-S › Keine Wettkämpfe › Kein Training › Schriftlicher Kontrakt
› Darf an Wettkämpfen teilneh- men, wenn ärztlich erlaubt unter Supervision › Darf trainieren, solange er/sie sich an den Behandlungsplan hält
› Volle Sportteilnahme (11)
Abbildung 2
Menstruationsstörungen
• Primäre Amenorrhö – keine Menstruation bis zum 15. Lebensjahr (Endo krinologie) / 16. Lebensjahr (Gynäkologie)
• Sekundäre Amenorrhö – Fehlen von 3 konsekutiven Zyklen nach der Menarche oder > 90 Tage – Athletinnen: athletische Amenorrhö = funktionelle hypothalamische Amenorrhö
• Oligomenorrhö – Zykluslänge > 35 Tage
• Andere Ursachen – anovulatorische Eumehorrhö – luteale Insuffizienz – polyzystisches Ovarialsyndrom (6)
ein Energiedefizit zurückzuführen ist. Jede Zyklusstörung muss fachärztlich abgeklärt werden, um andere Ursachen auszuschliessen. Differenzialdiagnostisch müssen immer hormonelle Störungen, wie zum Beispiel eine Störung der Schilddrüse, ausgeschlossen werden.
Verminderte Knochendichte
Ein Problem bei Athletinnen kann auch die zu geringe Knochendichte sein. Die maximale Knochendichte wird um das 20. Lebensjahr erreicht. Die Phase vom 15. bis zum 25. Lebensjahr ist deshalb für den Aufbau der Knochensubstanz besonders wichtig. Wird in dieser Phase zu wenig Energie zugeführt oder sind zu wenig Wachstumshormone und/oder Östrogene respektive Testosterone vorhanden, wird das Optimum der Knochendichte nicht erreicht. Es gibt Athletinnen, die mit 20 Jahren eine Knochendichte wie postmenopausale Patientinnen mit Osteoporose aufweisen. In diesem Alter spricht man aber noch nicht von Osteoporose, sondern von einer verminderten Knochendichte. Bei Verdacht auf eine zu geringe Knochendichte empfiehlt sich bei den jungen Sportlerinnen eine Knochendichtemessung. Diese sollte aber an einem Zentrum durchgeführt werden, das Erfahrung in dieser Altersgruppe hat und damit über ausreichend Vergleichswerte verfügt. Es braucht manchmal viel Überzeugungskraft, um den jungen Frauen klarzumachen, dass man reagieren muss. Eine geringe Knochendichte verursacht ja keine Schmerzen, später im Leben kann das Problem aber gravierend sein. Man kann zwar in jedem Alter die Knochendichte etwas steigern, aber nie mehr in einen normalen Bereich kommen. Das Problem der verminderten Knochendichte muss deshalb in diesem Alter angegangen werden, während bei anderen Faktoren der RED-S-Symptomatik eher die Möglichkeit besteht, diese auch später noch zu verbessern. Deshalb ist es so wichtig, dass Sportlerinnen in diesem Alter genügend Energie zu sich nehmen. Wichtig ist es
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ebenfalls, immer genügend Kalzium einzunehmen. Auch Krafttraining hilft, die Knochendichte aufzubauen. Ebenso ist eine hormonelle Therapie zu diskutieren.
EKG-Veränderungen oder Nierenfunktionsstörungen zeigen, dann ist eine stationäre Behandlung angezeigt. Diese Empfehlungen werden in einem Ampelsystem (Abbildung 2) zusammengefasst (11).
Einfache Massnahmen, wenn keine Essstörung vorliegt
Liegt keine eigentliche Essstörung vor, helfen manchmal schon Änderungen im Tagesablauf, wie eine bessere Verteilung der Energieaufnahme. Gewisse Athletinnen können am ehesten motiviert werden, gleich nach dem Sport etwas zu essen. Unterstützend wirken überdies Erfahrungen anderer betroffener Sportlerinnen, die das Problem überwunden haben. Dazu ist eine Athletinnen-Story auf der Seite von Swiss Olympic aufgeschaltet.
Therapie der Essstörung
Die Therapie der Essstörung ist schwierig. Die Prognose der Krankheit ist ernst. Nach 7 Jahren sind 40 Prozent nicht geheilt. Von den 60 Prozent geheilten hat etwa ein Viertel später andere Probleme wie eine Angstneurose oder eine Depression. 10 bis 20 Prozent der Betroffenen sterben an der Anorexie. Eine individuelle und professionelle Therapie ist gefragt. Für dieses komplexe Krankheitsbild braucht es ein ganzes Netzwerk: Medizin, Psychologie und Ernährungstherapie. Zudem sollten auch die Familie und die Coachs eingebunden sein (9).
Hormonelle Therapie
Falls sich der Zyklus mit einer Erhöhung der Energiezufuhr nicht normalisiert, sollte man eine hormonelle Therapie ins Auge fassen. Die Sportlerinnen sollten dazu in eine gynäkologische Betreuung überwiesen werden. Früher hat man einfach die Pille verabreicht, das ist jedoch für die Knochendichte kontraproduktiv. Heute werden eher natürliche Östrogene transdermal gegeben, ergänzt durch eine orale Gabe Progesteron alle 1 bis 2 Monate, um die Menstruation auszulösen (10). Gewisse Sportlerinnen zeigen eine leichtere Form der Zyklusstörungen. Während der meisten Zeit des Jahres weisen sie einen normalen Zyklus auf, nur während der Wettkampfsaison besteht eine Oligomenorrhö, weil die Sportlerinnen dann ihr Gewicht reduzieren. Das kann allenfalls toleriert werden, wenn keine eigentliche Essstörung vorliegt.
Korrespondenzadresse Sibylle Matter Brügger Medbase Bern Zentrum Schwanengasse 10 3011 Bern 1. Otis CL et.: American College of Sports Medicine position stand.
The Female Athlete Triad. Med Sci Sports Exerc. 1997;29(5):i-ix. 2. Nattiv A et al.: ACSM Position Stand, the female athlete triad. Med
Sci Sports Exerc: 2007;39(10):1867-82. 3. Martinsen M et al.: Higher prevalence of eating disorders among
adolescent elite athletes than controls. Med Sci Sports Exerc 2013;45:1188-97. 4. Martinsen M et al. The development of the brief eating disorder in athletes questionnaire. Medicine & Science in Sports & Exercise 2014:1666-1675. 5. Melin A et al.: The LEAF questionnaire: a screening tool for the identification of female athletes at risk for the female athlete triad. Br J Sports Med 2014;48:540-545. 6. Practice Committee of the American Society for Reproductive Medi cine. Current evaluation of Amenorhoe Fertil Steril 2004;82(1): 266-72. 7. Ihle R et al.: Dose-response relationships between energy availabil ity and bone turnover in young exercising women. J Bone Miner Res 2004;19(8):1231-40. 8. Lappe JM et al.: Bone Health in Athletes, The Role of Exercise, Nutrition, and Hormones. J Bone Miner Res 2008;23(5):741-749. 9. Bellini M et al.: Current drug treatment of patients with bulimia nervosa and binge-eating disorder: selective serotonin reuptake inhibitors versus mood stabilizers. Int J Psychiatry Clin Pract 2004;8(4):235-243. 10. Mountjoy M et al.: IOC consensus statement on relative energy deficiency in sport (RED-S): 2018 update. Br J Sports Med. 2018;52(11):687-697. 11. Mountjoy M et al.: The IOC consensus statement: beyond the Fe male Athlete Triad-Relative Energy Deficiency in Sport (RED-S). Br J Sport med 2014;48:491-497 (modified from Skarderud et al., 2012).
Linktipps:
Stories for Athletes – ungefiltert – Geschichten von Athletinnen und Athleten
www.rosenfluh.ch/qr/spirit-of-sport
Probleme aufgrund der RED-S-Symptomatik
http://www.rosenfluh.ch/qr/red_s
Ampel – was ist erlaubt?
Bei schweren Essstörungen sollten Sportler von Wettkämpfen ausgeschlossen werden. Zu diesem Mittel wurde auch schon bei erfolgreichen Sportlerinnen gegriffen, zum Beispiel bei einer norwegischen Weltcupsiegerin im Langlauf. Es ist wesentlich, dass die Verantwortlichen und die Verbände betonen, dass die Gesundheit der Sportlerinnen wichtig sei. Gar keinen Sport treiben dürfen Sportlerinnen, wenn sie
Frau und Spitzensport
www.rosenfluh.ch/qr/frau_spitzensport
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