Transkript
KONGRESSBERICHT
Künstliche Ernährung
Was ist bei der medikamentösen Therapie zu beachten?
Bei enteraler oder parenteraler Ernährung müssen bei der Medikamentengabe ein paar Punkte beachtet werden, wie die beiden Apothekerinnen Christina Möltgen und Dr. pharm. Carla Aeberhard in ihrem Vortrag im Rahmen des SGAIM-Frühjahrskongresses anschaulich aufzeigten.
Die medikamentöse Versorgung von Patienten, die via Sonde oder parenteral ernährt werden, ist eine multiprofessionelle und interdisziplinäre Aufgabe, das Zusammenspiel von Arzt, Ernährungsberatung, Pflege und Apotheke ist für das Gelingen essenziell. Bei der Medikamentengabe via Sonde handelt es sich in den meisten Fällen um einen Off-Label-Use, häufig fehlen in den Fachinformationen dazu die Angaben. Zu beachten sind dabei gemäss Dr. pharm. Carla Aeberhard, Apothekerin in Olten, grundsätzlich patientenindividuelle Kriterien (Grunderkrankung? Kann der Patient noch schlucken?), physikochemische Eigenschaften des Arzneimittels (Wie ist die Tablette beschaffen, wie ist der pH-Wert? Ist das Arzneimittel säurestabil oder säurelabil? Wie ist die Osmolalität [Konzentration aller gelösten Teilchen in einer Lösung]? Ist der Wirkstoff lichtempfindlich?) sowie die Galenik.
Grösse und Lage der Sonde
Soll ein Medikament via Sonde appliziert werden, gilt es zu klären, ob das fragliche Medikament medizinisch (noch) notwendig und eine orale Applikation
der Substanz grundsätzlich möglich ist. Medikamente sollten jedoch nie direkt in die Ernährungslösung gemischt werden, da es zu Interaktionen und zur Verstopfung der Sonde kommen kann, besonders bei kleinlumigen Sonden. Für die Verabreichung von Medikamenten werden Sondendurchmesser von 12 bis 20 Charrière empfohlen, beispielsweise eine gastrale Sonde, so Aeberhard, ein Charrière entspricht 0,33 mm.
Gastral, duodenal oder jejunal?
Je nach Lage der Sonde sind unterschiedliche Gegebenheiten zu beachten. Bei gastraler respektive duodenaler oder jejunaler Lage liegen entweder ein pHWert von 1 bis 2 und eine maximal tolerierbare Osmolarität von etwa 1000 mOsmol/l vor (gastral) oder ein pH-Wert von 7 bis 8 und eine maximal tolerierbare Osmolarität von 300 bis 500 mOsmol/l (duodenal/jejunal). Von der Lage hängt auch die Wirksamkeit der applizierten Substanzen ab: Wird eine säurestabile Tablettenhülle durch das Mörsern zerstört und die Sonde endet im Magen, verliert ein säurelabiles Medikament an Wirkung, da es durch die
Fallbeispiel enterale Ernährung
Der Patient erhält insgesamt 4 verschiedene Wirkstoffe: Amlodipin, Esomeprazol, Oxycodon-Naloxon sowie Dabigatran. Es liegt eine PEG-Sonde, und alle 4 Medikamente sind nach wie vor indiziert. In welcher Form diese per Sonde appliziert werden dürfen, entnehmen Sie der Tabelle. Wichtig zu wissen ist, dass nicht alle Kapseln geöffnet werden dürfen, um die Pellets via Sonde zu applizieren. Im Fall von Pradaxa® hätte das eine Steigerung der Bioverfügbarkeit um 75 Prozent zur Folge – hier muss nach einer Alternative gesucht werden.
Medikament
Amlodipin Mepha 5 mg
ESOMEP MUPS 40 mg
Targin® 10/5 mg
Pradaxa® 110 mg
Arzneiform Tablette
Dosierung Teilbar
1-0-0-0
Ja
Tablette
1-0-0-0
Ja
Filmtablette 1-0-0-1
Nein
Kapseln
1-0-1-0
Nicht öffnen
Zermörserbar Bemerkungen Ja Wirkstoff sehr lichtempfindlich!
Nein In Spritze geben, Wasser aufziehen, zerfallen lassen, gut schütteln
Nein Alternative: Oxynorm® Tropfen, Dosisanpassung, da kein Retardeffekt!
Nein Bioverfügbarkeit 75% erhöht, Blutungsrisiko erhöht
16 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2021
KONGRESSBERICHT
Säure z. B. zerstört wird. Je nach pH-Wert und Medikament besteht zudem das Risiko für eine gastrointestinale Verätzung oder eine Ausfällung von Proteinen. Bei flüssigen Darreichungsformen ist die Osmolarität zu beachten, Clamoxyl®-Sirup zum Beispiel (2250 mOsmol/kg) muss bei der Verabreichung ausreichend verdünnt werden.
Arzneiform und Arzneistoff beachten
Wichtig ist auch die Arzneiform: Gibt es allenfalls alternative Darreichungsformen (rektal, transdermal, sublingual oder parenteral)? Ist eine flüssige Form vorhanden, gilt es zu klären, ob pH-Wert, Osmolarität und Zusammensetzung eine Verabreichung via Sonde erlauben. Nur selten gibt es eindeutige Hinweise auf die Teilbarkeit einer festen Arzneiform am Arzneimittel oder in der Fachinformation (z. B. «dispersibel»). Bei Targin® beispielsweise (s. Fallbeispiel Seite 16) ist nicht auf Anhieb ersichtlich, dass es sich um eine retardierte Wirkform handelt. Auch eine (Zier-)Bruchrille sei keine Garantie dafür, dass eine Tablette halbiert oder gemörsert werden dürfe, wie Aeberhard anmerkte. Mörsert man eine Retardtablette, geht das Retardierungsprinzip verloren, der Arzneistoff wird schneller freigesetzt, und es kann zu Überdosierungen und zu einer verkürzten Wirkdauer kommen. Eine MUPS-Tablette (MUPS: multiple unit particle system) bestehe aus vielen kleinen Partikeln, diese darf geteilt, aber nicht gemörsert werden, wie Aeberhard ausführte. Eine Manteltablette hingegen (z. B. Arthotec®) enthält einen Kern, der von einer anderen Wirksubstanz umschlossen wird. Würde man eine solche teilen oder mörsern, ginge das Wirkprinzip verloren. Und: Ob etwas teilbar ist oder gemörsert werden kann, muss von Fall zu Fall eruiert werden, man kann nicht vom Originalprodukt auf ein spezifisches Generikum schliessen. Zum Arzneistoff muss man ebenfalls wissen, ob dieser stabil gegenüber Licht, Magensäure oder Enzymen ist. Ist etwas lichtempfindlich, muss es rasch verarbeitet werden. Ist eine Wechselwirkung mit der Sondennahrung zu erwarten? Bei der Verabreichung von Levodopa beispielsweise muss ausreichend Abstand zur Sondennahrung eingehalten werden, weil es mit den Proteinen interagiert. Auch gelte es, ein allfälliges kanzerogenes, mutagenes oder reproduktionstoxisches (CMR) Risiko für das Pflegepersonal beim Mörsern von Tabletten oder bei der Kapselöffnung zu bedenken, erinnerte Aeberhard. Zu den CMR-Arzneistoffen zählen zum Beispiel Immunsuppressiva, Zytostatika, Hormone usw. Das individuelle Gefährdungsrisiko muss abgeschätzt und entsprechende Schutzmassnahmen müssen ergriffen werden (Schutzbrille, Handschuhe, Staubmaske usw.) Bei einer Veränderung der Applikationsform muss überprüft werden, ob Dosis oder Intervall anzupassen sind und ob gegebenenfalls ein zusätzliches Monitoring notwendig ist. Die praktische Umsetzung ist in der Abbildung dargestellt. Dabei ist noch zu bedenken, dass Spül- und Verabreichungsflüssigkeiten in die Wasserbilanz einberechnet werden müssen. Aus-
ser bei jejunalen Sonden sowie bei immunsupprimierten Patienten kann dafür Leitungswasser mit Trinkqualität verwendet werden, bei Ersteren sollte es abgekochtes Wasser oder kohlensäurefreies Mineralwasser sein.
Parenterale Ernährung und Medikamentenapplikation
Die parenterale Ernährung ist eine totale oder partielle Zufuhr von Nährstoffen unter Umgehung des Magen-Darm-Traktes. Sie erfolgt in der Regel peripher- oder zentralvenös bei Patienten, die ihren Bedarf an Energie, Proteinen, Spurenelementen, Vitaminen und Wasser nicht durch normale Nahrungsaufnahme decken können, so Christina Möltgen, Spitalapothekerin am Kantonsspital Aarau. Die parenterale Ernährung führt dem Patienten alle nötigen Substrate zu, entweder als einzelne Komponenten oder in Form von Kohlenhydrat-/Aminosäuremischungen plus eventuell Fett. In der Regel kann heutzutage der Grossteil der Patienten mit industriell gefertigten Zwei- oder Dreikammerbeuteln versorgt werden, der sogenannten «All in One» (AIO)-Nährlösung. Sie besteht aus den Kompartimenten Lipide, Kohlenhydrate, Aminosäuren und Elektrolyten. Die Zubereitung von AIO-Mischungen erfordert ein hohes Fachwissen des Apothekers hinsichtlich Inkompatibilitäten, Stabilitäten, Maximalmengen und Bioverfügbarkeiten. Vor allem die physikochemische Stabilität der Mischungen ist für die Sicherheit und Wirksamkeit der Nährlösung entscheidend. Wegen der Mannigfaltigkeit der Komponenten kann es zu unterschiedlichsten Komplikationen in der Herstellung kommen wie: Aufrahmen und Brechen der Lipidemulsionen, Bildung und Ausfällung unlöslicher Salze, Zersetzung einzelner Substrate oder Adsorption an die Behältnismaterialien. Von daher ist eine Reihenfolge der Zugabe der einzelnen Komponenten zu definieren: 1. Kohlenhydrate, 2. Aminosäuren, Elektrolyte, Spurenelemente, 3. Fett und Vitamine. Eine kurzfristige Ernährung (bis zu 7 Tagen) erfolgt in der Regel über einen periphervenösen Zugang, also über eine Vene in der Körperperipherie. Hiermit können Überbrückungszeiträume abgedeckt werden oder die zusätzliche Ernährung sichergestellt werden, falls der Patient oral oder enteral nicht genügend aufnehmen kann. Eine parenterale Ernährung über 7 Tage hinaus sollte über einen zentralvenösen Katheter (ZVK) erfolgen. Je nach voraussichtlicher Dauer müssen Kathetertyp und -position sowie die Zugangstechnik mit dem geringsten Komplikationsrisiko ausgewählt werden. Die Nährlösung besteht aus vielen Bestandteilen. Dazu zählen unter anderem Aminosäuren, Fette, Spurenelemente, Elektrolyte, Glukose und Wasser. Ein zentraler Bestandteil als Energielieferant sind die Kohlenhydrate, in der Regel entspricht ihr Anteil 60 Prozent der Nicht-Eiweiss Energie (Faustregel 4 g pro Kilogramm Körpergewicht). Die Aminosäuren
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2021 17
KONGRESSBERICHT
Linktipps: Hilfe zur Medikamentenverabreichung bei parenteraler Ernährung
Hilfsmittel zur Kompatibilität finden Sie zum Beispiel unter folgenden Adressen beziehungsweise direkt via QR-Code:
www.rosenfluh.ch/qr/sp_bs
Praktische Therapieumsetzung
1. Sondennahrung stoppen (bei Nüchterngabe 2 h Abstand) 2. Sonde spülen mit 20 – 50 ml Wasser 3. Zubereitung des Arzneimittels und sofortige Verabreichung
Flüssige Arzneiformen Lösung/Tropfen/Sirup: mindestens 1:1* mit H2O verdünnen
Suspension: gut schütteln, mindestens 1:1* mit H2O verdünnen
* besser 1:5–1:10
Feste Arzneiformen
Tabletten/Dragees: mörsern und mit 10 – 15 ml H2O auflösen
Kapseln: öffnen und mit 10 – 15 ml H2O suspendieren
Dispergierbare Tabletten: in 10 – 15 ml H2O lösen
Brausetabletten: in 50 – 100 ml H2O (ohne Kohlensäure) lösen
Quelle: nach Aeberhard
→ Sonde vor jeder Applikation mit 10 –15 ml Wasser zwischenspülen → Nach Verabreichung des Arzneimittels mit 20 – 50 ml Wasser
spülen
→ Sondennahrung fortsetzen
Abbildung: Auf was bei der Medikamentengabe via Sonde zu achten ist.
www.rosenfluh.ch/qr/sp_ksa
www.rosenfluh.ch/qr/sp_hug
Datenbank Fresenius (Kostenpflichtige Registrierung erforderlich)
Quelle: Gastgesellschaft GESKES: Medikamentöse Therapie bei Patienten mit künstlicher Ernährung, Vortrag im Rahmen der SGAIM-Frühjahrstagung, virtuell, 19.5.2021.
sind essenziell für die Proteinsynthese und sehr wichtig bei postoperativen Patienten. Die Lipide dienen bei geringem Volumen als wichtige Energielieferanten. Sie liegen in der Regel als Mischemulsion aus Sojaöl und mittelkettigen Triglyzeriden (MCT) oder Olivenöl vor, kombiniert mit einem Omega-3-Fettsäure-Anteil aus Fischöl. Ein Problem stellt die Lipidemulsion dar: Kommt es zu einer Peroxidation der ungesättigten Fettsäuren, stehen diese dem Organismus nicht mehr zur Verfügung, und toxische Abbauprodukte können den Körper belasten. Spurenelemente sollten aufgrund mannigfaltiger Interaktionsmöglichkeiten erst kurz vor Verabreichung der Nährlösung zugesetzt werden. Vitamine weisen in der Regel eine geringe Stabilität auf und sollten der Nährlösung ebenfalls erst kurz vor der Verabreichung hinzugefügt werden. Bei den Elektrolyten kommt es häufiger zu Ausfällungen. Glukose ist ein reduzierender Zucker und kann mit den Aminosäuren ein braun gefärbtes Produkt bilden – braun verfärbte Nährlösungen sollten nicht mehr appliziert werden, da sie toxische Verbindungen enthalten.
Risiken bei Zuspritzen von Medikamenten zu einer Nährlösung
Medikamente sollten, wann immer machbar, separat als Kurzinfusion oder als Bolus verabreicht werden. Werden sie über denselben Katheter wie die Nährlösung gegeben, muss zuvor die Kompatibilität abgeklärt werden, die Nährlösung gestoppt und vor und nach der Medikamentengabe mit 10 ml NaCl 0,9 Prozent gespült werden. Zudem muss die Verabreichungsform des Arzneimittels richtig gewählt und sichergestellt werden, dass keine Medikamentenreste im System vorhanden sind.
Grundsätzlich gibt es bei der Medikamentengabe bei parenteraler Ernährung zwei Risiken: 1. Das Risiko für eine Kontamination – ein geschlos-
senes System wird manipuliert. 2. Ein mechanisches Risiko, das heisst, es kann zu
einer Okklusion des Katheters kommen, zu einem Paravasat, einer Perforation oder zu einer mikrobiellen Besiedlung des Katheters.
Bruch einer Lipidemulsion
Eine Emulsion besteht aus zwei nicht mischbaren Flüssigkeiten, die eine ist in Form kleiner Tröpfchen in der anderen verteilt. Eine Destabilisierung kann zum Beispiel durch andere Medikamente, Elektrolyte, sehr saure oder basische Substanzen herbeigeführt werden. Es folgt die Zunahme der Tröpfchengrösse bis es zum Bruch der Emulsion kommt – und damit einem Risiko für Embolien.
Das Beimischen eines Medikamentes sollte also vermieden werden, solange keine dokumentierten Stabilitätsdaten vorliegen, erinnerte Möltgen. Falls dennoch Medikamente zur parenteralen Nährlösung hinzugegeben werden müssen, müssen die maximalen Zuspritzmengen von Zusätzen (z. B. Vitaminen, Elektrolyten) sowie die Kompatibilität der jeweiligen Konzentrationen abgeklärt beziehungsweise beachtet werden (siehe auch Linktipps). Stabilität und Homogenität der Lösung sollten regelmässig visuell überprüft werden. Bei Auftreten von Ausfällungen oder einer Emulsionsdestabilisierung (Entmischung) ist die Infusion sofort anzuhalten. Emulsionen sollten in der Regel getrennt laufen gelassen werden, ausser bei getesteter Kompatibilität, betonte die Expertin. Christine Mücke
18 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2021